Identifizierung von Kapitol-Randalierern. Doxxing im Namen des Guten
Überwachungsexperten, Journalisten und Tausende Freiwillige haben Menschen identifiziert und den Behörden gemeldet, die am 6. Januar das Kapitol in Washington stürmten. Dafür gibt es nicht nur Beifall.
»Unsere dunkelste Stunde«, schreibt John Scott-Railton auf Twitter, als er am 6. Januar die ersten Bilder vom Sturm aufs Kapitol sieht. »Zumindest eine der dunkelsten, an die ich mich erinnern kann.« Scott-Railton ist US-Bürger, aber er arbeitet an der Universität von Toronto in Kanada, als Forscher des Citizen Lab. In Fachkreisen hat er eine gewisse Bekanntheit erlangt, indem er zusammen mit seinen Kollegen zahlreiche Überwachungsversuche von Regierungen gegen Journalisten und Dissidenten aufgedeckt hat. Seit dem 6. Januar ist er für etwas anderes bekannt: seine Versuche, die Randalierer von Washington mit sogenannten OSINT-Methoden zu identifizieren und der Polizei zu melden.
Die Abkürzung aus der Welt der Geheimdienste steht für Open Source Intelligence, die Nachrichtengewinnung aus frei verfügbaren Quellen. Scott-Railton analysiert Bildausschnitte, die auf Twitter auftauchen. Er sucht nach markanten Tätowierungen oder Aufnähern, Schriftzügen und anderen Details auf der Kleidung der Täter, um sie auf anderen Fotos oder Videos wiederzuerkennen.
Er sucht aber auch nach Social-Media-Konten, auf denen die Gesichter aus dem Kapitol wiederzuerkennen sind. Für 435 Dollar kauft er von einer Nachrichtenagentur ein hochaufgelöstes Foto, um nicht nur auf unscharfes Social-Media-Material angewiesen zu sein. In mindestens einem Fall setzt er nach eigenen Angaben eine Gesichtserkennungssoftware ein.
Schnell springen ihm Freiwillige zu Seite, Zehntausende, wie er selbst sagt, darunter Großmütter und Studentinnen, anonyme Aktivisten sowie Journalisten und andere OSINT-Experten.
»Gibt es so etwas wie ethisches Doxxing?«
Der Erste, den Scott-Railton identifiziert, ist Eric Munchel aus Nashville, Tennessee. Der »Kabelbindertyp«, wie der Forscher ihn zuerst nur nennt. Munchel war maskiert ins Kapitol eingedrungen und hatte Kabelbinder dabei, geeignet, um Menschen zu fesseln. »Als jemand, der in den USA aufgewachsen ist und Staatsbürgerkunde hatte, wie jeder andere auch, widersprach dieser Vermummte mit den Kabelbindern so sehr meiner Vorstellung davon, wie Demokratie funktioniert«, sagt Scott-Railton dem SPIEGEL, »dass ich herausfinden wollte, was sein Plan war. Und dafür musste ich wissen, wer er ist.«
Mittlerweile hat er mehrere Menschen ans FBI gemeldet. Auf Twitter folgen ihm jetzt 140.000 Menschen, 130.000 mehr als noch im Dezember. Aber seine Arbeit ist umstritten. Vivian Schiller etwa, eine Direktorin in der Denkfabrik Aspen Institut, fragt auf Twitter: »Gibt es so etwas wie ethisches Doxxing?«
Der Begriff bezeichnet das Veröffentlichen personenbezogener Daten ohne das Einverständnis der Betroffenen. Die Harvard-Forscherin Joan Donovan nennt Scott-Railtons Detektivarbeit sogar »eine der gefährlichsten Nutzungsweisen von sozialen Medien durch einen Forscher«.
Schiller und Donovan berühren einen wunden Punkt der Onlinejagd: Wenn lauter Amateure vor großem Publikum mitmachen, kann es schnell zu Verwechslungen kommen. Unschuldige könnten in Verdacht geraten und vorverurteilt werden. So geschehen nach dem Bombenanschlag auf dem Boston-Marathon 2013, und auch jetzt wieder.
Der aus der Kognitionspsychologie bekannte Bestätigungsfehler beschleunigt solche für die Betroffenen mitunter gefährlichen Verwechslungen tendenziell noch: Gibt es erst einmal einen Verdächtigen, neigen Menschen dazu, Informationen zu suchen, die den Verdacht stützen, statt solche, die ihn widerlegen.
»Warum helfen Journalisten und Forscher dem FBI?«, fragt auch das Politmagazin »New Republic«. Die US-Bundespolizei habe weitreichende Fähigkeiten, selbst Untersuchungen anzustellen. »Auch wenn die Verdächtigen in diesem Fall eindeutig Bösewichte sind, mutet es doch seltsam an, dass Menschen, die für ihre bürgerrechtsorientierte Arbeit bekannt sind, jetzt freiwillig für die Geheimpolizei arbeiten«, heißt es in dem Artikel, wobei das FBI eher keine Geheimpolizei ist. Und weiter: »Experten wie Scott-Railton sollten lieber die Behörden überwachen, statt ihnen die Arbeit abzunehmen.«
Donovan sieht das ähnlich. Im Gespräch mit »Protocol« sagt sie: »Das sind Überwachungstechniken, und wenn die Öffentlichkeit sie nutzt und dadurch massenhaft Menschen zu Cops macht, erscheint mir das als sehr gefährlicher Impuls«.
Scott-Railton ist sich dessen bewusst. »Dieses Nachspüren im Netz ist ein zweischneidiges Schwert«, betont er. Es bereitet ihm Sorge, dass immer wieder jemand auf Twitter etwas schreibt wie »Der sieht irgendwie aus wie«, gefolgt von einem Namen, der stimmen kann oder auch nicht. »Deshalb bin ich sehr vorsichtig und nenne keine Namen, bevor sie offiziell bestätigt sind.« Um dieselbe Zurückhaltung bittet er immer wieder auch jene, die ihm helfen wollen.
»In der Summe halte ich es eher für etwas Positives«
Unterstützung für seine Position bekommt er unter anderem von Aric Toler von Bellingcat, einer der bekanntesten und fähigsten Einrichtungen für OSINT-Recherchen überhaupt. Toler ist einer der namhaftesten Experten, die sich an den Identifizierungsversuchen beteiligen. »Das Crowdsourcing ist offensichtlich mächtig und kann auch in die falsche Richtung gehen, aber in der Summe halte ich es eher für etwas Positives«, sagt er im Gespräch mit »Protocol«, zumal ein Großteil der Arbeit nur darin bestehe, »gewaltige Mengen von Fotos und Videos zu durchsuchen«.
Seit einigen Tagen sammeln Scott-Railton und Bellingcat die Hinweise der Tausenden Freizeitdetektive nun gemeinsam über ein Onlineformular. Die Begründung dafür ist nicht etwa, dass die Gefahr zu groß ist, Unschuldige ins Rampenlicht zu zerren oder sich selbst zur Zielscheibe von rachsüchtigen Rechten zu machen, wovor unter anderem Joan Donovan warnt. Sondern die schiere Masse der Hinweise, über die man nur so den Überblick behalten könne.
Laut der Nachrichtenagentur AP wurden bisher mindestens 90 Personen festgenommen, die am Sturm auf das Kapitol beteiligt gewesen sein sollen. Das FBI listet viele von ihnen auf einer Webseite auf. Hier findet sich auch die Klageschrift gegen »Kabelbindertyp« Eric Munchel, mit den Fotos und Hinweisen, die Scott-Railton auf Twitter genutzt hat. Das FBI hat unter anderem mithilfe polizeilicher Datenbanken und Überwachungsvideos aus einem Hotel in Washington auch eine weitere Person identifiziert, die an Munchels Seite das Kongressgebäude betreten hatte: seine Mutter.
von Patrick Beuth
gefunden auf spiegel.de
passiert am 19.01.2021