Zwischenbilanz im Lina-E.-Verfahren: In welchen Punkten eine Verurteilung wahrscheinlich ist

Nach mehreren Wochen Pause wird der Linksextremismus-Prozess gegen Lina E. und drei weitere Angeklagte fortgeführt. In welchen Punkten eine Verurteilung wahrscheinlich ist und in welchen eher nicht.

– Für den Überfall auf den Eisenacher Rechtsextremisten Leon R. ist eine Verurteilung von Lina E. so gut wie sicher.

– Unklar ist hingegen, ob Lina E. für den Überfall auf das rechtsextreme Eisenacher Szenelokal Bull‘s Eye verurteilt wird.

– Über allen verhandelten Anklagepunkten schwebt der Vorwurf gegen die Angeklagten, eine kriminelle Vereinigung gegründet zu haben.

Am Montag ist der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts wieder zusammengetreten, um weiter gegen eine Frau und drei Männer wegen der Bildung einer linksextremistischen kriminellen Vereinigung zu verhandeln. Die Bundesanwaltschaft will der 27-Jährigen die Beteiligung an insgesamt sechs Angriffen auf unter anderem Neonazis und Rechtsextreme sowie den versuchten Überfall auf einen weiteren Rechtsextremen nachweisen. Womit hat die bekannteste Angeklagte, die Studentin Lina E. zu rechnen?

Nach Angriff auf der Flucht gestellt

So gut wie sicher dürfte ihre Verurteilung für den Überfall auf den Eisenacher Rechtsextremisten Leon R. sein. Leon R. war im Dezember 2019 vor seiner Wohnung von mehreren Personen zum Teil bewaffnet angegriffen worden und soll nach eigener Aussage die Angreifer mit einem Messer von sich ferngehalten haben. Ebenso angegriffen wurden an dem Abend drei Begleiter von Leon R. Sie hatten ihn mit dem Auto nach Hause gefahren. In diesem Fall hatte die Polizei Lina E. und den Mitangeklagten Lennart A. noch auf der Flucht gestellt.

Wahrscheinlicher wird auch eine Verurteilung der Studentin im Zusammenhang mit einem Überfall auf Neonazis am Bahnhof Wurzen im Februar 2020. Teilnehmer einer rechtsextremen Demonstration in Dresden waren damals bei ihrer Rückkehr von mehreren Personen angegriffen und zusammengeschlagen worden. Einige wurden zum Teil schwer verletzt.

Lina E. als Späherin im Zug?

Die Ermittler gehen davon aus, dass Lina E. mit den Angreifern telefonischen Kontakt gehalten hat, um Informationen zur Fahrt und dem Standort durchzugeben. Als Beleg führen sie unter anderem Videos aus einem Zug an, in dem eine Frau lange telefoniert. Eine Gutachterin hatte nach Auswertung der Bilder Lina E. als „wahrscheinlich“ eben als jene Frau identifiziert. Auch Jannis R.s Beteiligung steht noch im Raum.

Unklar ist derzeit, ob Lina E. für den Überfall auf das rechtsextreme Eisenacher Szenelokal Bull‘s Eye verurteilt wird. Der bereits oben erwähnte Leon R. war bis zu seiner Verhaftung im April 2022 dessen Wirt. Vor Gericht hatte er behauptet, an dem Überfall sei dieselbe Frau sei beteiligt gewesen, wie am Überfall auf ihn vor seinem Wohnhaus. Die Verteidigung hatte seine Aussagen als politisch motiviert angezweifelt. Tatsächlich widersprachen die Ergebnisse einer Tatortrekonstruktion den Aussagen eines weiteren Zeugen, der gesehen haben will, wie eine Frau nach dem Angriff aus dem Lokal gerannt kam.

Überfall auf Eisenacher Kneipe könnte vorerst ungeklärt bleiben

Der Vorsitzende Richter Hanns Schlüter-Staats ließ im Januar bereits durchblicken, dass selbst Spezialisten des Bundeskriminalamts auf einem im Umfeld aufgenommenen Überwachungsvideo nicht erkennen können, ob unter den Angreifern auch eine Frau ist. Vermutungen der Ermittler, wonach Philipp M. und Jannis R. ebenfalls an dem Überfall auf das Bull’s Eye beteiligt gewesen können, setzte die Verteidigung Alibis der beiden entgegen. Nach Informationen des MDR wird aber im Hintergrund gegen weitere Personen wegen des Überfalls ermittelt.

Unwahrscheinlicher wird unterdessen eine Verurteilung Lina E.s für den Überfall auf den Rechtsextremen Cedric S. im Wurzener Stadtteil Kühren im Oktober 2018. Obwohl bei der Durchsuchung ihrer Wohnung Datenträger mit Bildmaterial gefunden wurden, die sie in die Nähe des Tatorts bringen, gibt es offenbar keine weiteren belastenden Indizien gegen sie.

Ihr kommt ebenfalls zugute, dass die Bundesanwaltschaft mittlerweile gegen eine andere Frau aus ihrem Umfeld ermittelt, die womöglich an der Tat beteiligt gewesen sein könnte.

Angriff auf Kanalarbeiter in Leipzig-Connewitz: Verurteilung eher unwahrscheinlich

Ebenfalls eher unwahrscheinlich ist die Verurteilung der 27-Jährigen wegen des Überfalls auf einen Kanalarbeiter in Connewitz im Januar 2019. Der Mann hatte eine Mütze der rechtsextremen Modemarke „Greifvogel Wear“ getragen und erlitt bei dem Angriff schwere Verletzungen im Gesicht. Eine Frau soll die Kollegen des Mannes mit Pfefferspray davon abgehalten haben, einzugreifen. Die Mütze wird von den Ermittlern als mögliches Motiv für den Überfall gesehen.

Erdrückende Beweise oder Zeugenaussagen gegen Lina E. konnten von der Anklage in diesem Fall bisher nicht vorgelegt werden. Das veranlasste den Richter Schlüter-Staats bereits im vergangenen Jahr zur Feststellung, dass solche Vorfälle in Connewitz „bedauerlicherweise keine Seltenheit“ seien.

DNA-Gutachten nach Überfall auf Ex-NPD-Stadtrat vom Gericht abgelehnt

Fast ausgeschlossen sein dürfte mittlerweile jedoch Lina Es. Verurteilung wegen des Überfalls auf den Ex-NPD-Stadtrat Enrico Böhm. Der wurde im Oktober 2018 vor seiner Wohnung in Leipzig-Gohlis überfallen. Das Verfahren wurde erst spät in die Anklage der Bundesanwaltschaft mit aufgenommen.

Am Tatort wurde eine Tüte gefunden, die mutmaßlich DNA-Material von Lina E. trug. Der Fundort des Zellmaterials unter einem Knoten veranlasste die Verteidigung dazu, ein DNA-Gutachten zu beantragen. Das Gericht lehnte ein solches Gutachten ab, begründete die Entscheidung zusammengefasst aber folgendermaßen: Es könne einerseits nicht davon ausgehen, dass die Tüte erst kurz vor der Tat verknotet worden sei. Das Gericht müsse ferner in Betracht ziehen, dass ein Lager gefunden wurde, das womöglich der Gruppe um Lina E. zugeordnet werden könne. Träfe dies zu, könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Tüte mit der DNA von Lina E. schon weit vor dem Überfall auf Enrico Böhm verknotet worden und in das Lager gelangt sei.

Nach MDR-Informationen hatten verschiedene Gruppen Zugriff auf das Lager

Bei diesem Lager handelt es sich um eine Dachgeschossbox in einem Haus auf der Simildenstraße in Leipzig-Connewitz. Die Ermittler sprechen von einem sogenannten „Tatmitteldepot“ und bringen es aufgrund von Indizien in direkten Zusammenhang mit dem Umfeld der Angeklagten und einer mutmaßlichen kriminellen Vereinigung.

Dieser Nachweis könnte sich jedoch noch als schwierig erweisen. Nach Informationen des MDR hatten im Laufe der Zeit unterschiedliche Gruppierungen und Personenzusammenhänge Zugriff auf den Ort. Deutlich wird das auch dadurch, dass auf dem Dachboden zahlreiche Graffiti-Utensilien gefunden worden sind.

Angeklagte sollen kriminelle Vereinigung gebildet haben

Über all den vor Gericht verhandelten Anklagepunkten schwebt der Vorwurf gegen die Angeklagten, eine kriminelle Vereinigung gegründet zu haben. Dem Senat könnten diesbezüglich die Aussagen des sogenannte Kronzeugen Johannes D. als Beleg ausreichen. Demnach haben die Angeklagten sich zusammen mit anderen Personen getroffen, um gezielte Angriffe auf politische Gegner zu trainieren und diese dabei „nachhaltig“ zu schädigen.

Unabhängig überprüfen lassen sich Johannes D.s Aussagen bisher nicht. Für ein solches Training auf dem Gelände von Chemie Leipzig gibt es bisher nur seine Aussagen als Beleg. Weitere Zeugen des Tages konnten die Angaben nicht bestätigen.

Der Prozess läuft Stand Montag seit 515 Tagen. Verfahrensbeteiligte erwarten ein Urteil im Frühjahr, auch wenn der Senat erst im Januar weitere Termine bis Ende Mai festgelegt hat.

passiert am 06.02.2023