Offener Brief an die Fusion und ihre Crews!
„Der Schutz von Infektionen und damit einhergehende Maßnahmen basieren in Deutschland nicht nur auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern sind zunehmend Spielball politischer Abwägungen und von Interessenskonflikten. In Deutschland können während der Pandemie Waffen und Autos produziert werden, laufen Großraumbüros weiter als sei nichts passiert, werden auf Druck der Wirtschaft Lockerungen umgesetzt, auch wenn diese der Bekämpfung der Pandemie entgegenlaufen.“
In der obigen Analyse sind wir uns mit dem Kulturkosmos weitestgehend einig. Auch wir kritisieren die bisherige Pandemiepolitik, ohne uns dabei mit rechten Coronaleugner*innen gemein zu machen. Auch wir würden gerne mal wieder feiern und haben uns als langjährige Fusionist*innen, sowohl als Gäste als auch als Crew, auf die Fusion gefreut.
Hier hören die Gemeinsamkeiten leider auf. Schon in den letzten Jahren hat die Fusion immer wieder den Spagat geübt zwischen kapitalistischem Event und linker Utopie. Rigide Einlasspolitik, Zäune noch und nöcher und auch ein vielschichtiges Klassensystem im Backstage haben uns immer wieder am linken Anspruch zweifeln lassen. Einige Crews haben deswegen die Fusion ja auch verlassen…
Auch wir halten Kultur für relevant, aber wir wollen keine Fusion um jeden (gesellschaftspolitischen) Preis.
Das diesjährige Corona-Konzept der Fusion inklusive personalisierter Testung und digitaler Kontaktverfolgung ist für uns ein offener Bruch – mehr als nur eine hinnehmbare Steigerung von Kontroll-Optimierungs-Entwicklungen, die wir die letzten Jahre schon beobachten konnten. Eine Teilnahme basierend auf PCR-Tests sowie die Nutzung der CoronaWarnApp macht das Fusionkonzept zu einer technokratischen Dystopie, die wir ablehnen. Wir finden es fatal, dass ein vermeintlich (utopisch) linkes Festival hier als Biosecurity-Leuchtturmprojekt im Kulturbereich dienen will und den feuchten Träumen von Eventim und Co zuvorkommt – eine entpolitisierte Bestärkung der Kontroll- und Vermessungsphantasien der kommerziellen Veranstaltungsbranche.
Zugangsberechtigungen auf dem Festival sollen dieses Jahr komplett über die gechipten Bändchen laufen. Auf ihnen ist das Testergebnis gespeichert, so dass an jedem Checkpoint (zwischen Sektorgrenzen) kontrolliert werden kann, ob die Person zugangsberechtigt ist. Zudem soll, wie wir aus internen Kreisen gehört haben, großflächig die CoronaWarnApp zum Einsatz kommen. Menschen, die kein Smartphone besitzen oder nicht bereit sind, sich die App zu installieren, sollen mit einem Handy oder personalisiertem Bluetoothtoken ausgestattet werden. Das Festival wird damit zu einem vollständig überwachten Raum, in dem sämtliche Schlupflöcher und unkontrollierte Bereiche verschwunden sind.
PCR-Tests in enger Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt, da klingeln bei uns die Alarmglocken – auch wenn ihr zum Teil auf sogenannte Pooltestung setzt. Das RKI hat seit Beginn der Pandemie die Ansage an Labore gemacht, dass Proben aufgehoben werden sollen. Aus diesen Proben lässt sich nachträglich ein DNA-Test machen. Wie schon in anderen Veröffentlichungen beschrieben wurde, gibt es viele Labore, die dies aus logistischen Gründen nicht schaffen, andere hingegen verwahren sie tatsächlich für „weitergehende Forschung“. Nun hat die Fusion ja vermeldet, dass sie ein eigenes Testlabor einrichtet. Doch selbst, wenn uns „versichert“ werden sollte, dass die Proben natürlich sofort nach Analyse vernichtet werden, sehen wir folgende Probleme:
– Die Fusion selber sieht sich als Modellprojekt für zukünftige Festivals. Wäre es nicht möglich, dass das Gesundheitsamt die Genehmigung des Festivals nur erteilt, wenn im Gegenzug die Proben der 30.000 Menschen für ihr eigenes Modellprojekt genutzt werden können? DNA-Screenings auf unterschiedlichste körperliche Merkmale bei einer Testgruppe von 30.000 Menschen sind sicherlich im Zusammenhang mit der Epidemiologie sehr interessant. Wie verhält sich der Kulturkosmos bei so einer Forderung, wenn diese Mitte Juni kommt, wo schon viel Geld in die Vorbereitung geflossen ist?
– Die Crews und auch die Gäste bestehen zu einem nicht unerheblichen Teil aus Menschen mit einem linken bis linksradikalem Hintergrund. Das Ganze ist also ein personalisiertes Massenscreening unserer Szene. Was ist, wenn die Polizei McPomm oder das BKA mit folgender Argumentation die Beschlagnahmung eines Teils der Proben fordert? „Wir haben hier eine DNA-Spur bei jener Straftat – Menschen aus den Kreisen, die wir für tatverantwortlich halten, sind auf dem Weg zur Fusion – wir beschlagnahmen die Proben.“
- Die Möglichkeit, dass Leute vielleicht einfach keine DNA-Probe abgeben wollen, weil sie was zu befürchten haben, taucht im Konzept nicht einmal als Erwägung auf.
- Achja, und was ist eigentlich mit Illegalisierten und Menschen ohne Pass? Wie machen die das mit der Personalisierung?
- Die Fusion schreibt in ihren Testrichtlinien: „Alle Insassen eines Autos werden gemeinsam erfasst, um im Falle eines positiven Testergebnisses der gesamten Gruppe als potenzielles Cluster die Zufahrt zum Festival zu versagen.“ Wollen wir wirklich offenlegen, wer in welchen Bezugsgruppen angereist ist? Ein hochinteressanter Datensatz für Ermittlungsbehörden.
Wir geben allen Kritiker*innen unseres Textes Recht: Niemand MUSS zur Fusion kommen. Doch es geht nicht nur um die Fusion, sondern um die Frage, welche Richtung wir als Linke in der Pandemiebekämpfung unterstützen wollen. Das, was da passiert, wird über kurz oder lang in unseren Zentren und Kneipen ankommen und dann ist Essig mit gesellschaftlicher Teilhabe für Alle. Und es geht noch viel weiter um die gesamtgesellschaftliche Frage, was ein emanzipatorischer Umgang sein kann mit einer Situation, in der wir aufgrund von ökologischem Raubbau mit Zoonosen als permanenter Erscheinung zu tun haben werden. Es wird „nach Corona“ kein zurück zum Normalzustand geben. Und ein Zurück vom Ausnahmezustand ist von technokratischer Seite auch gar nicht erwünscht: Die Normalisierung und Einübung von kontrollierter sozialer Distanz als gesellschaftlicher Basis ermöglicht die Abschaffung von (unkontrolliertem) „öffentlichem Raum“ – einer Grundvoraussetzung für politisches Handeln.
Die Fortführung dieses Ausnahmezustands (in durchsetzbarer Form) ermöglicht eine Biologisierung des Sozialen; eine immer engmaschigere Grenzziehung von Teilhabemöglichkeiten entlang von gesundheitlichen Merkmalen – von der nationalstaatlichen über die Bundesländer- und Landkreisgrenzen hin zu Kiezen, Wohnblocks und Einzelhaushalten. Der Fixpunkt dieser Entwicklung ist eine Vermessung des gesundheitlichen Risikos auf individueller Ebene und ein darauf gestütztes Bemessen von Beweglichkeit, Kontakt, gesellschaftlicher Partizipation. Gar nicht so weit weg von den Social-Scoring-Systemen in China!
Wir erleben gerade die Transformation vom Recht auf Gesundheit hin zur Verpflichtung zur Gesundheit. Ein solches Regime der biologisierten Sicherheit ermöglicht im verstetigten pandemischen Ausnahmezustand weitergehende soziale Kontrolle, als dies über die „Sicherheit“ im permanentisierten Kampf gegen den Terror je begründbar war und ist – in der Pandemie ist jede*r eine potenzielle Gefahr, nicht nur die vermeintliche Gefährder*in.
Die Fusion geht in Sachen gesundheitlicher Individualisierung und Entsolidarisierung sogar noch einen entscheidenden Schritt weiter und stellt Geimpften einen unkomplizierten, testfreien Zugang in Aussicht. Soweit ist bislang nicht einmal die Bundesregierung beim Zuschnitt der (unsinnigen) Ausgangsbeschränkungen gegangen: Was macht es mit einer Gesellschaft, in der Geimpfte anders als Ungeimpfte nachts durch die Gegend spazieren (und auf Parties gehen) können. Geht es nur noch um das individuelle Zugeständnis von Freiheitsrechten derer, die nun keine oder nur noch eine geringere Kontaktgefahr darstellen? Dann wären wir auf dem Niveau der FDP angekommen und hätten die Pille der Biosicherheit bereits geschluckt.
Uns ist es wichtig zu betonen, dass wir das Ganze nicht als Problem der Datenhaltung sehen. Viel zu oft wurde die Auseinandersetzung um digitale Check-Ins auf dieses Problem der vermeintlichen Datensicherheit verkürzt.
Das vorgestellte Festival-Konzept lässt sich nur mit Kontrollen, Checkpoints, Zäunen, Ausschluss, viel Security, Quarantäneanordnungen und Kontaktnachverfolgung in Kooperation mit staatlichen Behörden durchsetzen. Es führt zu einer schleichenden Normalisierung und gesellschaftlicher Akzeptanz technokratisch-autoritärer Maßnahmen gepaart mit einem technologischen Sicherheitsversprechen, welches wir anzweifeln: PCR-Massentests eignen sich nicht, um eine Blase mit einer Virendichte von Null zu erzeugen und aufrecht zu erhalten.
Dieses Sicherheitstheater wäre für sich genommen vielleicht erheiternd, aber es ist die Affirmation eines pandemischen Kontrollregimes als ein vermeintlich notwendiges und gar nicht so schlimmes Zugeständnis. „Unterm Strich“ wird aber keine Fusion stehen, „auf der wir auch wirklich so feiern können, wie wir es lieben.“
Muss es ein linkes Festival sein, das hier federführend und beispielhaft „voran“schreitet? Will die Fusion sich mit einem solchen ‚Testival‘ zum Vorreiter einer technologisch vermittelten Spaltung in Zonen entlang individualisierter, biosozialer Grenzen machen? Wir finden: Der politische Preis, den wir als radikale Linke für eine Fusion dieser Form zahlen, ist eindeutig zu hoch. Wir fordern daher alle Crews, Gäste und Freund*innen und auch den Kulturkosmos auf: Keine Fusion um jeden Preis!
Cancel Control-Cosmos (CCC) !!!
capulcu & friends