Über Blockaden, Rettungsgassen und eine inszenierte mediale Empörung

Am 31. Oktober wurde eine Frau schwer verletzt, nachdem sie in Berlin von einem Betonmischer erfasst worden war. Solche Unfälle sind immer eine Tragödie. Noch tragischer ist es, wenn ein Feuerwehr-Rüstwagen aufgehalten wird, weil es in einem durch eine Blockade verursachten Stau keinen Rettungsgasse gibt. Aktivist*innen haben immer eine Verantwortung, wenn sie eine Aktion durchführen. Müssen immer Abwegen. Daran gibt es keinen Zweifel. Ich hoffe aufrichtig, dass die verletzte Frau wieder vollständig genesen wird, aber es gibt keine Rechtfertigung für die Morddrohungen gegen Klima-Aktivist*innen durch rechtsradikalen, gefüttert durch eine verlogene mediale Empörung und nach härtere Strafen schreiende Politclowns.


Update 03. November, 2022, 14:50 Uhr: Die Frau wurde laut Polizei für hirntot erklärt. Vorherige Informationen, wonach die Radfahrerin gestorben sei, zog die Berliner Polizei zurück. Wir erfuhren die Nachricht, nachdem dieser Artikel geschrieben worden war. Wir wünschen den Angehörigen und Freund*innen viel Kraft.


Geschrieben von Riot Turtle.

 

 

Eine Welle der Empörung rollte in den vergangenen Tagen über die deutsche Medienlandschaft. Es ging nicht um die Verantwortung derjenigen, die die Hauptverursacher des Klimawandels sind. Diejenigen, die mitverantwortlich sind für die 180 tödlichen Opfer der Flutkatastrophe, die die BRD im Jahr 2021 heimgesucht hat. Es gab damals auch keine Politclowns, die aufgestanden sind und effektive Maßnahmen gegen der Klimakrise umgesetzt haben. Stattdessen haben die Politiker*innen in diesem Land einen massiven Rollback zu fossilen Brennstoffen eingeleitet. Wir erinnern uns an die Tausenden von Toten bei den Überschwemmungen in Pakistan. Wir erinnern uns an die Menschen, die im vergangenen Sommer bei den langen und schweren Hitzewellen in viele Regionen der Welt starben. An die Menschen, die bei den verheerenden Waldbränden in den USA, Europa, Sibirien und darüber hinaus alles verloren haben. Die Aussichtslosigkeit in großen Teilen des afrikanischen Kontinents.

Ich möchte keine Todesfälle oder Verletzungen gegeneinander aufrechnen. Ich möchte jedoch klarstellen, über welche Dimensionen wir sprechen, wenn wir über die Klimakrise sprechen. Inzwischen verwende ich den Hashtag #ClimateEndgame, denn entweder wir schaffen wir es, diesen Kampf zu gewinnen, oder wir sind dem Untergang geweiht. Und nicht zuletzt werden wir viele andere Spezies mit uns in den Abgrund reißen.

Die Zahl der Menschen, die ihren Lebensgrundlage oder sogar ihr Leben verlieren werden oder bereits verloren haben, weil die fossile Industrie mit Unterstützung der Politik Business as usual betreibt, wird in den kommenden Jahren dramatisch zunehmen. Abgesehen von den massiven Zerstörungen im Rheinland, baut RWE nun im Auftrag der Bundesregierung Terminals für Flüssiggas. Teil des Rollbacks zu fossilen Brennstoffen. Teil der weiteren Verschärfung der Klimakrise. Wir steuern jetzt auf 2,5 Grad Celsius zu. Mit allen Konsequenzen. Die Hauptverantwortlichen sind bekannt und haben Namen, aber ich habe noch nie gehört, dass ein Politiker die harte strafrechtliche Verfolgung der Vorstandsvorsitzenden dieser Konzerne gefordert hätte. Nicht, dass ich für eine harte strafrechtliche Verfolgung wäre, aber meine generelle Ablehnung „unseres“ Rechtsstaates, der meiner Meinung nach schlichtweg nicht existiert, ist hier nicht das Thema.

Die Instrumentalisierung des tragischen Verkehrsunfalls in Berlin zeigt das wahre Gesicht vieler Politiker*innen und teile der Medien in diesem Land. Wie ein Mitarbeiter eines Rettungsdienstes aus Berlin Twitterte:“TAGTÄGLICH stecken wir Rettungskräfte im Stau fest. Jeden einzelnen verdammten Einsatz!!! Die Gründe sind mit WEITEM Abstand folgende: Falschparker*innen „Zweite-Reihe-Parker*innen“ Baustellen Fehlende Rettungsgassen Generell viel zu viele Autos auf viel zu wenig Platz. Wenn jetzt hier auf einmal die ganzen Menschenfreunde herkommen und sich berufen fühlen, etwas zum Schutz der Patient*innen zu tun: …dann klärt die Leute über die korrekte Rettungsgasse auf …ahndet endlich Falschparken …fahrt nicht alleine mit einem Auto in die Stadt. Hier die Schuld bei den Klima-Aktivist*innen zu suchen ist respektlos dem Unfallopfer gegenüber, heuchlerisch, verlogen und hetzerisch. Und auch die Berliner Feuerwehr, die sich jetzt ganz empört hinstellt, könnte da selbstkritisch rangehen.

Wahrscheinlich wurden in einigen Vorstandsetagen mehrere Flaschen Sekt geöffnet, als Tadzio Müller seinen Tweet abgesetzt hatte. Ja, der Tweet von Tadzio war schrecklich. Manchmal ist es besser, sich hinzusetzen und zweimal nachzudenken, bevor man einen Tweet absetzt. Tadzio weiß das und hat seinen Tweet gelöscht. Gute Entscheidung, das hätte ich auch gemacht. Ich hätte so einen Tweet wahrscheinlich nie abgeschickt, aber es ist ja nicht so, dass ich noch nie einen Tweet abgeschickt habe und später dachte, na ja, das war nicht dein hellster Moment… bis: Okay, das war ein richtig dummer Tweet. Das ist der Grund, warum auch ich in der Vergangenheit einige meiner Tweets gelöscht habe. Wir sind Menschen, wir machen Fehler. Um ehrlich zu sein: Meiner Meinung nach gehören Fehler zu den Dingen, die uns menschlich machen.

Natürlich gab es ein Shitstorm und natürlich reagierten auch viele rechtsextreme Trolle. Tadzio erhielt eine Reihe von Drohungen, darunter auch Morddrohungen, aber Boulevardzeitungen wie Bild und Welt TV & Co setzten erwartungsgemäß ihre Empörungswelle und Kriminalisierungskampagne gegen Tadzio und Klimaaktivist*innen im Allgemeinen fort. Denn die fossile Industrie und ihre Handlanger*innen in Politik und Teilen der Medien nützen jede Gelegenheit, um ihre Position zu stärken und ihre Interessen durchzusetzen. Das ist der Grund, warum sie den Verkehrsunfall instrumentalisieren. Und nur das! Sie wissen, dass sich die Klimabewegung in einer schwierigen Phase befindet und wollen den Widerstand brechen, um ihren Rollback zu fossilen Brennstoffen weiter vorantreiben.

In einer Erklärung schreibt die letzte Generation über den Unfall: “Es bestürzt uns, dass heute eine Radfahrerin von einem LKW verletzt wurde. Wir hoffen inständig, dass sich ihr Gesundheitszustand durch die Verspätung nicht verschlimmert hat”, so Carla Hinrichs von der Letzten Generation. “Bei all unseren Protestaktionen ist das oberste Gebot, die Sicherheit aller teilnehmenden Menschen zu gewährleisten. Das gilt selbstverständlich auch für alle Verkehrsteilnehmer:innen.“ Zumindest wurde ihre Erklärung von vielen Medien aufgegriffen. Das heißt aber nicht, dass die Kriminalisierung danach aufgehört hat. Natürlich nicht.

Ich habe großen Respekt vor der willensstarken und kontinuierlichen Protestwelle der Aktivist*innen der letzten Generation. Aber ich glaube nicht, dass Tomatensuppe und Sekundenkleber uns viel weiter bringen werden. In dem Sinne waren die gestrigen Aktionen der letzten Generation deutlich besser. Klare und direkte Schläge gegen Einrichtungen derjenigen, die für den sich zuspitzenden Klimanotstand, mit dem wir konfrontiert sind, verantwortlich sind. Auch wenn der dazugehörige Tweet (unten) an die Bundesregierung gerichtet war. Diejenigen, die Hand in Hand mit der fossilen Industrie arbeiten, es ist sinnfrei, etwas von denen zu erwarten. Denkt über den Tellerrand und die üblichen Grenzen hinaus! Aktionen gegen die Hauptverursacher der Klimakrise sind meiner Meinung nach effektiver. Direkte Aktionen gegen Tagebau, Ölraffinerien, Pipelines und Firmensitze von Konzernen, die die Klimakrise beschleunigen. Kartoffelbrei gegen Glasscheiben mag viel Aufmerksamkeit erregen, aber spätestens seit Fridays For Future sind sich viele Menschen des Problems bewusst. Wir müssen den nächsten Schritt machen und über appellierende und symbolische Aktionen hinausgehen.

Das Empire befindet sich auf vielen Ebenen mitten im Endgame und im Moment ist das Narrativ die Radikalisierung der Klimabewegung, Klimaterrorismus, weil Leute sich an Asphalt festkleben. Die herrschende Klasse weiß, dass die Klima-Konflikte sich zuspitzen werden. Deshalb instrumentalisieren sie den tragischen Unfall in Berlin. Sie haben sich nie mit der gleichen Intensität für Rettungsdienste eingesetzt, die feststecken, weil Autofahrer*innen kein Rettungsgasse für die Zufahrt von Rettungsfahrzeugen frei gemacht haben. Das werden sie auch nie tun. Denn hier geht es nicht um den Unfall und seine tragischen Folgen. Es geht um einen massiven Angriff auf die Klimabewegung. Wir sind Zeuge einer Scheindebatte.

Zu glauben, dass eine herrschende Klasse, die nicht einmal ein moralisches Problem damit hat, Tausende von Menschen im Mittelmeer ertrinken zu lassen (um nur ein Beispiel zu nennen), aufgrund von symbolischen und appellierende Aktionen auf ihre unglaublichen Gewinne verzichten wird, ist mindestens naiv. Tadzio Müller ist einer derjenigen, die sich bewusst sind, dass wir den Klimakampf auf eine andere Ebene bringen müssen. Er plädiert dafür, Sabotage als Mittel im Klimakampf einzusetzen. Das ist eines der Dinge, vor denen sich die fossile Industrie fürchtet. RWE & Co. wissen, dass dies Art von Aktionen zu einer Gefahr für ihre zerstörerischen Aktivitäten entwickeln könnte.

Die Art und Weise, wie unsere Gegner, die fossile Industrie und ihre Helfershelfer*innen, die Verletzung einer Frau instrumentalisieren, lässt erahnen, was auf uns zukommen wird, wenn sich der Klimakrise weiter verschärft. Und das wird er. Wir müssen in den kommenden Wochen und Monaten analysieren, was genau passiert ist. Wie und welche Medien sich an der entfesselten Medienkampagne im Dienste der alten fossilen Welt beteiligt haben. Wir sollten aber auch analysieren, wie mächtig die fossile Industrie noch ist, welche Netzwerke es zwischen Politclowns, teile der Medien und Konzerne gibt und an welchem Punkt rechtsradikale Kräfte instrumentalisiert werden könnten, um ihre fossile Agenda, ihre Profite, zu verteidigen.

Der Klimakampf ist ein Kampf für einen lebenswerten Planeten, unseren Planeten, für alle Menschen, mit Respekt für alle Arten, zusammen mit allen Menschen und Arten, und muss daher antikapitalistisch und antikolonial sein. Da wir alle Teil eines umfassenden Ökosystems sind, sollte auch der Kampf gegen das Artensterben höchste Priorität haben.

Vergiss den Politzirkus in den Parlamenten. Der Klimakampf wird auf der Straße entschieden. Aber um eine starke Bewegung auf zu bauen, die über symbolische und appellierende Proteste hinausgeht, müssen wir verstehen, was auf dem Spiel steht, und erkennen, dass wir diesen Kampf nicht gewinnen können, wenn wir nicht bereit sind, uns die Hände schmutzig zu machen. Es wird ein langer Kampf, bei dem es um alles oder nichts geht. Ich bin nicht optimistisch, was den Stand der Dinge angeht. Ich befürchte, dass wir bereits mehrere Kipppunkte überschritten haben. Aber es lohnt sich, für jede 0,1 Grad zu kämpfen. Die Liebe zum Leben gegen die Liebe zum Geld.

 

zuertst veröffentlicht auf enough-is-enough14.org

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passiert am 03.11.2022