Unschuldig verfolgt (1-3): Seit acht Jahren im Fadenkreuz des LKA Sachsen

Unschuldig verfolgt (1): Seit acht Jahren im Fadenkreuz des LKA Sachsen

Es ist der 28. April 2021, morgens 6 Uhr, als es bei Henry A. an der Wohnungstür im Leipziger Süden klingelt. Der Stadtverwaltungsmitarbeiter öffnet die Tür und steht reichlich überrascht einer Gruppe Beamter des Landeskriminalamtes Sachsen und dem Leipziger Staatsanwalt Alexander König gegenüber. Man hat einen Durchsuchungsbeschluss dabei, es geht um Landfriedensbruch.

Der Vorwurf für die Durchsuchungen am 28. April: Am 1. September 2019 fand am Bahnhof Neukieritzsch gegen 10:30 Uhr ein Überfall auf Auswärtsfans des 1. FC Lokomotive Leipzig statt. Dabei warfen laut Zeugen bis zu 30, mit weißen Sturmhauben maskierte Personen Pyrotechnik in die Regionalbahn, in der die Ultras der „Fanszene Lok“ zum Spiel ihrer Mannschaft gegen den ZFC Meuselwitz unterwegs waren.Ein Mann erlitt dabei ein Knalltrauma, gilt als maßgeblicher Geschädigter, den die Staatsanwaltschaft im Durchsuchungsbeschluss auch namentlich nennt. Wer die Strafanzeige gestellt hat, geht aus dem Beschluss nicht hervor.

Henry A. soll sich an diesem Überfall maßgeblich beteiligt haben, eröffnen ihm die LKA-Beamten am 28. April 2021. Anschließend durchwühlen sie im Beisein seiner Partnerin und ihrem gemeinsamen Baby etwa 14 Stunden lang die gemeinsame Wohnung, Blumenkästen, Schränke und Betten.

Selbst eine kleine Grünfläche im Innenhof wird abgesucht, am Ende nehmen die Ermittler neben dem Mobiltelefon von Henry A. und Datenträgern sogar das Babyphone des Paares mit.

Das Domizil des Paares sieht danach aus wie ein Schlachtfeld. Für das Landeskriminalamt Routine. Für Henry A. die Fortsetzung eines Albtraumes, der 2016 begann.

Engmaschig überwacht, dreimal Einstellung der Ermittlung

2016 erfährt der damalige Geschäftsführer der BSG Chemie Leipzig davon, dass er seit 2013 über Monate hinweg wegen des Vorwurfs, Teil einer kriminellen Vereinigung zu sein, nach § 129 engmaschig überwacht wurde. Darin wirft man ihm und einem weiteren Dutzend Personen in Leipzig vor, in damals rund zehn verschiedenen Fällen gezielt Menschen angegriffen und brutal verprügelt zu haben, die dem rechten bis rechtsextremen politischen Lager zugerechnet werden.

Schnell wird diese mit mindestens 215 belauschten Personen größte polizeiliche Überwachung Sachsens nach 1989 im Nachgang als einer der größten Fehlschläge des LKA Sachsen gelten. Und zum Skandal werden.

Denn mit teils ins Lächerliche reichenden, fadenscheinigen Begründungen verlängert mindestens zweimal ein Dresdner Ermittlungsrichter die sogenannten „Telekommunikationsüberwachungen“ (TKÜ) auf Antrag eines Dresdner Staatsanwaltes. Und die eifrigen Kriminalbeamten hören widerrechtlich Ärzte, Rechtsanwälte und Journalisten ab, notieren ebenfalls widerrechtlich die Telefonate.

In dieser Zeit dichten sie einen Fanweihnachtsmarkt der BSG Chemie zu einer Geldbeschaffung der angeblichen kriminellen Vereinigung um, notieren selbst vertrauliche Gespräche unwichtigen Inhalts mit Journalist/-innen und übertreten damit Berufsgeheimnisregeln. Und jede Form des Datenschutzes, indem sie diese unberechtigt erhobenen Daten jahrelang nicht löschen, während die Betroffenen uninformiert bleiben.

Die Vermutung von Beobachtern des Geschehens damals bereits: Hier sammeln Beamte willkürlich auf Vorrat und in der tiefen Überzeugung, ein kriminelles, linksextremes Netzwerk von bis zu 215 Personen vor sich zu haben. Dem man nur nichts beweisen kann. Während man anderen Menschen vorwirft, aus einer politischen Ideologie heraus Rechtsradikalen nachzustellen, handelt man selbst offenbar eher nach ideologischen Überzeugungen statt beweisbaren Fakten.

Der Datenschutzbeauftragte des Landes Sachsen, Andreas Schurig, merkte in seinem offiziellen Tätigkeitsbericht 2017/18 zu diesem Vorgang unter anderem an: „Im Sommer 2018 habe ich (…) das Landeskriminalamt wegen der Verletzung seiner Mitwirkungspflichten bei der Einhaltung von Verfahrensregelungen im Rahmen von Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) nach § 100a StPO gemäß § 29 Absatz 1 SächsDSG gegenüber dem Sächsischen Staatsministerium des Innern förmlich beanstandet. Ebenso erging eine Beanstandung der Staatsanwaltschaft Dresden wegen Verstößen gegen die gesetzliche Pflicht, Aufzeichnungen von Kommunikation aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung bzw. mit besonders geschützten Berufsgeheimnisträgern unverzüglich zu löschen, gegenüber dem Sächsischen Staatsministerium der Justiz.“

In Henry A. sehen die derart gemaßregelten Ermittler offenkundig einen der Drahtzieher der objektiv nicht vorhandenen „kriminellen Vereinigung“: Kein anderer Beschuldigter wird derart eng mittels eines IMSI-Catchers telefonisch überwacht, sogar direkt von Beamten observiert und seine Netzaktivitäten abgefangen.

„Die wussten immer, wann ich mir eine Pizza bestelle, wohin ich gehe und mit wem ich rede – monatelang“, so Henry A. über das, was er im Nachgang durch Akteneinsicht aus dieser Zeit erfährt. Allein seine Abhörprotokolle füllen einen ganzen Aktenschrank, als die TKÜ-Maßnahmen endlich eingestellt werden müssen.

Ein Leipziger Staatsanwalt schließt im Oktober 2016 die Überwachungs-Akte endgültig, der Fall wird unter Justizminister Sebastian Gemkow (CDU) praktisch nicht aufgearbeitet und ist mehrfach Gegenstand von Oppositions-Anfragen im sächsischen Landtag. Die CDU-geführte Regierung mauert, Konsequenzen für die handelnden Ermittler, Staatsanwälte und den Richter gibt es keine.

Auf LZ-Nachfrage, welche Regeln und Monitoringprozesse es im LKA Sachsen gibt, um der Verfolgung Unschuldiger wirksam entgegenzuwirken, antwortet LKA-Sprecher Tom Bernhardt am 6. Mai 2021: „Nein, da hierfür grundsätzlich kein Bedarf besteht. Bei Anfall kann die bestehende Struktur darauf sofort reagieren.“

Ausschließen, dass sich hier ein paar Ermittler in den für sie katastrophal verlaufenen „Fall Henry A.“ schlicht verbissen haben könnten, kann er so nicht. Dass sie dabei selbst Straftaten begehen könnten, ebenfalls nicht. Seit dem Überwachungsskandal 2016 müssen TKÜ-Maßnahmen zumindest von drei Richtern und nicht mehr nur von einem gegengezeichnet werden.

Kein Ende, nirgends …

Doch der Verfolgungseifer der Ermittler hat damit noch kein Ende gefunden, für Henry A. ist die Sache damit nicht ausgestanden. Es wird in drei Fällen ermittelt, welche die Beamten als Beifang aus dem großen Lauschangriff auf sein gesamtes Privat- und Berufsleben ableiten. Den Fall eines brutalen Überfalls von Hooligans aus dem rechtsradikalen 1. FC Lok-Umfeld am Goerdelerring am 10.05.2014 hingegen lassen die Ermittler liegen, gehen diesem auch auf Nachfrage der LZ im Jahr 2017 nicht nach.

Obwohl die Namen der Angreifer um den bekannten Leipziger Kriminellen Benjamin B. in Telefonaten der Abgehörten um Henry A. genannt werden, gibt es keine Ermittlungen wie bei Henry A. von Amts wegen.

Alle drei Ermittlungen gegen Henry A. müssen ohne Anklagen eingestellt werden, die Ermittler finden nichts. Und dies, obwohl sie dank der Überwachungsmaßnahmen deutlich mehr über ihn wissen, als über so manch anderen Beschuldigten.

Hier könnte Schluss sein in einer für die Ermittlungsbehörden peinlichen Geschichte. Wären da nicht Überzeugungen, die für einige Beamte offenbar Beweise ersetzen.

Trotz dreier Verfahrenseinstellungen, trotz der massiven Eingriffe in seine Privatsphäre, trotz aller Gegenbeweise: Für das LKA Sachsen ist der Ex-BSG-Geschäftsführer offenbar bis heute Teil einer hochkriminellen, linksextremen Umgebung. Jedenfalls, so sein langjähriger Strafverteidiger Christian Avenarius gegenüber LZ, komme es auch ihm längst so vor, dass „wenn irgendetwas passiert, kommen die bei meinem Mandanten vorbei“.

In der Folge erfährt Henry A. im Jahr 2021, dass der Verfassungsschutz Sachsen trotz mangelnder Beweise ebenfalls Daten über ihn sammelt. Über ihn, einen Mitarbeiter der Stadtverwaltung Leipzigs, der vielleicht vor allem einen Fehler gemacht hat: Im sächsischen Leipzig ehrenamtlich für den als links bekannten Verein BSG Chemie tätig gewesen zu sein.

Unschuldig verfolgt (2): Selbstmordversuche, enge Polizei-Drähte nach rechts und ein anonymer Anruf

Wenn man mit Henry A. über ihn selbst spricht, betont der 33-Jährige, dass er als junger Mann nicht immer alles richtig gemacht hat. Doch „seit fünf Jahren bin ich doch aus allem raus“, so A. im Gespräch mit der LZ über die Zeit seit 2016. Schon 2017 übermannt ihn das Gefühl, dass sein Leben nie wieder auf die Reihe kommt. Trotz jahrelanger, fester Arbeitsstelle und einem großen Freundeskreis unternimmt der Verwaltungsfachangestellte drei Suizidversuche.

Der ehemals fröhliche Fußballfan will sich 2018 das Leben nehmen, es ist nicht der erste Versuch seit 2017. Er fühlt sich verfolgt, niedergeschlagen und lebensmüde angesichts der massiven Eingriffe in sein Leben und der Ungewissheit, ob das je wieder aufhört. Danach begibt er sich in psychotherapeutische Behandlung, 2019 lernt er seine heutige Lebensgefährtin kennen. Eine starke Frau, die gegenüber der LZ betont, dass sie ruhig bleiben konnte, während die Beamten am 28. April 2021 14 Stunden lang ihre Wohnung auf den Kopf stellten.Da Henry A.s Mobiltelefon an diesem Tag zur Beweissicherung mitgenommen wird, gibt sie ihre Mobilnummer als Kontakt für Nachfragen seitens der an der Durchsuchung beteiligten Ermittler an. Am Tag darauf, den 29. April, folgen mehrfache anonyme Anrufversuche, bis sie einen Anruf annimmt. Die anonyme Botschaft einer Männerstimme lautet nur: „Henry soll mal bei ‚Compact’ Online schauen“; danach wird aufgelegt. Weitere Anrufe gleicher Art folgen nicht mehr.

Der Beitrag der rechtsextremen Seite „Compact Magazin“ handelt ausschließlich von der Razzia bei Henry A. (es gab mindestens vier weitere an diesem Tag), der Adresse seiner aktuellen Arbeitsstelle, der Dauer der Durchsuchung in seiner Wohnung unter Angabe von Adressen. Wissen, welches selbst der LZ zu diesem Zeitpunkt trotz jahrzehntelangem Lokaljournalismus nicht vorlag. Mindestens zwei Tage lang ist auch den lokalen Medien unbekannt, bei wem genau sich die „Razzia in Connewitz“ abgespielt haben soll.

Nur die BILD soll vorab einen Hinweis aus Polizeikreisen bekommen haben.

Auch der Autor des Textes bei „Compact“ ist eher ein Rätsel. Bis auf diesen Artikel, welcher in dieser Detaildichte keine 24 Stunden nach der Polizeimaßnahme erscheint, hat der angeblich „bekannte Compact-Gastautor“ „Sascha Neuschäfer“ vorher und nachher keine auffindbaren Beiträge im Netz veröffentlicht. Dass er ein Journalist, geschweige ein bekannter Kollege ist, ist damit nahezu ausgeschlossen. Auch die Netz-Suche nach seinem Namen ergibt keine relevanten Treffer, der gewählte Autorenname ist ein „Geist“.

Der Bericht selbst ist so geschrieben, dass man Henry A. mit wenig Mühe identifizieren kann, er wird „Gewalttäter“ genannt und der Verweis auf seine Arbeitsstelle soll ihm bewusst schaden. Teile des Beitrages musste „Compact“ bereits löschen, die entsprechende Abmahnung unterschrieb das Blatt ohne weitere Gegenwehr.

Auf LZ-Nachfrage, wie detaillierte Informationen aus der Razzia, über den Beschuldigten selbst und die Zeitabläufe vom 28. April 2021 so schnell in ein sonst eher rechercheschwaches Netz-Magazin gelangen konnten, erklärt Tom Bernhardt, es lägen seitens des LKA Sachsen keine Erkenntnisse vor, „dass diese durch LKA-Mitarbeiter an Journalisten weitergegeben wurden.“

Dennoch sei der Vorgang „unmittelbar nach Kenntniserlangung durch die Soko LinX angezeigt und der Staatsanwaltschaft Leipzig mit der Bitte um Prüfung, ob ein Anfangsverdacht für einen Verstoß gegen § 353b StGB vorliegt, übersandt!“ worden, so Bernhardt.

Damit ist es also nun an der Staatsanwaltschaft Leipzig zu prüfen, ob hier Polizeibeamte des LKA Sachsen oder Polizisten der mit der Koordination der Razzia beauftragten Polizeidirektion Leipzig mit einem Medium zusammenarbeiten, welches vom Verfassungsschutz überwacht wird. Oder gar für dieses schreiben, wenn es ihrer Überzeugung dient, einem Beschuldigten das Handwerk zu legen. Wenn schon nicht vor Gericht, so wenigstens auf diesem Wege.

Wacklige Beweise, ein fehlendes Gutachten

Denn jedem, der den Durchsuchungsbeschluss des Landgerichtes Leipzig für den 28. April 2021 liest, wird schnell klar, wie dünn die Vorwürfe gegen Henry A. begründet sind. DNA-Spuren? Fehlanzeige. Zeugenaussagen? Keine. Umfeldermittlungen rings um die Tatzeit 10:30 Uhr am 1. September 2019? Null.

Die Unverletzbarkeit der gemeinsamen Wohnung von Henry A., seiner Partnerin und seines Kindes wurde laut Beschluss vom 16. März 2021 „aufgrund eines Abgleiches der Augenpartie eines der Täter mit dem Beschuldigten und des Umstandes, dass der Beschuldigte dem Verein der BSG Chemie Leipzig zugehörig ist“ aufgehoben. Dazu hatten die Ermittler ein Foto von Henry A. mit einem Video vom 1. September 2019 abgeglichen. Woher das Video stammt, ist unbekannt, doch offenbar sind darauf vermummte Männer bei Begehung der Taten am Bahnhof Neukieritzsch zu sehen.

Auf LZ-Nachfrage zur schwachen Ausgangslage für eine Beschuldigung und die 14-stündige Wohnungsdurchsuchung bei Henry A. erklärt Pressesprecherin Katrin Seidel, Richterin am Landgericht: „Der Kammer lag die Ermittlungsakte, einschließlich des Videos, Lichtbilder des Beschuldigten und Einschätzungen/Identifizierungen der Polizei zugrunde, die den ausreichenden Verdacht ergeben haben, dass der Beschuldigte die auf dem Video erkennbare Person ist. Die ‚Feststellung einer Schuld‘ ist von einem Tatverdacht zu trennen und nicht für einen Durchsuchungsbeschluss erforderlich.“

Entgegen der sprachlichen Raffinesse, im Durchsuchungsbeschluss von einem „Beschuldigten“, also „Schuld“ zu sprechen und nun auf einen Tatverdacht zurückzudrehen, konnten die drei „begutachtenden“ Richterinnen am Landgericht auf eines nicht zurückgreifen: ein wissenschaftliches Gutachten zur verglichenen Augenpartie, die angeblich die von Henry A. sein soll.

Ein solches und weitere Indizien gegen Henry A. habe die Strafkammer des Landgerichtes nicht, räumt Richterin Seidel ein. „Unabhängig davon, dass wohl auch kein Anspruch der Presse bestehen dürfte, über einzelne Ermittlungen oder Akteninhalte in laufenden Verfahren informiert zu werden, hat die Kammer über die in dem Beschluss genannten Beweismittel hinaus keine ‚geheimen‘ oder ‚relevante aber verschwiegene‘ Aktenbestandteile wie z. B. Gutachten gehabt“, so Seidel.

Vielleicht wäre das besser gewesen, so bleibt die Faktenlage bedenklich dünn. Allgemein bekannt ist, dass es gerade notorisch überlasteten Ermittlungsrichtern selten möglich ist, Vorwürfe der Ermittler von Polizei und Staatsanwaltschaft genauestens zu prüfen. Im Gegenteil, nicht selten ist im Justizapparat mangels ausreichender Richterzahl gerade in diesem Bereich von „Unterschriftenautomaten“ die Rede.
Und explizites Expertenwissen bezüglich der Ähnlichkeiten und Unterschiede von Augenpartien, zumal in Abhängigkeit der Qualität des Videomaterials, dürften auch Landgerichtsrichter nicht haben.

Die Angst des Henry A.

Am 1. September 2019 schreiben sich Henry A. und seine damals neue Freundin und heutige Lebensgefährtin rings um den Zeitpunkt, an dem sich A. angeblich in Neukieritzsch befinden und Pyrotechnik in einen Zug werfen soll, gegenseitig Nachrichten über einen Mobil-Messenger. Am Morgen hat der damals 31-Jährige für seine neue Freundin am Rechner noch Blumen bestellt. Man wohnt noch nicht zusammen, es ist Honeymoon-Zeit in der Beziehung, die Handy-Nachrichten sind entsprechend intimer Natur.

Wenn die Ermittler also wollen, können sie durch einen Funkzellenabgleich feststellen, wo sich eben das Mobiltelefon, welches sie am 28. April 2021 mitnahmen, am 1. September 2019 befand. Und sich fragen, ob der Chat auch von einem Dritten, dem A. dazu hätte sein Mobiltelefon überlassen müssen, so gestaltet hätte werden können. Und wie realistisch dies ist. Ob sie es tun, da ist sich Henry A. nicht mehr so sicher. Und damit ist er nicht mehr allein.

Angesichts des seit Jahren gegen ihn laufenden Verfolgungseifers im LKA Sachsen und dem jüngst vom Stadtmagazin „Kreuzer“ aufgebrachten Vorwurfs, dass LKA-Sachsen-Ermittler Rechtsextremisten wie den Leipziger Enrico Böhm (Ex-NPD) und seine Lebensgefährtin als belastbare Quellen für Ermittlungen nutzen könnten, leider nicht mehr ausgeschlossen.

Sein Anwalt Christian Avenarius jedenfalls scheint diese Bedenken längst zu teilen und hat die Ermittler in einem der LZ vorliegenden Schreiben bereits explizit auf diese entlastenden Details hingewiesen. Die Angst, dass einige Polizisten eigene Überzeugungen vor eine sachliche Aufklärung stellen und entlastende Beweise unter den Tisch fallen lassen, steht im Raum.

Und sich somit der Verfolgung Unschuldiger strafbar machen.

„Sofern der Verdacht auf Verfolgung Unschuldiger bestehen sollte, kann dies auf der Grundlage des § 344 StGB erfolgen“, teilt Pressesprecher Tom Bernhardt für das LKA-Sachsen in einer Anmerkung auf die LZ-Presseanfrage zur strafrechtlichen Bewertung mit. Diese Art des Amtsmissbrauches wird bei Nachweis mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren bestraft.

Ob die Beamten, die schon die anderen erfolglosen Strafverfolgungen gegen Henry A. einleiteten und vorantrieben, auch im aktuellen Fall um den Überfall in Neukieritzsch beteiligt oder irgendwie involviert sind, wollte Bernhardt nicht beantworten.

Unschuldig verfolgt (3): Anonyme Beschuldigungen und eine Ermittlungsakte als Katastrophenbericht

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass bei den Ermittlungen gegen den Ex-BSG Chemie-Geschäftsführer Henry A. polizeiintern seit Jahren etwas gehörig aus dem Ruder läuft, dann wurde er am 26. Mai 2021 um 22:40 Uhr mit einer anonymen Mail erbracht. Unter dem Betreff „Wichtige interne Informationen“ versandte ein anonymer „Proton-Mail“-Nutzer zwei PDFs an den MDR und die Leipziger Stadtverwaltung; hier an das Ordnungsamt und das Referat für Internationale Zusammenarbeit. Das Problem der eingescannten Dokumente im Anhang des kurzen Schreibens neben dem Zeitpunkt des Versandes: Sie stammen offenkundig aus dem Mobiltelefon von Henry A., welches das LKA Sachsen am 28. April 2021 bei der Durchsuchung seiner Wohnung mitnahm und seither auswertet.

Wer Henry A. derzeit telefonisch erreichen möchte, muss die Nummer seiner Freundin anrufen. Er verfügt seit dem 28. April 2021 über kein eigenes Smartphone mehr, das von ihm zuvor genutzte befindet sich beim LKA Sachsen zur Auswertung seiner Chatverläufe, getätigter Anrufe und der sonstigen Daten, die sich darauf befinden.

Darunter zwei von Henry A. selbst eingescannte und nur auf diesem Handy gespeicherte Polizei-Dokumente, welche sich unter anderem um die Überwachung seiner Person und einen Autounfall drehen.Interessant dabei sind die Knickfalze und Abnutzungszeichen am Papier, welche die der LZ vorliegenden PDFs zeigen. Sie gleichen laut Henry A. jenen Unterlagen, die er selbst einscannte und die nun an eine anonyme E-Mail angehangen wurden, um am späten Abend des 26. Mai 2021 an seinen Arbeitgeber und den Mitteldeutschen Rundfunk versandt zu werden.

Interessant ist auch der Zeitpunkt des Versandes.

Er verstärkt noch einmal den Verdacht, dass es einem oder mehreren Ermittlern in Polizeikreisen nach einer detaillierten LZ-Anfrage vom 5. Mai 2021 und den ausbleibenden Beweisen trotz Wohnungsdurchsuchung und Auswertungen gegen A. dämmerte, dass es nach diversen Fehlschlägen zuvor auch im Fall der angeblichen Beteiligung von Henry A. an einem Überfall am 1. September 2019 in Neukieritzsch keine Anklage gegen den Dauerverfolgten geben wird.

Der hämische Begleittext – angeblich von Henry A. unter der Mailadresse h.axxxx@protonmail.com selbst verfasst – spricht jedenfalls von einem Anflug von Verzweiflung.

Hier steht, angeblich von Henry A. an seinen Arbeitgeber, die Stadtverwaltung Leipzig, zu lesen: „Liebe Kolleginnen und Kollegen der Stadt Leipzig, wie ich euch schon länger mitteilen wollte, habe ich in meiner Freizeit ein paar spezielle Hobbies. Dafür dürft ihr euch gerne auch die angehängten PDFs anschauen. Von Betäubungsmittel über Kinder anfahren und anschließendem Abhauen bis zum Verdacht der kriminellen Vereinigung lasse ich nichts aus. Aber lest am besten einfach selbst. Bei Fragen sprecht mich gerne an. Ich kann euch bestimmt auch Auskunft über meine Antifa-Genossin Lina E. aus Connewitz geben.“

Sprachlich und inhaltlich enttarnt neben den beiden derzeit im Besitz des LKA befindlichen Dokumenten sowie die Wahl des anonymen Mailanbieters vor allem der letzte Satz, dass nicht A. selbst die anonyme Mail geschrieben hat. Härter könnte man sich nicht selbst bezichtigen und er soll A. mit einer weiteren Beschuldigung, mit der er nichts zu tun hat, unter Druck setzen.

Und es kommt ein weiteres Indiz hinzu, welches wieder zum anonymen Verfasser des „Compact-Artikels“ vom 29. April 2021 führt. Unterschrieben ist die Mail mit „Euer Henry (Aule)“. Ein Spitzname, der bislang nur in besagtem „Compact“-Text Verwendung fand und den Henry A. bestenfalls als Abwertung aus Lokomotive Leipzig Hooligan-Kreisen kannte, aber niemals selbst nutzte oder so in Freundeskreisen bezeichnet wurde.

Warum auch, im Leipziger Sächsisch heißt es nichts anderes als „Rotze“ oder „Spucke“.

„Compact“-Artikel und Mail: Indizien die zusammenpassen

Viele Möglichkeiten, außer einer hartnäckigen Verfolgung eines Unschuldigen aus LKA-Kreisen heraus, bleiben nach nunmehr acht Jahren immer wieder aufgenommenen und erfolglosen Ermittlungen des LKA Sachsen gegen Henry A. nicht mehr.

Entweder versandte am Mittwoch vergangener Woche ein sächsischer Polizeibeamter über den anonymen Mailservice „Proton“ Inhalte von Henry A.s Mobiltelefon an dessen Arbeitgeber und den MDR. Oder das LKA Sachsen hat ein Scheunentor großes Leck nach rechtsaußen, welches zulässt, dass Dokumente und Unterlagen aus laufenden Ermittlungen weitergereicht und von Personen genutzt werden können, die außerhalb der grundgesetzlichen Rechtsordnung operieren.

Ein Verdacht, der gemeinsam mit den offenbar durchgesteckten oder selbst aufgeschriebenen Informationen an das „Compact Magazin“ und einem anonymen Anruf am 29. April 2021 auf der Nummer von A.s Freundin, die nur den Ermittlern bekannt war, eine Kette von Indizien dafür bildet, dass hier Polizisten den Weg ordentlicher Ermittlungen verlassen haben. Oder mit Rechtsextremen Hand in Hand arbeiten.

Henry A.s Rechtsanwalt Christian Avenarius hat nun noch mehr zu tun. Bereits am morgigen Montag wird er eine Strafanzeige gegen Unbekannt erstatten, um eine polizeiliche Ermittlung in dieser Sache zu erwirken.

Damit läuft nun die zweite Anzeige rings um die Ermittlungen gegen Henry A. mit ähnlicher Fragestellung bei der Leipziger Staatsanwaltschaft auf. Und beide weisen in Richtung LKA Sachsen oder weitere involvierte Polizeikreise.

Denn bei der Frage, wie keine 24 Stunden nach der Razzia bei Henry A. detaillierte Informationen über den Beschuldigten, die exakte Länge der Durchsuchung und seine Arbeitsstelle beim rechtsradikalen „Compact Magazin“ nebst einem Bogenschlag zurück zum einstigen Überwachungsskandal landen konnten, veranlasste das LKA Sachsen bereits vorvergangenen Woche selbst, den Vorgang an die Staatsanwaltschaft zur Prüfung weiterzuleiten.

Da wusste das LKA Sachsen noch nicht, was seit Samstag, den 29. Mai 2021 auf L-IZ.de zu lesen steht: Der Verfasser des überraschend detailreichen „Compact“-Beitrages ist kein „Compact“-Journalist, der vorgebliche Gast-Autor „Sascha Neuschäfer“ hat vor und nach diesem Artikel keine im Internet auffindbaren Texte verfasst und in den sozialen Medien findet sich lediglich ein privates Instagram-Profil unter diesem Namen.

Der „Journalist“ Neuschäfer jedenfalls ist ein „Geist“ und der Name offenkundig ausgedacht.

Wer also hat den Artikel vom 29. April 2021 auf der Internetseite des „Compact Magazins“ geschrieben und wusste dabei direkt nach Ende der Durchsuchung bei Henry A. am 28. April, wie lange diese gedauert hatte? Und dies zu einem Zeitpunkt, wo etablierte Leipziger Redaktionen wie LVZ und LZ noch rätselten, bei welchen Personen die Durchsuchungen überhaupt stattgefunden hatten.

Darüber hinaus wird so noch interessanter, wer bereits vor der Razzia der BILD einen Tipp gab und die Reporter dabei offenbar direkt zu Henry A.s Adresse schickte, obwohl es noch mindestens vier weitere Durchsuchungen in der gleichen Sache gab.

Fragen, mit denen sich nun die Staatsanwaltschaft Leipzig befassen müsste. Wenn sie will.

Eine Ermittlungsakte als Katastrophenbericht

Dass die Ermittler des LKA Sachsens verzweifelt darüber sein könnten, dass sie Henry A. nunmehr zum vierten Mal nichts werden nachweisen können, bestätigt sich bei einem Blick in die Ermittlungsakte, welche der LZ seit gestern, 29. Mai 2021 vorliegt.

Betrachtet man dabei das einzige Indiz, welches dem Landgericht Leipzig genügte, um die Unverletzbarkeit von Henry A.s Wohnung aufzuheben und die Durchsuchung zu genehmigen, wird überdeutlich, dass auch diese Beschuldigungen erneut nicht einmal zur Anklage kommen dürften.

Das angebliche Vergleichsbild aus einer Action-Kamera-Aufnahme vom 1. September 2019 ist derart unscharf, dass es sich bei der dargestellten Person lediglich um einen unbekannten Mann mit schlanker Figur, braunem Schuhwerk und weißer Sturmhaube handelt.

Ein Vergleich der kaum erkennbaren Augenpartie mit dem ebenfalls enthaltenen Foto von A. selbst – immerhin das einzige Indiz in der Durchsuchungsbegründung des Landgerichtes Leipzig – ist angesichts der groben Auflösung nahezu unmöglich.

Dass der „Experte“, der den „Augenpartievergleich“ durchführte, ein einziger szenekundiger Zivilbeamter ist, der laut Akte vermutete (!), es könnte sich um Henry A. handeln, macht den ganzen „Beweis“ nahezu unbrauchbar. Und weitere Beweise, wie Bekleidung, Handschuhe oder gar eine weiße Sturmhaube, welche die Ermittler am 28. April 2021 ab 6 Uhr morgens in Henry A.s Wohnung suchten, wurden nicht gefunden.

Vielleicht hätte die ermittelnde Staatsanwaltschaft im März 2021 statt auf die LKA-Ermittler lieber auf einen Richter am Amtsgericht Leipzig hören sollen. Der hatte bei dieser Lage der Dinge die Durchsuchung von Henry A.s Wohnung abgelehnt. Erst eine Beschwerde der Staatsanwaltschaft und der Gang zum Landgericht brachten die benötigten Unterschriften, die den Weg zur Durchsuchung bei einem Unschuldigen freimachten.

So steht nun die Frage im Raum, wer beim LKA Sachsen anonyme E-Mails an Arbeitgeber und Anrufe zu verantworten hat und unter einem falschen Namen Artikel bei einem Magazin schreibt, für das sich nicht nur rechtsradikale Leserschichten, sondern auch der Verfassungsschutz interessiert. Und somit mindestens dabei helfen könnte, Unschuldige zu verfolgen.

Immerhin keine Kleinigkeit, so auch Tom Bernhardt, Pressesprecher des LKA Sachsen am 6. Mai 2021 gegenüber LZ. Eine Strafverfolgung könne im Falle der Verfolgung Unschuldiger „auf der Grundlage des § 344 StGB erfolgen“. Bei Nachweis dessen stehen Haftstrafen von bis zu zehn Jahren im Raum.

Hinweis d. Red.: Inhalte von Ermittlungsakten dürfen nur zitiert, nicht jedoch im Original publiziert werden.

https://www.l-iz.de/leben/faelle-unfaelle/2021/05/unschuldig-verfolgt-1-seit-acht-jahren-im-fadenkreuz-des-lka-sachsen-392954
https://www.l-iz.de/leben/faelle-unfaelle/2021/05/unschuldig-verfolgt-2-selbstmordversuche-enge-polizei-draehte-nach-rechts-und-ein-anonymer-anruf-392964
https://www.l-iz.de/leben/faelle-unfaelle/2021/05/unschuldig-verfolgt-3-anonyme-beschuldigungen-und-eine-ermittlungsakte-als-katastrophenbericht-393113

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passiert am 30.05.2021