Anarchistinnen und Anarchisten haben ihre Prinzipien vergessen
Einleitung von uns,
in vielen der Texten die wir zum Krieg in der Ukraine entweder übersetzt oder selbst geschrieben haben, wird historisch auf den Ersten Weltkrieg hingewiesen. Auch wenn es sich hierbei um einen imperialistischen Krieg handelt, denn alle Kriege des Kapitalismus haben diesen Charakter inne, es handelt sich zwar nicht um einen Weltkrieg, dieser wird aber weltweit/international geführt. Welche sind also die gewissen Parallelismen, auf die immer wieder hingewiesen wird, auf die viele Gruppen aufmerksam machen, bzw., kritisieren? Nämlich die konterrevolutionäre Rolle, die gewisse anarchistische Gruppen, sowie andere Gruppen, die die Linke des Kapitals repräsentieren, in diesem Krieg, wenn auch minimal und irrelevant, spielen. Mag diese Rolle zwar minimal und irrelevant sein, da diese aber mit anarchistischen Prinzipien als Argument gerechtfertigt wird, ist der Charakter darin ein anderer. Dem Versuch aus den Ideen des Anarchismus heraus, die Beteiligung am Krieg zu rechtfertigen, vor allem in der Rolle den ukrainischen Staat zu schützen, steht daher die Kritik die viele, wir eingeschlossen, formulieren und die, wie gesagt, diesen konterrevolutionären Zug angreifen, entgegen. Im Ersten Weltkrieg geschah dasselbe, als das sogenannte infame und verräterische Manifest der Sechzehn – damit man sehen kann das Reformismus, Reaktion, Konterrevolution, usw., leider dem Anarchismus nicht fremd sind – von einigen wenigen veröffentlicht wurde und diese sich auf die Seite der Alliierten stellten (damals noch das Britische Empire, Frankreich mit all seinen Kolonien vor allem in Afrika, Belgien mit all seinen Kolonien in Afrika, das Russische Zarenreich und später Italien).
Dies löste eine internationale Debatte innerhalb der anarchistischen Bewegung aus von einem Ausmaß, welches wir uns heutzutage gar nicht vorstellen können, die diese Verräter des Anarchismus aus der Geschichte wegfegte. Ihre Namen und ihr Ruf war für immer mit Schande verbunden, denn wie jeder weiß: keiner will Verräter und Verräterinnen auf der eigenen Seite. Da sich auf dieser Ebene vieles wiederholt, haben wir, inspiriert von einer Broschüre die von Elephant Editions veröffentlicht wurde, drei Texte von Errico Malatesta und das infame und verräterische Manifest der Sechszehn hier neu veröffentlicht. Die Texte erschienen von 1914 bis 1922.
Wir haben alle Texte, die schon übersetzt waren, übernommen, auch wenn wir mit der Auswahl der übersetzten Wörter nicht einverstanden sind, sei es drum, nur der letzte Text ist von uns übersetzt worden, nämlich Reformisten oder Insurrektionalisten? von Malatesta.
Wir fanden die Texte von Malatesta nach wie vor sehr aktuell und gegenwärtig, da sich eben gewisse Ereignisse wiederholen, die einen an den Ersten Weltkrieg und zum Teil auch an den Zweiten erinnern. Wir wiederholen es, damit es keine Missverständnisse gibt, nämlich die eingenommene Rolle einiger (wir bezweifeln, dass sie überhaupt welche sind oder je waren) Anarchistinnen und Anarchisten sowie deren Befürworter. Sind also die Fragen und die Schlüsse, die Malatesta gestellt und gezogen hat, noch aktuell, bedeutet dies, dass eine anarchistische Bewegung entweder aus ihrer Geschichte nicht lernen kann, oder genauso schlimm sie nicht mal kennt. Wie es auch sei, hier ein weiterer Beitrag von unserer Seite aus für eine Diskussion-Kritik gegen alle reaktionären und konterrevolutionären Gruppen und Individuen die sich als anarchistisch geben und es nicht sind.
Gegen die Kriege des Kapitalismus hilft nur Klassenkrieg, sozialer Krieg, Insurrektion/Aufstand und soziale Revolution. Wir haben kein Vaterland, wir sind Parias, wir werden keine eigene noch fremde herrschende Klasse verteidigen, es gilt sie alle anzugreifen und zu zerstören.
Soligruppe für Gefangene
Errico Malatesta, Anarchisten haben ihre Prinzipien vergessen (1914)
Ursprünglich veröffentlicht unter dem Titel »Anarchists have forgotten their Principles« in der Zeitschrift Freedom (London), Nummer 307 (November 1914).
Auf die Gefahr hin, als Einfaltspinsel zu gelten, gestehe ich, es niemals für möglich gehalten zu haben, dass Sozialisten – oder selbst Sozialdemokraten – einem Krieg wie dem gegenwärtig Europa verwüstenden Beifall spenden und freiwillig, sei es auf der Seite Deutschlands oder der Alliierten, an ihm teilnehmen würden. Was aber soll man sagen, wenn Anarchisten dasselbe tun – zwar nicht viele, das stimmt, darunter jedoch einige der geschätztesten und angesehensten Genossen?1
Es wird behauptet, die gegenwärtige Situation offenbare den Bankrott »unserer Formeln« – d.h. unserer Prinzipien – und man müsse sie revidieren.
Allgemein gesprochen muss jede Formel revidiert werden, wenn die gegebenen Fakten sie als unzureichend erweisen; doch das ist heute nicht der Fall, wo nicht etwa Mängel unserer Formeln, sondern die Tatsache, dass sie vergessen und verraten wurden, zu einem Bankrott führen.
Lasst uns zu unseren Prinzipien zurückkehren.
Ich bin kein »Pazifist«. Ich kämpfe, wie wir alle, für den Triumph von Frieden und Brüderlichkeit unter allen Menschen; doch ich weiß, dass der Wunsch, nicht zu kämpfen, nur dann erfüllt werden kann, wenn keine Seite dies tun möchte, und dass, solange es Menschen gibt, die die Freiheiten anderer verletzen, diese anderen sich verteidigen müssen, wenn sie nicht ewig geschlagen werden wollen; und ebenso weiß ich, dass Angriff häufig die beste, oder einzige, Verteidigung ist. Außerdem denke ich, dass die Unterdrückten immer in einer Situation legitimer Selbstverteidigung sind und immer das Recht haben, die Unterdrücker anzugreifen. Ich räume deshalb ein, dass es notwendige, heilige Kriege gibt: Kriege der Befreiung, die in der Regel »Bürgerkriege«, d.h. Revolutionen sind.
Doch was hat der gegenwärtige Krieg mit der menschlichen Emanzipation gemein, um die es uns geht?
Heute hören wir, wie Sozialisten – nicht anders als irgendein Bürger – von »Frankreich«, »Deutschland« und anderen politischen und nationalen Gebilden, die das Ergebnis historischer Kämpfe sind, so reden, als wären es homogene ethnographische Einheiten mit jeweils eigenen Interessen, Bestrebungen und eigener Mission, die im Gegensatz zu denen der rivalisierenden Einheiten stehen. Dies mag relativ gesehen stimmen, solange die Unterdrückten, namentlich die Arbeiter, kein Selbstbewusstsein haben und die Ungerechtigkeit ihrer Unterdrücker nicht zu erkennen vermögen. Dann kommt es allein auf die herrschende Klasse an; und aufgrund des Bedürfnisses, ihre eigene Macht zu erhalten und zu vergrößern, ja sogar aufgrund eigener Vorurteile und Auffassungen mag es dieser Klasse gelegen scheinen, rassische Bestrebungen und Rassenhass zu entfachen und ihre Nation, ihre Herde, gegen »fremde« Länder in Marsch zu setzen, um diese ihren gegenwärtigen Unterdrückern zu entwinden und der eigenen politisch-ökonomischen Herrschaft zu unterwerfen.
Doch die Aufgabe derer, die wie wir das Ende jeglicher Unterdrückung und Ausbeutung des Menschen durch den Menschen anstreben, besteht darin, ein Bewusstsein des Interessenantagonismus zwischen Herrschern und Beherrschten, zwischen Ausbeutern und Arbeitern zu wecken und innerhalb jedes Landes den Klassenkampf sowie die grenzüberschreitende Solidarität aller Arbeiter zu entfalten, gegen jegliches Vorurteil und jegliche Begeisterung für Rasse oder Nationalität.
Und wir haben dies schon immer getan. Wir haben immer propagiert, dass die Arbeiter aller Länder Brüder sind und dass der Feind – der »Fremde« – der Ausbeuter ist, ob er nun in der Nähe oder in einem fernen Land geboren ist, ob er dieselbe Sprache oder irgendeine andere spricht. Wir haben unsere Freunde, unsere Kampfgefährten, ebenso wie unsere Feinde immer nach den von ihnen vertretenen Ideen und ihrer Position im sozialen Kampf, niemals aber mit Blick auf Rasse oder Nationalität bestimmt. Wir haben den Patriotismus, ein Relikt der Vergangenheit, das den Interessen der Unterdrücker gute Dienste leistet, immer bekämpft; und wir waren stolz darauf, nicht nur in Worten, sondern im Tiefsten unserer Seele Internationalisten zu sein.
Und nun, da die grauenvollsten Folgen kapitalistischer und staatlicher Herrschaft selbst den Blinden zeigen, dass wir im Recht waren, verbünden sich die Sozialisten und viele Anarchisten in den kriegführenden Staaten mit der Regierung und der Bourgeoisie ihres jeweiligen Landes, vergessen sie den Sozialismus, den Klassenkampf, die internationale Brüderlichkeit und alles übrige. Welch‘ tiefer Fall!
Es mag sein, dass die gegenwärtigen Ereignisse gezeigt haben, dass nationale Gefühle lebendiger, Gefühle internationaler Bruderschaft hingegen schwächer verwurzelt sind, als wir dachten; aber das sollte ein Grund mehr sein, unsere antipatriotische Propaganda zu verstärken, anstatt sie aufzugeben. Die Ereignisse zeigen auch, dass etwa in Frankreich religiöse Gefühle stärker und Priester einflussreicher sind, als wir meinten. Ist das ein Grund dafür, dass wir zum römischen Katholizismus konvertieren?
Mir ist bewusst, dass es Umstände geben kann, unter denen das allgemeine Wohl die Hilfe aller erfordert – etwa eine Epidemie2, ein Erdbeben oder eine Invasion von Barbaren, die alles töten und zerstören, was in ihre Hände gerät. In einem solchen Fall muss der Klassenkampf, müssen die Unterschiede in der sozialen Stellung vergessen werden, um gemeinsam gegen die gemeinsam erfahrene Bedrohung vorzugehen – allerdings unter der Bedingung, dass beide Seiten diese Unterschiede vergessen. Wenn sich während eines Erdbebens Menschen in einem Gefängnis befinden und bei dessen Einsturz ums Leben zu kommen drohen, dann haben wir die Pflicht, alle, selbst die Wärter, zu retten – unter der Bedingung, dass die Wärter ihrerseits zunächst die Zellentüren aufschließen. Treffen sie dagegen alle Vorkehrungen, um die Inhaftierung der Gefangenen während und nach der Katastrophe sicherzustellen, dann haben die Gefangenen gegenüber sich selbst und ihren inhaftierten Gefährten die Pflicht, die Wärter ihrem Schicksal zu überlassen und die Gelegenheit zu nutzen, sich selbst zu retten.
Kommt es zu einer Invasion des heiligen Bodens des Vaterlands durch ausländische Soldaten und sollte die privilegierte Klasse ihre Privilegien aufgeben und so handeln, dass das »Vaterland« tatsächlich das gemeinsame Eigentum aller Einwohner wird, dann wäre es richtig, dass alle gemeinsam gegen die Invasoren kämpfen. Wollen die Könige aber Könige bleiben, die Grundbesitzer ihr Land und ihre Häuser retten und die Händler ihre Güter schützen – und sogar noch teurer verkaufen -, dann sollten die Arbeiter, die Sozialisten und Anarchisten sie sich selbst überlassen und nach einer Gelegenheit Ausschau halten, sich der Unterdrücker im eigenen Land ebenso zu entledigen wie der aus dem Ausland anrückenden.
Es ist unter allen Umständen die Pflicht der Sozialisten, und besonders der Anarchisten, alles zu tun, was den Staat und die kapitalistische Klasse schwächen kann, und allein das Interesse des Sozialismus zur Richtschnur des Handelns zu machen; oder, sofern sie der materiellen Machtmittel entbehren, um wirkungsvoll für ihre Sache einzutreten, wenigstens der Sache des Feindes jede freiwillige Unterstützung zu verweigern und sich aus dem Geschehen herauszuhalten, um zumindest ihre Prinzipien zu retten – was gleichbedeutend damit ist, die Zukunft zu retten.
Alles bisher Gesagte ist Theorie, und als Theorie akzeptieren es vielleicht auch die meisten derer, die in der Praxis das genaue Gegenteil tun. Wie also kann man es auf die gegenwärtige Situation beziehen? Was sollten wir tun, worauf sollten wir – im Interesse unserer Sache – hoffen?
Ein Sieg der Alliierten, so heißt es auf dieser Seite des Rheins, wäre das Ende des Militarismus, der Triumph der Zivilisation, der internationalen Gerechtigkeit etc. Dasselbe wird auf der anderen Seite der Front über einen deutschen Sieg gesagt.
Persönlich habe ich, wenn ich den »tollwütigen Hund« von Berlin und den »alten Henker« von Wien nüchtern beurteile, nicht mehr Vertrauen in den blutrünstigen Zar oder in die englischen Diplomaten, die Indien unterdrücken, die Persien verrieten, die die Burenrepubliken zerschlagen haben; oder in die französische Bourgeoisie, die die Eingeborenen Marokkos massakriert hat; oder in die belgische, die die Grausamkeiten im Kongo zugelassen und erheblich davon profitiert hat – und ich erinnere hier nur an einige beliebig ausgewählte ihrer Untaten, und rede gar nicht von dem, was alle Regierungen und alle kapitalistischen Klassen gegen die Arbeiter und Rebellen im eigenen Land tun. Meines Erachtens würde ein Sieg Deutschlands gewiss den Triumph von Militarismus und Reaktion bedeuten; doch ein Sieg der Alliierten würde eine russisch-englische (d.h. knuto-kapitalistische) Herrschaft in Europa und Asien, würde die allgemeine Wehrpflicht und die Entwicklung eines militaristischen Geistes in England sowie eine klerikale, möglicherweise monarchistische Reaktion in Frankreich bedeuten.
Außerdem ist es meines Erachtens sehr wahrscheinlich, dass keine der Seiten einen definitiven Sieg erringen wird. Nach einem langen Krieg und gewaltigem Verlust an Menschenleben und Vermögen, wenn beide Seiten erschöpft sind, wird man irgendeinen Friedensvertrag zusammenflicken, der alle Fragen offen lässt und dergestalt einem neuen, noch mörderischeren Krieg den Boden bereitet.3
Die einzige Hoffnung heißt Revolution; und da ich in Anbetracht der gegenwärtigen Lage denke, dass die Revolution aller Wahrscheinlichkeit nach zuerst in einem besiegten Deutschland ausbrechen würde, hoffe ich aus diesem Grund – und nur aus diesem Grund – auf die Niederlage Deutschlands.
Ich mag natürlich im Irrtum sein über die richtige Position. Doch für alle Sozialisten (Anarchisten und andere) elementar und grundlegend zu sein scheint mir die Notwendigkeit, sich von jeglichem Kompromiss mit den Regierungen und den herrschenden Klassen fernzuhalten, um in der Lage zu sein, jede sich möglicherweise bietende Gelegenheit zum eigenen Vorteil nutzen, und in jedem Fall, um unsere Vorbereitungen und Propaganda für die Revolution neu aufzunehmen und fortzusetzen.
Errico Malatesta, Anarchisten als Regierungsbefürworter (1916)
Veröffentlicht unter dem Titel »Pro-Government Anarchists« in der Zeitschrift Freedom (London), Nummer 324 (April 1916).
Unlängst ist ein Manifest4 erschienen, unterzeichnet von Kropotkin, Malato und einem Dutzend weiterer alter Genossen, in dem sie, genau wie die Regierungen der Entente, die einen Kampf bis zum Äußersten, bis zur Niederwerfung Deutschland fordern, gegen die Idee eines »verfrühten Friedens« Stellung bezogen. Die kapitalistische Presse veröffentlicht, mit sichtlicher Befriedigung, Auszüge aus diesem Manifest, das sie als Werk »führender Vertreter der internationalen anarchistischen Bewegung« ausgibt. Die Anarchisten, die fast durchweg ihren Überzeugungen treu geblieben sind, haben die Pflicht, gegen diesen Versuch zu protestieren, den Anarchismus für die Fortsetzung eines blutigen Gemetzels zu vereinnahmen, das nie zu der Hoffnung Anlass gab, die Sache von Freiheit und Gerechtigkeit zu fördern und das sich inzwischen als absolute Sackgasse erweist, selbst aus Sicht der Herrschenden, egal, auf welcher Seite des Schützengrabens sie stehen.
Die Aufrichtigkeit und die guten Absichten derer, die das Manifest unterzeichnet haben, stehen außer Frage. Doch so schmerzlich es sein mag, sich mit alten Freunden zu Überwerfen, die der Sache, die in der Vergangenheit einmal unsere gemeinsame war, so viele gute Dienste erwiesen haben, so es ist es dennoch – aus Gründen der Ehrlichkeit und im Interesse unserer emanzipatorischen Bewegung – unerlässlich, sich von Genossen zu trennen, die anarchistische Ideen für vereinbar halten mit der Tatsache, dass man die Regierungen und die Kapitalistenklasse mancher Länder in ihrem Kampf gegen die Kapitalisten und Regierenden anderer Länder unterstützt.
Im Laufe des gegenwärtigen Krieges haben wir gesehen, wie sich Republikaner in den Dienst von Königen stellten, Sozialisten gemeinsame Sache mit der herrschenden Klasse machten, Arbeitervertreter den Interessen von Kapitalisten dienten; doch diese Leute sind allesamt, in unterschiedlichem Ausmaß, Konservative, die an die Mission des Staates glauben, und ihr Zögern ist verständlich, wenn man bedenkt, dass der einzige Ausweg in der Beseitigung jeder staatlichen Gängelung, in der Entfesselung der sozialen Revolution besteht. Doch auf Seiten der Anarchisten ist ein solches Zögern unverständlich. Wir behaupten, dass der Staat unfähig ist, irgendetwas Gutes zu bewirken. Sowohl auf internationaler Ebene als auch in individuellen Beziehungen kann er Aggression nur bekämpfen, indem er selbst zum Aggressor wird; er kann das Verbrechen nur verhindern, indem er noch größere Verbrechen organisiert und begeht. Selbst angenommen – was weit von der Wahrheit entfernt ist -, dass Deutschland die Alleinschuld für den gegenwärtigen Krieg trägt, so ist erwiesen, dass man Deutschland, wenn man Regierungsmethoden befolgt, nur widerstehen kann, indem man alle Freiheiten beseitigt und allen Kräften der Reaktion ihre Macht zurückerstattet.
Abgesehen von einer revolutionären Massenbewegung gibt es keinen anderen Weg, der Bedrohung durch eine disziplinierte Armee zu widerstehen, als eine noch stärkere und noch diszipliniertere Armee aufzustellen, sodass die entschiedensten Antimilitaristen, sofern sie keine Anarchisten sind und vor der Zerstörung des Staates zurückschrecken, keine andere Wahl haben, als zu glühenden Militaristen zu werden. Tatsächlich haben sie, in der fragwürdigen Hoffnung, den preußischen Militarismus zu zerschlagen, jeden Freiheitsgeist und alle freiheitlichen Traditionen aufgegeben, haben England und Frankreich verpreußt, haben sich dem Zarismus unterworfen, haben das Prestige des wankenden italienischen Throns wiederhergestellt.
Können Anarchisten auch nur einen Moment lang einen solchen Zustand billigen, ohne jegliches Recht verwirkt zu haben, sich Anarchisten zu nennen? Was mich betrifft, so ist mir selbst die gewaltsam aufgezwungene Fremdherrschaft, gegen die sich Widerstand regt, noch lieber als die Unterdrückung im Inneren, die demütig, fast dankbar ertragen wird, in der Hoffnung, dass uns auf diesem Wege ein größeres Übel erspart bleibt. Es ist sinnlos, wie die Verfasser und Unterzeichner des fraglichen Manifestes, zu behaupten, dass ihre Haltung durch außergewöhnliche Umstände bedingt sei und dass, wenn der Krieg erst einmal vorbei ist, jeder in sein Lager zurückkehren und für sein eigenes Ideal kämpfen wird. Denn wenn es jetzt notwendig ist, einträchtig mit der Regierung und dem Kapitalismus zusammenzuarbeiten, um sich vor der »teutonischen Gefahr« zu schützen, wird es auch nach dem Krieg notwendig sein. Egal, wie vernichtend die Niederlage der deutschen Armee ausfällt – sofern sie überhaupt geschlagen wird -, es wird niemals möglich sein, die deutschen Patrioten davon abzuhalten, auf Rache zu sinnen und sie vorzubereiten. Und die Patrioten anderer Regionen werden sich, aus ihrer Sicht vollkommen zu Recht, bereit halten wollen, um sich nicht überrumpeln zu lassen. Das bedeutet, dass der preußische Militarismus eine stehende und dauerhafte Einrichtung in allen Ländern wird. Was werden dann die angeblichen Anarchisten sagen, die jetzt den Sieg einer der kriegführenden Allianzen herbeiwünschen? Werden sie, wenn sie sich Antimilitaristen nennen, für Abrüstung, Wehrdienstverweigerung, Sabotage der Landesverteidigung eintreten, nur um sich beim geringsten Anzeichen eines neuen Krieges in Werbeoffiziere der Regierungen zu verwandeln, die sie zuvor hatten entwaffnen und lahmlegen wollen?
Es heißt, dergleichen würde sich erübrigen, wenn das deutsche Volk sich seiner Tyrannen entledigen würde und durch die Beseitigung des Militarismus in seinem Land keine Bedrohung ihr Europa mehr wäre. Doch würden die Deutschen nicht in der berechtigten Überzeugung, dass eine englische und französische Herrschaft (vom zaristischen Russland ganz zu schweigen) für die Deutschen nicht angenehmer wäre als eine deutsche Herrschaft über Franzosen und Engländer, gegebenenfalls lieber abwarten wollen, dass die Russen und die anderen ihren eigenen Militarismus abschaffen und bis dahin ihre Armee weiter aufrüsten? Und was dann? Wie lange soll man die Revolution aufschieben? Und die Anarchie? Müssen wir ewig warten, dass die anderen anfangen?
Die Maxime ihres Handelns ist den Anarchisten durch die unerbittliche Logik ihrer Ziele eindeutig vorgegeben.
Der Krieg hätte durch die Revolution verhindert werden müssen oder zumindest durch die Angst der Regierungen vor einer drohenden Revolution. Die Stärke und das Geschick, die dazu notwendig gewesen wären, haben gefehlt. Der Frieden muss durch die Revolution erzwungen werden, oder zumindest durch den Versuch, sie herbeizuführen. Dazu fehlt es derzeit wiederum an Stärke und Geschick. Nun gut! Es gibt nur einen Ausweg: es in der Zukunft besser zu machen. Mehr denn je müssen wir jeden Kompromiss ablehnen, die Kluft zwischen Kapitalisten und Lohnsklaven, Regierenden und Regierten vertiefen, die Enteignung des Privateigentums und die Zerstörung des Staates propagieren, als einzige Mittel, um ein brüderliches Zusammenleben der Völker sowie Freiheit und Gerechtigkeit für alle zu garantieren. Und wir müssen uns darauf vorbereiten, all das auch zu bewerkstelligen. Bis dahin halte ich es für ein Verbrechen, auch nur das Geringste zu unternehmen, was diesen Krieg verlängern könnte, der Menschen mordet, Wohlstand vernichtet und das Wiederaufleben des Kampfes um Befreiung verhindert. Ich denke, dass wer einen »Krieg bis zum Äußersten« propagiert, in Wahrheit das Spiel der Regierenden in Deutschland betreibt, die ihre Untertanen täuschen und ihren Kampfesmut anstacheln, indem sie ihnen einreden, ihre Gegner wollten das deutschen Volk unterwerfen und knechten.
Jetzt, wie seit jeher, muss unsere Devise lauten: >Nieder mit den Kapitalisten und den Regierungen, allen Kapitalisten und allen Regierungen!< Und die Völker sollen leben, alle Völker! …
Manifest der Sechzehn (1916)
Christian Comelissen, Henri Fuss, Jean Grave, Jacques Guérin, Peter Kropotkin, Charles Malato
Von verschiedenen Seiten werden Stimmen laut, die einen sofortigen Frieden fordern. „Genug des Blutvergießens, genug der Zerstörung“, heißt es, „es ist Zeit, damit aufzuhören, auf welche Weise auch immer“. Mehr als irgendjemand sonst, und das seit langem, sind wir, in unseren Zeitungen, gegen jeden Angriffskrieg zwischen Staaten eingetreten, und gegen jeden Militarismus, egal, ob er den Helm des Kaisers oder den der Republik trägt. Und wir wären im höchsten Maße beglückt, wenn die Arbeiter Europas auf einem internationalen Kongress die Bedingungen für einen Frieden diskutieren würden – wenn so etwas möglich wäre. Zumal sich das deutsche Volk im August 1914 hat täuschen lassen, und auch wenn es wirklich geglaubt hat, für die Verteidigung seines Territoriums mobilisiert zu werden, so hatte es mittlerweile Zeit genug, um zu bemerken, dass man es betrogen und stattdessen in einen Eroberungskrieg geworfen hat.
Tatsächlich sollten die deutschen Arbeiter, zumindest in ihren mehr oder weniger fortschrittlichen Gruppierungen, inzwischen verstanden haben, dass die Pläne zur Invasion Frankreichs, Belgiens und Russlands von langer Hand vorbereitet waren und dass, wenn dieser Krieg nicht 1875, 1880, 1911 oder 1913 ausgebrochen ist, es daran lag, dass die internationalen Beziehungen zu dieser Zeit noch keine so günstigen Voraussetzungen boten und die militärischen Vorbereitungen noch nicht weit genug vorangeschritten waren, um Deutschland die Aussicht auf einen Sieg zu eröffnen (Vervollständigung der strategischen Linien, Ausbau des Nordostseekanals, Perfektionierung der großen Belagerungsgeschütze). Und jetzt, nach zwanzig entsetzlich verlustreichen Monaten Krieg sollte ihnen bewusst sein, dass die deutsche Armee ihre Eroberungen nicht wird behaupten können. Zumal der Grundsatz zu berücksichtigen ist (den Frankreich schon 1859, nach der Niederlage Österreichs, anerkannt hat), dass es der Bevölkerung jedes Territoriums selbst obliegt, darüber zu entscheiden, ob sie annektiert werden möchte oder nicht.
Wenn die deutschen Arbeiter beginnen, die Situation so zu verstehen, wie wir es tun, und wie bereits jetzt eine kleine Minderheit ihrer Sozialdemokraten sie versteht5 – und wenn es ihnen gelingt, sich bei ihren Regierenden Gehör zu verschaffen –, dann könnte es eine Ebene der Verständigung geben, um mit Friedensverhandlungen zu beginnen. Doch dazu müssten sie erklären, dass sie Annexionen absolut ablehnen; dass sie auf das Vorhaben verzichten, von den eroberten Nationen „Kontributionen“ zu erheben; dass sie die Pflicht des deutschen Staates anerkennen, die materiellen Schäden, die von den Invasoren bei ihren Nachbarn angerichtet wurden, im Rahmen des Möglichen zu beheben, und dass sie nicht die Absicht hegen, sie durch sogenannte Handelsverträge ökonomisch zu unterwerfen. Leider sind bisher keine Anzeichen eines solchen Erwachens seitens des deutschen Volkes zu erkennen.
Es war von der Zimmerwalder Konferenz6 die Rede, doch auf dieser Konferenz fehlte das Wesentliche: eine Vertretung der deutschen Arbeiter7. Man hat auch viel Aufhebens von einigen Unruhen gemacht, die in Deutschland wegen der hohen Lebensmittelpreise ausgebrochen sind. Dabei wird vergessen, dass es in allen großen Kriegen zu solchen Unruhen kam, ohne dass sie Einfluss auf deren Dauer hatten. Außerdem weisen alle derzeit von der deutschen Regierung getroffenen Maßnahmen darauf hin, dass sie neue Offensiven für das Frühjahr plant. Da sie aber auch weiß, dass die Alliierten ihr im Frühjahr mit neuen, besser ausgerüsteten Armeen und einer viel stärkeren Artillerie als zuvor gegenüberstehen werden, arbeitet sie auch daran, Zwietracht in den Bevölkerungen der alliierten Länder zu säen. Und sie setzt dafür ein Mittel ein, das so alt ist wie der Krieg selbst: das Verbreiten von Gerüchten über einen bevorstehenden Frieden, dem sich auf Seiten des Gegners nur die Militärs und die Waffenlieferanten widersetzen würden. Eben darum bemühte sich Bülow mit seinen Sekretären während seines letzten Aufenthalts in der Schweiz.
Doch was sind seine Bedingungen für einen Friedensschluss?
Die Neue Züricher Zeitung glaubt zu wissen, und die regierungsamtliche Norddeutsche Zeitung widerspricht ihr nicht, dass ein Großteil Belgiens geräumt würde, allerdings nur unter der Bedingung, dass das Land Garantien abgibt, dass es sich nicht nochmals, wie im August 1914, dem Durchmarsch deutscher Truppen widersetzt. Was wären das für Garantien? Die belgischen Kohlegruben? Der Kongo? Davon verlautet nichts. Doch bereits jetzt wird eine hohe jährliche Kontribution erhoben. Die eroberten Territorien in Frankreich würden zurückgegeben, ebenso der französischsprachige Teil Lothringens. Doch im Gegenzug müsste Frankreich dem deutschen Staat alle russischen Anleihen überlassen, deren Wert sich auf achtzehn Milliarden beläuft. Mit anderen Worten, eine Kontribution von achtzehn Milliarden, die von den französischen Land- und Industriearbeitern aufzubringen wären, weil sie die Steuerzahler sind. Achtzehn Milliarden für den Rückkauf von zehn Departements, die dank ihrer Hände Arbeit so reich und prosperierend waren und die sie ruiniert und verwüstet zurückerhalten…
Und wenn man wissen will, was man in Deutschland über die Friedensbedingungen denkt, so ist eines sicher: die bürgerliche Presse bereitet die Nation auf den Gedanken vor, Belgien und die französischen Norddepartements schlicht und einfach zu annektieren. Und es gibt in Deutschland keine Kraft, die dagegen Widerstand leisten würde. Die Arbeiter, die ihre Stimme gegen diese Eroberungen hätten erheben müssen, tun es nicht. Die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter lassen sich von der Welle imperialistischer Begeisterung mitreißen und die sozialdemokratische Partei, die trotz ihres Massenanhangs zu schwach ist, um in allem, was den Frieden betrifft, Einfluss auf die Entscheidungen der Regierung zu nehmen, ist in dieser Frage in zwei verfeindete Lager gespalten, wobei die Parteimehrheit auf Seiten der Regierung steht. Das deutsche Reich sieht angesichts der Tatsache, dass seine Armeen seit achtzehn Monaten 90 Kilometer vor Paris stehen und dass es in seinem Traum von neuen Eroberungen vom deutschen Volk unterstützt wird, keinerlei Veranlassung, warum es aus seinen bisherigen Eroberungen keinen Nutzen ziehen sollte. Es glaubt sich in der Lage, Friedensbedingungen diktieren zu können, die ihm ermöglichen würden, mit den neuen Milliarden an Kontributionen weiter aufzurüsten, um Frankreich bei passender Gelegenheit erneut anzugreifen, ihm seine Kolonien und weitere Provinzen zu entreißen, ohne seinen Widerstand noch fürchten zu müssen.
Gerade jetzt von Frieden zu sprechen, hieße genau, das Spiel der deutschen Regierungspartei zu betreiben, das von Bülow und seiner Agenten.
Wir hingegen weigern uns strikt, die Illusionen mancher unserer Genossen zu teilen, was die friedlichen Absichten derer angeht, die die Geschicke Deutschlands lenken. Wir ziehen es vor, der Gefahr ins Auge zu blicken und zu unternehmen, was notwendig ist, um sie abzuwenden. Diese Gefahr zu ignorieren hieße, sie zu vergrößern.
Unserer tiefsten Überzeugung nach ist die deutsche Aggression eine – in die Tat umgesetzte – Bedrohung nicht nur unserer Emanzipationshoffnungen, sondern der menschlichen Entwicklung schlechthin. Deshalb haben wir Anarchisten, wir Antimilitaristen, wir Kriegsgegner, wir leidenschaftlichen Befürworter des Friedens und des brüderlichen Miteinanders der Völker, uns auf die Seite des Wiederstandes gestellt, in dem Glauben, unser Schicksal nicht von dem der übrigen Bevölkerung trennen zu dürfen. Wir halten es für überflüssig zu betonen, dass wir es lieber gesehen hätten, dass diese Bevölkerung ihre Selbstverteidigung in die eigenen Hände nimmt. Da dies unmöglich war, blieb nur, sich in das Unabänderliche zu fügen. Und mit denen, die kämpfen, sind wir der Meinung, dass solange die deutsche Bevölkerung nicht zu vernünftigeren Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit zurückkehrt und endlich aufhört, sich als Werkzeug pangermanischer Herrschaftspläne missbrauchen zu lassen, von Frieden keine Rede sein kann. Trotz des Krieges, trotz des Gemetzels haben wir natürlich nicht vergessen, dass wir Internationalisten sind, dass wir die Einheit der Völker wollen, das Verschwinden der Grenzen. Und gerade, weil wir die Versöhnung der Völker, einschließlich des deutschen Volkes, wollen, sind wir der Auffassung, dass man einem Aggressor widerstehen muss, der die Auslöschung all unserer emanzipatorischen Hoffnungen verkörpert.
Von Frieden zu sprechen, so lange die Partei, die Europa seit fünfundvierzig Jahren8 in ein befestigtes Heerlager verwandelt, in der Lage ist, ihre Bedingungen zu diktieren, wäre der schlimmste Fehler, den man begehen könnte. Widerstand zu leisten und ihre Pläne zum Scheitern zu bringen, heißt, dem vernünftig gebliebenen Teil der deutschen Bevölkerung den Weg zu bereiten und ihm die Möglichkeit zu verschaffen, sich dieser Partei zu entledigen. Mögen unsere deutschen Genossen einsehen, dass dies die einzige, für beiden Seiten vorteilhafte Lösung ist, dann sind wir bereit, mit ihnen zusammenzuarbeiten – 28. Februar 1916.
Christian Cornelissen9, Henri Fuss10, Jean Grave11, Jacques Guérin12, Peter Kropotkin, A. Laisant13, F. Le Lève (Lorient)14, Charles Malato15, Jules Moineau (Lüttich)16, Ant. Orfila (Husseindey, Algerien), M. Pierrot17, Paul Reclus18, Richard (Algerien)19, Ichikawa (Japan)20, W. Tscherkesoff21
Reformisten oder Insurrektionalisten? Errico Malatesta (1922)22
Offensichtlich glauben Herr Zirardini und seine applaudierenden Gefährten, dass man die populäre Stimmung bewegen und manövrieren kann wie ein elektrisches Gerät, das mit einem Schalter gesteuert wird: Stopp, vorwärts, rückwärts usw.
Eines Tages wollen sie, dass die Arbeiter ruhig sind und nur daran denken, sie in die Parlamente und Gemeinderäte zu schicken, und sie predigen gegen die Gewalt, gegen die insurrektionalistische Illusion und für eine langsame, schrittweise, sichere Entwicklung, für die legale Eroberung der öffentlichen Macht.
Dann kommen die Schläge, die Brände, die faschistischen Morde, um auch den Blinden zu zeigen, dass die Legalität nichts bringt, denn auch wenn sie in manchen Fällen für die Unterdrückten günstig ist, scheuen die Unterdrücker nicht davor zurück, sie zu verletzen und durch die grausamste Gewalt zu ersetzen; aber unsere guten Sozialisten geben sich Mühe, dass die Arbeiter die Provokationen nicht auf sich nehmen und sich des „Heldentums der Geduld“ rühmen.
Schließlich werden die Schläge zu stark und treffen auch die Schultern der Anführer, die gesamte Organisation, insbesondere die genossenschaftliche Organisation der Sozialisten, steht vor der Zerstörung, die Situation wird selbst für die Anführer unerträglich, und so rufen sie zur Insurrektion auf!
Begreifen diese Herren, begreift Zirardini nicht, dass es lächerlich ist, zu hoffen, dass sie diejenigen, die sie fünfzig Jahre lang zu Schafen gemacht haben, plötzlich in Löwen verwandeln können? Und denken sie nicht, mit welchem spöttischen Lächeln und Misstrauen sie einen Aufruf zur Insurrektion begrüßen werden, der von jenen Arbeitern ausgeht, die sie nicht entmachtet haben?
Und außerdem, wer könnte sie ernst nehmen, wenn es derselbe Zirardini ist, der mit einer möglichen Insurrektion droht, der die Zusammenarbeit der Sozialisten mit den antifaschistischen bourgeoisen Parteien vorschlägt, d.h. der eine weitere Illusion, eine weitere Täuschung vorbringt, die darauf abzielt, die Arbeiter in der Hoffnung ruhig zu halten, dass die Rettung von der Regierung kommen wird, ohne dass sie sich selbst anstrengen müssen?
Wir zweifeln nicht an der Gutgläubigkeit von irgendjemandem, aber es scheint uns eine einzigartige Verirrung, ein unglaubliches Missverständnis der Psychologie von Individuen und Massen zu sein, zu denken, dass man gleichzeitig an legale Mittel glauben und auf sie hoffen kann und gleichzeitig bereit ist, zu illegalen Mitteln zu greifen; sich für Wahlen zu begeistern und sich für eine Insurrektion vorzubereiten. Das mag in den Reden von Enrico Ferri über die „zwei Beine“, auf denen der Sozialismus geht, möglich erscheinen, aber es wird durch alle historischen Erfahrungen widerlegt, ebenso wie durch das Gewissen eines jeden, der ein wenig innehält, um sich selbst (A.d.Ü., kennen) zu lernen.
Wir erinnern uns zum Beispiel daran, einmal einem Vortrag des unaussprechlichen Misiano zugehört zu haben, in dem der damalige Abgeordnete, nachdem er von der unmittelbar bevorstehenden Revolution gesprochen und die Notwendigkeit einer technischen Vorbereitung betont hatte, auf die in sechs Monaten stattfindenden Kommunalwahlen zu sprechen kam und empfahl, die Listen schon jetzt aufzustellen und die Vorbereitung des Wahlkampfes mit Aktivität zu betreiben.
Könnt ihr euch vorstellen, dass jemand jeden Moment mit der Revolution rechnet und hart daran arbeitet, um darauf vorbereitet zu sein, und gleichzeitig für die Kommunalwahlen arbeitet, die sechs Monate später stattfinden sollen? Oder umgekehrt: Jemand, der hofft, ohne Risiko und ohne großen Aufwand mit einer einfachen Abstimmung wirksam zum gesellschaftlichen Wandel beitragen zu können, und dann sein Brot, seine Freiheit, sein Leben in einer insurrektionellen Aktion riskieren will?
Eine Wahl muss getroffen werden; und natürlich wählt die Mehrheit den Weg, der einfacher erscheint und der in allen Fällen keine Gefahr darstellt; aber dann stellen sie fest, dass sie auf Sand gebaut haben, und wenn die Reaktion kommt, haben sie keine moralischen und materiellen Kapazitäten, um zu widerstehen … und sie lassen sich schlagen und hungern.
Und wir haben ja gesehen, was passiert ist. Die Revolution wurde nicht gemacht, weil sie sie nicht machen wollten; stattdessen gab es Wahlen […].
Die Insurrektion wird kommen, sie muss kommen; aber sie wird sicher nicht von den Parlamentariern ausgehen… sie wird sich gegen sie richten.
Die Arbeiter müssen sich darauf vorbereiten, und dazu müssen sie sich von einer trügerischen Hoffnung auf die heutige oder künftige Regierung, auf die Abgeordneten und diejenigen, die es werden wollen, verabschieden.
Umanità Nova, n. 140, 18. Juni 1922
1Die vorliegende Stellungnahme hat zum Hintergrund den kriegsbefürwortenden Kurs mancher Anarchisten (vor allem) aus Malatestas Londoner Umfeld. Besonders nahe ging Malatesta dabei der Zusammenstoß mit seinem alten Freund Peter Kropotkin, über den er gegen Ende seines Lebens rückblickend schreibt: »[I]n der Tat gab es zwischen uns niemals eine ernsthafte Unstimmigkeit bis zu dem Tag, an dem sich im Jahre 1914 eine Frage praktischen Verhaltens stellte, die sowohl für mich als auch für ihn von grundlegender Bedeutung war: die Frage der Haltung nämlich, die die Anarchisten gegenüber dem Krieg einnehmen sollten. Bei dieser unseligen Gelegenheit erwachten und erstarkten bei Kropotkin seine alten Vorlieben für alles Russische oder Französische, und er erklärte sich zum leidenschaftlichen Anhänger der Entente. Er schien zu vergessen, daß er Internationalist, Sozialist und Anarchist war; er vergaß, was er selbst kurz zuvor über den Krieg gesagt hatte, den die Kapitalisten vorbereiteten. Er begann, die schlimmsten Staatsmänner und die Generäle der Entente zu bewundern, behandelte die Anarchisten, die sich weigerten, der Heiligen Allianz beizutreten, als Feiglinge und beklagte es, daß Alter und Gesundheit ihm untersagten, ein Gewehr zu nehmen und gegen Deutschland zu marschieren. Eine Verständigung war daher nicht möglich: für mich war es ein wirklich krankhafter Fall. Jedenfalls war es einer der schmerzhaftesten, tragischsten Momente meines Lebens (und ich wage zu sagen, auch des seinen), als wir nach einer außerordentlich mühseligen Diskussion wie Gegner, ja fast wie Feinde auseinandergingen.« (Peter Kropotkin. Erinnerungen und Kritik eines alten Freundes (1931), in: Errico Malatesta: Gesammelte Schriften. Band 2. Berlin: Karin Kramer Verlag, 1980: 56–66. Hier: S.58f.)
2Diese Anmerkung hat auch einen biographischen Hintergrund. So sind Malatesta und einige seiner Genossen im Jahr 1884 nach Neapel geeilt, wo die Cholera ausgebrochen war, um der Bevölkerung zu helfen.
3Dies lässt sich wohl als eine hellsichtige Vorwegnahme des Versailler Vertrags und der Entwicklung der Nachkriegszeit – hin zum Zweiten Weltkrieg – interpretieren.
4Veröffentlicht unter dem Titel »Pro-Government Anarchists« in der Zeitschrift Freedom (London), Nummer 324 (April 1916). Der Übersetzung liegt die Wiedergabe des Artikels in der von Sébastien Faure herausgebenen Encyclopédie anarchiste unter dem Stichwort »Seize (le manifeste des)« zugrunde. Das komplette Stichwort wurde aus dem Französischen übersetzt von Michael Halfbrodt und findet sich in: Andreas Hohmann (Hg.): Ehern, tapfer, vergessen. Die unbekannte Internationale. Lieh: Edition AV, 2014: 13–53. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Michael Halfbrodt und Andreas Hohmann. Im Februar 1916 wurde eine Erklärung, das berühmt berüchtigte »Manifest der Sechzehn« veröffentlicht, in dem sich führende Anarchisten für eine Weiterführung des Krieges gegen das Deutsche Reich aussprachen, sei doch »die deutsche Aggression eine – in die Tat umgesetzte – Bedrohung nicht nur unserer Emanzipationshoffnungen, sondern der menschlichen Entwicklung schlechthin«. Die Verfasser, unter anderem Jean Grave, Peter Kropotkin und Charles Malato, wandten sich damit auch gegen eine anarchistische Erklärung aus dem Jahre 1915 – »Die anarchistische Internationale und der Krieg« -, in der sich gleichermaßen gegen sämtliche am Krieg beteiligten Mächte ausgesprochen worden war. Malatesta war einer der Unterzeichner letzterer Erklärung. Siehe zu alledem (auch die jeweiligen Texte) in: Ham Day: Das Manifest der Sechzehn (1933), in: Andreas Hohmann (Hg.): Ehern, tapfer, vergessen. Die unbekannte Internationale. Lieh: Edition AV, 2014: 13–53.
5Nachdem mit Karl Liebknecht und Otto Rühle Ende 1914/Anfang 1915 die ersten SPD-Reichstagsabgeordneten die Bewilligung von Kriegskrediten abgelehnt hatten, bildete sich sowohl innerhalb der Partei als auch in der SPD-Parlamentsfraktion eine wachsende Opposition gegen den Krieg.
6Nach dem Tagungsort, dem schweizerischen Dorf Zimmerwald (nahe Bern) benannte sozialistische Konferenz vom 5.-8. September 1915, bei der Kriegsgegner aus verschiedenen sozialdemokratischen Parteien über die Aufkündigung der Burgfriedenspolitik und die Rückkehr zum Klassenkampf als Mittel zur Beendigung zur Krieges berieten.
7Das ist unrichtig. Tatsächlich war eine deutsche Delegation auf der Konferenz vertreten und zahlenmäßig neben den Exilrussen sogar die stärkste Fraktion.
8Gemeint ist: seit dem deutsch-französischen Krieg von 1870–1871.
9Christiaan Comelissen (1864–1942), holländischer Anarchosyndikalist, Herausgeber des mehrsprachigen „Bulletin International du Mouvement Syndicaliste“ (1907–1914), das eine wichtige Koordinationsfunktion für die internationale syndikalistische Bewegung hatte.
10Henri Fuss (1885–1964), Setzer und Journalist, vor dem Ersten Weltkrieg eine der aktivsten Figuren in der anarchistischen und syndikalistischen Bewegung Belgiens und Frankreichs.
11Jean Grave (1854–1939), Herausgeber der Zeitschriften „La Revolte“ (1885–1894) und „Les Temps nouveaux“ (1895–1914). Als Publizist und Propagandist kropotkinscher Ideen einer der einflussreichsten französischen Anarchisten vor dem Ersten Weltkrieg.
12Jacques Guérin (ca. 1884–1920), französischer Anarchist und einer der Herausgeber von „Les Temps Nouveaux“.
13Charles-Ange Laisant (1841–1920), französischer Offizier, Mathematiker und republikanischer Politiker, der sich in den 1890er Jahren zum Anarchisten wandelte.
14François Le Levé (1882–1945), bretonischer Anarchosyndikalist. Aktiv in der Hafenarbeitergewerkschaft und der „Arbeitsbörse“ seiner Heimatstadt Lorient.
15Charles Malato (1857–1938), anarchistischer Schriftsteller und Journalist.
16Jules Moineau (1857–1934), belgischer Anarchist.
17Marc Pierrot (1871–1950), französischer Arzt und Anarchist, dem Syndikalismus nahestehend.
18Paul Reclus (1858–1941), französischer Anarchist, Sohn von Élie und Neffe von Élisée Reclus.
19Vermutlich Pierre Richard (7-1933/1934), französischer Metallarbeiter, der sich Anfang des 20. Jahrhunderts in Algerien niederließ und u.a. als Algerienkorrespondent von „Les Temps Nouveaux“ fungierte.
20Sanshiro Ishikawa (1876–1956), japanischer Anarchist, hielt sich während des Ersten Weltkriegs in Frankreich auf.
21Waarlam Tscherkesoff (oder Tscherkessischwili, 1846–1925), aus georgischer Adelsfamlie stammender Anarchist und enger Weggefährte Kropotkins.
22Gefunden auf Machorka, die Übersetzung ist von uns.
passiert am 29.06.2022