Tagesspiegel-Interview: Innensenator Geisel zum Extremismus in Berlin
Herr Geisel, es steht wieder ein 1. Mai bevor, an dem wie jedes Jahr eine „Revolutionäre Demonstration“ stattfindet. Ist Ihnen mulmig zumute?
Mulmig nicht. Es ist ja nicht mein erster 1. Mai als Innensenator. Aber jeder 1. Mai ist anders. 2019 hat noch niemand über Demos in Zeiten des Infektionsschutzes gesprochen. Wir haben im Moment insgesamt 22 angemeldete Veranstaltungen und Aufzüge für den 1. Mai. Darunter ist auch eine angemeldete sogenannte Revolutionäre 1.-Mai-Demonstration, die von Neukölln nach Kreuzberg führen soll. Thematisch soll es hier um Mietenpolitik und Migration gehen. Wir haben momentan in der linken Szene eine Debatte darüber, ob die integrative Wirkung dieser Themen so groß ist, dass es dann keine zusätzliche unangemeldete Demonstration um 18 Uhr mehr gibt.
Zu der angemeldeten Demonstration ruft auch die sogenannte Migrantifa auf, die an der Demospitze einen internationalistischen Block bilden will. Teil dieses Bündnisses ist unter anderem auch eine palästinensische Gruppe, die das Existenzrecht Israels in Frage stellt. Wie bereitet sich die Polizei darauf vor – auch darauf, dass es womöglich israelfeindliche Parolen gibt?
Da gibt es ganz klare Grenzen, die auch bei solchen Demonstrationen gelten. Wenn die Parolen von der grundgesetzlich geschützten Meinungsfreiheit gedeckt sind, müssen wir damit umgehen, dass bei Demonstrationen auch Meinungen vorgetragen werden, die wir nicht teilen. Wenn die Aussagen gegen das Grundgesetz verstoßen oder volksverhetzend sind, greift die Polizei natürlich ein.
Sind demnach am 1. Mai Parolen erlaubt, die Israel verunglimpfen?
Wir dürfen das Existenzrecht Israels nicht infrage stellen. Verunglimpfungen kann man mit Auflagen vorbeugen. Eigentlich ist der 1. Mai der Tag der Arbeit. Und da geht es um die Frage: Wie schaffen wir mehr Gerechtigkeit in dieser Welt? Für mich ist der 1. Mai ein politischer Tag, an dem man unterschiedliche Meinungen auf die Straße trägt und miteinander diskutiert, das tut dem ersten Mai gut. Gewalt und Hetze nicht.
Deutet die Tatsache, dass die Revolutionäre Demonstration angemeldet ist – das war in den vergangenen Jahren ja nicht immer der Fall – darauf hin, dass es eine Spaltung im linksradikalen Spektrum gibt?
Wir interpretieren das so, dass es Meinungsverschiedenheiten mit unterschiedlichen Interessen gibt. Auf der einen Seite steht das autonome Spektrum, das vor allen Dingen auf Gewalt und Kampf setzt, auf die Auseinandersetzung mit der Polizei. Ein anderer Teil des linken Spektrums sagt: Wir brauchen Anschlussfähigkeit, wir haben Themen, hinter denen wir möglichst viele Menschen versammeln wollen. Ich persönlich sympathisiere am 1. Mai mehr mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund. (lacht).
Wie stark sind die unterschiedlichen Lager in der linksradikalen Szene?
Die autonome Szene um die Rigaer Straße 94 herum ist nicht mehr so groß, wie sie mal war. Das haben wir bei den verschiedenen Demonstrationen auch erlebt. Und spätestens seit den Demonstrationen zum G20-Gipfel in Hamburg und den dortigen Gewalttaten hat die Sympathie im linken Lager für gewalttätige Gruppen auch deutlich abgenommen. Deswegen ist deren Interesse, auf Themen wie Klimaschutz, Wohnen und Migration zu setzen, natürlich groß, weil sie versuchen, wieder Anschluss zu bekommen. Insgesamt ist die gewalttätige Gruppe in der linken Szene eindeutig kleiner als das gewaltfreie Spektrum.
Wie viele Teilnehmende sind bei der Revolutionären Mai-Demo zu erwarten?
Es könnte bis in den fünfstelligen Bereich gehen – wenn es den Organisatoren gelingt, ein politisches Bündnis rund um die Themen Migration und Wohnungspolitik zu schließen. Und dann kommt es darauf an, ob sich doch noch eine autonome Gruppe abspaltet. Die wird dann deutlich kleiner sein. Außerdem gibt es am 1. Mai auch bundesweit Demonstrationen, etwa in Hamburg, Bremen und Dresden, zum Teil auch aus dem rechtsextremen Bereich. Das kann auch dazu führen, dass Linke nicht in Berlin demonstrieren, sondern an anderen Orten in Deutschland. Das ist schwer vorherzusagen.
Das heißt auch, dass die Polizei in Berlin nicht mit allzu viel Unterstützung aus anderen Bundesländern rechnen kann?
Wir gehen davon aus, dass wir wieder Unterstützung aus anderen Ländern bekommen. In den vergangenen Jahren war diese Unterstützung immer hoch. Aufgrund der Demonstrationen in anderen Bundesländern ist das an diesem 1. Mai möglicherweise nicht ganz so einfach. Die genaue Größenordnung klärt sich immer erst kurz vorher. Zudem könnte die Zahl der Demonstrationen in Berlin noch wachsen. Womöglich kommen noch Demonstrationen aus dem Bereich der Coronaleugner hinzu.
Welche Strategie verfolgt der Senat im Umgang mit dem linksautonomen Spektrum, speziell auch gegenüber den Bewohner:innen des teilbesetzten Hauses „Rigaer 94“?
Wir gehen rechtsstaatlich vor, um das klar zu sagen. Die Polizei ist in Amtshilfe tätig, wenn entsprechende Gerichtsbeschlüsse vollzogen werden müssen. Unabhängig von der Rigaer 94 geht es doch darum: Unsere Stadt braucht alternative Freiräume. Das unterscheidet Berlin von Doberlug-Kirchhain. Aber Freiräume heißt eben nicht rechtsfreie Räume. Wir brauchen eine vorausschauende Stadtentwicklungspolitik, die in der Lage ist, alternative Wohnformen zu erhalten. Was wir nicht brauchen, ist am Ende der Vorwurf an die Polizei bei einer Räumung. Die muss Beschlüsse der Gerichte umsetzen. Wenn der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht, ist es in der Regel zu spät.
Wie soll diese politische Verantwortung und „vorrausschauende Stadtentwicklungspolitik“ aussehen?
Wenn wir als Land Berlin über 350.000 kommunale Wohnungen und unzählige Gewerbeeinheiten verfügen, dann müssen wir auch Gespräche darüber führen, was davon für alternative Wohnformen genutzt werden könnte. Aber das muss auch gesteuert werden. All die Räumungen die wir jetzt hatten, etwa der Kneipe „Meuterei“ in Kreuzberg oder das Urteil gegen die Buchhandlung „Kisch & Co.“ in der Oranienstraße – das sind politische Niederlagen. Weil es nicht gelungen ist, diese Freiräume zu erhalten.
Im Falle der Buchhandlung wäre das Land Berlin aus meiner Sicht gut beraten, dem Betreiber eine andere Gewerbeimmobilie – gegebenenfalls auch in Kreuzberg – anzubieten. Das meine ich mit aktiver Stadtentwicklung, da haben wir noch Luft nach oben. Die Schuld jetzt aber bei der Polizei zu suchen, das halte ich für falsch. Und wenn wir die „Rigaer 94“ betrachten: Das sind keine Freiräume, die agieren nicht aus politischer Überzeugung. Das sind brutale Gewalttäter, die ihre Nachbarn terrorisieren. Die würde ich ausdrücklich nicht mit einbeziehen.
Ein anderes Thema, das die Stadt auch immer wieder beunruhigt, sind die vielen rechten Anschläge unter anderem in Neukölln. In der dortigen Anschlagsserie hat man drei Neonazis als Tatverdächtige im Blick. Dennoch gibt es bis heute keinen durchgreifenden Ermittlungserfolg. Warum eigentlich nicht?
Weil man Fahndungserfolge politisch nicht erzwingen kann. Aber ich bin insgesamt nicht ganz so pessimistisch. Mit der Übernahme der Verfahren durch die Generalstaatsanwaltschaft ist ein ganz anderer Drive in diese Sache gekommen. Und wenn ich die Generalstaatsanwältin richtig verstanden habe, können wir demnächst durchaus mit Anklagen rechnen. Das Kammergericht hat entschieden, dass gegen den Neonazi Sebastian T. keine Untersuchungshaft angeordnet wird. Aber dass bei ihm durchaus Strafen in Aussicht stehen, die nicht zur Bewährung ausgesetzt werden können, ist schon sehr wahrscheinlich.
Es hängt ja nicht nur an der Staatsanwaltschaft. Die Arbeit auf der Straße macht die Polizei. Warum gelingt es ihr nicht, Indizien und Beweise zu sammeln, die es der Staatsanwaltschaft ermöglichen, mit Erfolg Haftbefehle zu beantragen?
Es handelt sich offensichtlich um polizeierfahrene Täter, die durchaus in der Lage sind, nicht überall Spuren zu hinterlassen. Aber im Moment gehe ich schon davon aus, dass die Polizei eine Vielzahl von Beweisen vorgelegt hat, die für eine Anklage reichen. Das war schwierig. Und der Fahndungsdruck, der erzeugt wurde über die Jahre, hat auch dazu geführt, dass wir in den Jahren 2019 und 2020 keine Gewaltanschläge mehr hatten. Es gab Schmierereien und Einschüchterungsversuche.
Das ist ja das Motiv der Täter: Menschen einzuschüchtern, die sich im linken Spektrum der Gesellschaft engagieren, die sich für Demokratie einsetzen. Deswegen nennen wir es auch Terror, weil es eigentlich nicht um Kriminalität geht, sondern um die Bekämpfung der Demokratie. Die Bedrohungssituation bleibt, und das subjektive Bedrohungsempfinden der Opfer bleibt auch. Deswegen hoffe ich, dass es bald zu entsprechenden Strafen kommt.
Das Kammergericht kam auch zu dem Schluss, dass bei einem der Hauptverdächtigen, dem vorbestraften Rechtsextremisten und ehemaligen NPD-Politiker Sebastian T., kein dringender Tatverdacht in Bezug auf Brandanschläge vorliege.
Ja, die Beweislage ist offenbar schwieriger zu erbringen, als wir uns das politisch wünschen. Ob die, die wir im Auge haben, die geistigen Brandstifter waren – da bin ich sicher. Ob sie auch die tatsächlichen Brandstifter waren – dafür brauchen sie in einem Rechtsstaat Beweise. Wir arbeiten da nach dem Al-Capone-Prinzip. Wir führen bei den Neonazis die verschiedenen Bereiche der kriminellen Aktivitäten zusammen, von Subventionsbetrug bis zu Schmierereien.
In den kommenden Wochen soll die externe Expertenkommission, das sind die ehemalige Polizeipräsidentin von Eberswalde, Uta Leichsenring, und Ex-Bundesanwalt Herbert Diemer, den Abschlussbericht zu den Ermittlungen im Neukölln-Komplex vorlegen. Was erwarten Sie?
Da die beiden Experten unabhängig arbeiten, kann ich nicht sagen, was letztlich dabei herauskommt. Ich wünsche mir, dass Defizite benannt werden, wenn sie vorhanden sind. Nur daraus lernt man. Im ersten Zwischenbericht haben wir eine Reihe von Hinweisen bekommen, vor allem bei der Frage: Wie gehen wir mit den Opfern solcher Gewaltanschläge um? Das ist, glaube ich, das größte Problem an der Stelle: Dass sie das Gefühl haben, alleingelassen zu werden.
Einige der Betroffenen haben den Zwischenbericht als Farce bezeichnet.
Aus Sicht der Betroffenen kann ich das verstehen. Die Erwartungshaltung, wenn man Bedrohungen und Gewalt erfahren hat, ist natürlich die, geschützt zu werden. Die Opfer haben weiterhin Angst. Objektiv hat der Zwischenbericht aber ergeben, dass die Vermutung, in der Polizei gebe es rechte Verschwörungsnetzwerke, sich nicht bestätigt hat.
Immer wieder wird auch der Vorwurf laut, Sie oder auch Polizeipräsidentin Barbara Slowik würden nicht mit den Betroffenen sprechen.
Ich habe mehrfach mit den Betroffenen kommuniziert, ich bin in einem regen Austausch mit ihnen. Es gab Treffen in der Innenverwaltung, unter anderem auch mit dem Verfassungsschutz und Vertretern des Landeskriminalamtes. Ich habe auch auf einer Demonstration in Neukölln gesprochen. Diesen Austausch hat es regelmäßig gegeben. Das führt aber letztlich aus Sicht der Opfer dieser Anschläge – ohne einen Fahndungserfolg und ohne eine Verurteilung der Täter – nicht zu einem Gefühl der Befriedigung, das ist mir völlig klar. Aber eine Gesprächsverweigerung hat es nicht gegeben.
Ihre Koalitionspartner Grüne und Linke pochen weiter darauf, dass möglichst bald ein Untersuchungsausschuss eingesetzt werden sollte. Am Wochenende hat nun sogar Ihre Partei, die SPD, auf dem Parteitag die Einsetzung eines Ausschusses noch in dieser Legislaturperiode beschlossen. Sind Sie von mehreren Seiten einem Affront ausgesetzt?
So hoch würde ich das nicht hängen.
Aber wie sieht das für die noch fünf Monate laufende Legislaturperiode aus?
Einen Untersuchungsausschuss einzusetzen liegt in der Verantwortung des Parlaments. Nicht in der der Exekutive. Aber man muss die Möglichkeiten von Untersuchungsausschüssen realistisch beurteilen. So ein Ausschuss arbeitet immer retrospektiv. Erst wenn die Strafverfolgung abgeschlossen ist, wird man fragen können: Wo gibt es politische Verantwortung? Ist diese Untersuchung richtig verlaufen? Aber aktuell läuft die Strafverfolgung weiter; die kann ein Untersuchungsausschuss nicht ersetzen. Und sollte es auch nicht.
Wenn wir jetzt einen entsprechenden Ausschuss einsetzen würden, könnte er bestimmte Akten nicht einsehen, Zeugen in dem Verfahren nicht befragen, weil dann die Strafverfolgung gefährdet wäre. Das ist im Moment ein stumpfes Schwert. Und es wäre der Super-GAU, wenn wir jetzt interne Erkenntnisse offenbaren würden, die dann eine Strafverfolgung unmöglich machen und einen Prozess scheitern lassen.
Ein weiteres Problemthema sind die aggressiven Auftritte der Querdenker. Der Berliner Verfassungsschutz hat Teile der Bewegung als extremistischen Verdachtsfall eingestuft. Halten Sie es für notwendig, dass der Verfassungsschutz auch bundesweit die Szene der Coronaleugner beobachtet?
Berlin ist eine Bühne für diese Demonstrationen. Wir beobachten einen Extremismus, den wir mit den bisherigen Maßstäben nicht einordnen können. Die Proteste haben sich in der Pandemie immer weiter radikalisiert. Corona ist dabei nur ein Vehikel. Wie es schon 2015 bei den Wutbürgern war, die gegen die Aufnahme von Flüchtlingen demonstriert haben. Wie damals wenden sich auch jetzt Menschen vom Staat, von der freiheitlich demokratischen Grundordnung ab. Den staatlichen Organen wird ein tiefes Misstrauen entgegengebracht.
Da hat sich ein eigenständiger Extremismus herauskristallisiert, gespeist mit Verachtung für die Demokratie. Das führt zu verbalen, aber auch physischen Übergriffen auf Politiker, Journalisten und Polizisten. Ein Tiefpunkt war die Beschimpfung von Politikern im November durch Coronaleugner im Reichstagsgebäude, während der Bundestagsdebatte über das Infektionsschutzgesetz. Ich habe den Eindruck, dass dieser Extremismus auch nach dem Ende der Corona-Pandemie bleiben wird und sich ein anderes Thema sucht.
Also kein rechtsextremistisches Phänomen?
Es gab die Versuche von Neonazis und Reichsbürgern, die Querdenker-Bewegung zu übernehmen. Rechtsextremisten und Reichsbürger steuern die Bewegung nicht. Aber es gibt Überschneidungen. Das wird auch im Verbund der Verfassungsschutzbehörden diskutiert. Ich glaube, das Bundesamt für Verfassungsschutz hält sich noch mit einer Bewertung zurück, weil man sich fragt, ob mit einer Einstufung der ganzen Querdenker-Bewegung als Beobachtungsobjekt nicht auch teilweise legitime Opposition kriminalisiert wird.
In der Demokratie muss selbstverständlich Kritik an staatlichen Maßnahmen möglich sein. Wer das Infektionsschutzgesetz für unangemessen hält, ist nicht automatisch ein Verfassungsfeind. Die überwiegende Mehrheit der Menschen, die mit den Corona-Maßnahmen nicht einverstanden sind, steht auf dem Boden der demokratischen Grundordnung. Das muss man sauber trennen von Neonazis, Reichsbürgern und den extremistischen Coronaleugnern, die mit Verschwörungstheorien und auch Gewalttaten unterwegs sind.
Bei linken Demonstrationen ist die Polizei meistens stark präsent, bei den Versammlungen der Coronaleugner wirkt sie oft überfordert. Vergangenen Mittwoch wurden Polizisten mehrmals von Querdenkern attackiert und sogar eingekesselt. Geht die Polizei mit linken Demonstrationen anders um als mit denen von Coronaleugnern?
Wenn linke Objekte wie die Kreuzberger Kneipe „Meuterei“ geräumt werden, kennt die Polizei den Termin relativ früh. Sie kann sich entsprechend vorbereiten und Unterstützung aus anderen Bundesländern heranholen. Wenn die Polizei mit weniger Beamten vor Ort wäre, sähen Linksextremisten die Chance, mit Gewalt gegen die Räumung vorzugehen. Das wird mit einem großen Einsatz der Polizei von vorneherein unterbunden. Bei den Demonstrationen von Coronaleugnern ist oftmals weniger klar, wann was kommt und wie viele Teilnehmer zu erwarten sind. Wir haben erlebt, dass über die sozialen Medien kurzfristig viele Menschen mobilisiert wurden. Es passiert aber auch, dass sich weit weniger Querdenker versammeln, als zu erwarten war. Für den 17. April war eine Demonstration mit 8000 Teilnehmern angekündigt, wir hatten 1200 Polizisten im Einsatz – doch gekommen sind nur 300 Coronaleugner.
Sind die Querdenker cleverer als radikale Linke?
Bei den Querdenkern ist manchmal schwer einzuschätzen, was passieren wird. Außerdem hat die Polizei die Erfahrung gemacht, dass bei den Coronaleugnern ganz normale Leute plötzlich die Beamten angreifen. Da beißt eine Frau einem Polizisten in die Hand, ein Demonstrant tritt einem Beamten in den Bauch. Die Polizei hat bei den Demonstrationen der Coronaleugner Lehrgeld bezahlt. Nicht nur in Berlin. Aber den Verdacht einer Ungleichbehandlung von Versammlungen der Linken und denen der Querdenker weise ich zurück.
Ein weiterer Verdachtsfall für den Verfassungsschutz dürfte die AfD werden. Vier Bundesländer haben bereits die Partei entsprechend eingestuft, die Bewertung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz ist derzeit durch das Verwaltungsgericht Köln blockiert. Wie stark radikalisiert ist denn die Berliner AfD?
Die parteiinternen Vereinigungen „Flügel“ und „Junge Alternative“ können dem Rechtsextremismus zugeordnet werden. Was den gesamten Landesverband der AfD betrifft: Das Verfassungsschutzgesetz verbietet es mir, darüber öffentlich zu sprechen.
Im Januar wurde bekannt, dass ein vertraulicher Zwischenbericht des Berliner Verfassungsschutzes, der die AfD überaus milde bewertet, an die Partei durchgestochen wurde. Sie haben dann Strafanzeige gegen Unbekannt gestellt. Wie weit ist die Aufklärung des Vorfalls gediehen?
Die Staatsanwaltschaft untersucht den Fall noch. Es liegen uns bislang keine Ergebnisse vor. Die Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, die mit dem Report zu tun hatten, werden alle nochmal sicherheitsüberprüft. Organisatorische Veränderungen im Verfassungsschutz gab es noch nicht, weil die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft noch laufen. Die sollten wir abwarten, bevor wir über Änderungen im Verfassungsschutz nachdenken. Wir müssen ausschließen, dass sich ein solcher Vorfall wiederholt.
Was schwebt Ihnen vor?
Zu überlegen wäre, ob auch im Bereich Verfassungsschutz die Extremismusprävention gestärkt werden sollte. So wie wir es bei der Polizei bereits gemacht haben und jetzt auch bei der Feuerwehr machen. Zum Beispiel über mehr Supervision oder eine genauere Überprüfung von Personen, die sich bewerben.
Sie haben im Februar die islamistische Gruppierung Jamaatu Berlin verboten. Was machen die Mitglieder heute? Sind sie weiter extremistisch aktiv?
Die Gruppierung klagt beim Verwaltungsgericht gegen das Verbot. Das haben wir erwartet. Für uns war es wichtig, zuzuschlagen, bevor etwas passiert wie der Anschlag 2016 am Breitscheidplatz. Die Sicherheitsbehörden schauen auf jeden Fall weiter hin. Das im Februar bei der Razzia beschlagnahmte Material wird derzeit ausgewertet. Auch unter dem Aspekt, ob strafrechtliche Ermittlungen aufgenommen werden müssen. Und ob ausländerrechtlich etwas zu machen ist. Ein Teil der Mitglieder von Jamaatu Berlin hat ausländische Staatsangehörigkeiten. Wir prüfen, ob eine Beendigung des Aufenthaltsrechtes möglich ist. Vor allem bei potenziell terroristischen Gefährdern. Aber es ist auch notwendig, Mitglieder von Jamaatu Berlin langfristig zu deradikalisieren.
Wie soll das bei solchen Fanatikern funktionieren?
Der Senat hat in dieser Legislaturperiode die finanziellen Mittel für Deradikalisierung fast verfünffacht. Das war auch notwendig, weil das Problem der islamistischen Rückkehrer aus Syrien und Irak in den vergangenen Jahren deutlich gewachsen ist. Auch die Zahl der Salafisten ist in Berlin in den letzten Jahren stetig gestiegen und liegt jetzt bei über 1000. Ich bereite zudem ein Landespräventionsgesetz vor. Die Eckpunkte dafür werden gerade erarbeitet, es soll in der nächsten Legislaturperiode beschlossen werden. Es gibt ein gutes Netzwerk mit vielen Initiativen. Aber keine gesetzlich verankerte Grundlage, die Präventionsarbeit verbindlich vorschreibt zur Gewalt- und Kriminalitätsbekämpfung. Das will ich jetzt ändern.
Ein weiterer Problemfall ergibt sich ausgerechnet bei der vom Justizsenator eingesetzten Expertenkommission zu antimuslimischem Rassismus. Ein Mitglied, Mohamad Hajjaj, ist stellvertretender Vorsitzender des Vereins „Teiba Kulturzentrum“. Der Verfassungsschutz beobachtet Teiba seit Jahren wegen des Verdachts auf Verbindungen zur islamistischen Muslimbruderschaft, der auch die palästinensische Terrororganisation Hamas zuzurechnen ist. Die CDU sagt, Hajjaj sei in der Expertenkommission fehl am Platze. Was sagen Sie?
Innensenator und Verfassungsschutz sind vor Einsetzung der Expertenkommission nicht gefragt worden. Sie wissen, dass ich mich zu Einzelpersonalien öffentlich nicht äußern darf.
Das erinnert an den Fall des Imams der Dar-as-Salam-Moschee in Neukölln. Der Mann bekam 2015 vom Regierenden Bürgermeister Michael Müller den Verdienstorden des Landes Berlin, obwohl die Moschee vom Verfassungsschutz beobachtet wird und damals auch in dessen Jahresbericht genannt wurde. Wird der Verfassungsschutz in dieser Stadt nicht ernst genommen?
Ich rate dazu, den Verfassungsschutz ernst zu nehmen. Er ist das Frühwarnsystem unserer Demokratie. Gerade auch wenn Radikalisierung zu beobachten ist. Das darf aber nicht zu einem Generalverdacht gegen Muslime in der Stadt führen. Das sind unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger.
Wo ziehen Sie die Grenze?
Bei Gewalt. Mit gewaltbereiten Salafisten gibt es keinen Dialog. Aber es ist auch immer wieder zu hören, der Dialog mit den Ditib-Moscheen solle abgebrochen werden, wegen Erdogan. Aber wir haben in dieser Stadt hunderttausende Menschen türkischer Herkunft. Zu denen können wir doch nicht den Dialog abbrechen. Aber wir beziehen klare Position gegen Extremismus.
Was ist für die diesjährige Al-Quds-Demonstration zu erwarten, die für den 8. Mai angemeldet ist? Wird der Auflauf der Israelhasser in diesem Jahr verboten? Das neue Berliner Versammlungsgesetz erlaubt eine härtere Gangart gegen Hassdemonstrationen…
Wir prüfen sorgfältig, was zu tun ist.
Sie wollen sich noch nicht festlegen?
Es wäre nicht klug, das zu tun.
Im vergangenen Jahr hat Bundesinnenminister Horst Seehofer gegen den deutschen Ableger der libanesischen Terrororganisation Hisbollah ein Betätigungsverbot ausgesprochen. Damit dürften die Chancen für ein Verbot der von der Hisbollah mitgetragenen Al-Quds-Demonstration doch steigen….
Auch das prüfen wir sorgfältig.
Herr Geisel, streben Sie an, auch in der nächsten Legislaturperiode Innensenator zu werden?
Ich kandidiere für ein Abgeordnetenmandat. Und ich strebe politische Verantwortung an. Ich gestalte die Stadt mit Leidenschaft. Und ich glaube auch, dass ich es gut mache. Aber Ämter werden erst nach der Wahl verteilt. Ich war auch mit großer Leidenschaft Stadtentwicklungssenator.
Was hat Ihnen denn besser gefallen?
Ich trete für soziale Politik ein und nehme Verantwortung wahr. An welchen Stellen auch immer. Ich will dazu beitragen, dass die schweigende Mehrheit den Mund aufmacht und nicht nur die extremistischen Ränder. Eine schweigende Gesellschaft tut einer Demokratie nicht gut.