„Gründer von linkem Berliner Verein Karuna: Die linksextreme Szene entert die Klimabewegung“

Der Berliner Verein Karuna will der Radikalisierung von Linken entgegenwirken, bevor es zu Straftaten kommt. Gründer Jörg Richert zeigt sich im Interview beunruhigt.

Die brennenden Barrikaden in Leipzig sind nach den Protesten der linken Szene gegen das Urteil im Fall Lina E. wieder gelöscht. Die Behörden vermelden als Bilanz 50 verletzte Polizeibeamte, Dutzende Festnahmen und Sachschäden. Die Drohungen aus der Szene von einem „Tag X“ weckten allerdings die Sorge vor noch drastischeren Ausschreitungen. Verfassungsschützer und Innenministerin Nancy Faeser (SPD) warnen vor vermehrter Gewalt von links. Angebote wie Aussteigerprogramme oder Projekte zur Gewaltprävention gibt es in Deutschland anders als bei rechtem oder religiös motivierten Extremismus bisher kaum. Eine Ausnahme ist das Projekt „Radikal demokratisch“ des Berliner Vereins Karuna. Es will Aktivisten für friedlichen Protest gewinnen. Gründer Jörg Richert warnt, dass es schwieriger wird, für Gewaltverzicht zu werben.

Herr Richte, in Leipzig endete der Protesttag gegen das Urteil im Fall Lina E. mit Ausschreitungen. War der sogenannte „Tag X“ ein Einschnitt für die linksextreme Szene?

Wir erleben die Stimmung schon seit geraumer Zeit als angespannt. Es braut sich etwas zusammen. Die Politik zeigt immer weniger Dialogbereitschaft. Das korreliert mit großer Unruhe, Zukunftsangst und Wut bei Jugendlichen. Es gibt den Eindruck, dass, selbst wenn die Politik Themen anspricht, sie die eigentlichen Ursachen kaschiert. Der Kapitalismus wird auch im ökologischen Lager in Frage gestellt. Es ist auch etwas Interessantes geschehen. Die linksextreme Szene hat den Klimaschutz lange verschlafen. Jetzt greift sie nach der Klimabewegung und stellt über die Kapitalismuskritik Gemeinsamkeit her. Das Motto lautet jetzt „Klimaschutz ist Antifa“.

Ihr Projekt „Radikal demokratisch“ arbeitet mit nach eigener Darstellung mit ausgegrenzten Jugendlichen. Was hat das eigentlich mit der linksmilitanten Szene zu tun?

Jugendliche, die etwa vor Gewalt in ihren Familien fliehen und auf der Straße leben, kommen häufig in Kontakt mit der linken Szene. Sie finden über die Szene Wohnraum und häufig auch Anerkennung und Anschluss in den Gruppen. Natürlich haben nicht alle militanten Linken einmal auf der Straße gelebt. Viele machen auch Abitur und studieren nicht selten Sozialarbeit. Lina E. hat etwa Erziehungswissenschaften studiert, um in der Jugendhilfe zu arbeiten. Marginalisierte Jugendliche spielen in der Szene aber eine große Rolle. Das war übrigens auch in den späten 60ern und 70er Jahren der Fall.

Die linke Szene entert die Klimabewegung

Wo liegen denn die Anknüpfungspunkte zu Klimaaktivisten aus bürgerlichen Familien?

Der Kapitalismus ist sowohl mit der sozialen als auch mit der ökologischen Frage verknüpft. Das sehen wir heute schon an Obdachlosen, die immer häufiger an Hitze sterben. Rund 20 Prozent der Bevölkerung kann sich die Anpassungen kaum leisten, die im Klimawandel lebensnotwendig werden. Und Verursacher der Krise sind diejenigen, die von der Konsumgesellschaft profitieren. Für mich ist es kein Zufall, dass die Letzte Generation jetzt Aktionen gegen Reiche ankündigt.

Sie wollen Linke für friedliche Protestformen gewinnen. Wie gehen Sie vor?

Wir schauen uns an, welche Probleme die jungen Menschen umtreiben und bieten konkrete Lösungen an. Die Jugendlichen entwickeln in unserem Reallabor in Zusammenarbeit mit der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde Projekte etwa für Wildbienen oder auch mobile Wohnstätten für Obdachlose. Dabei gibt es auch Begegnungen, die Vorurteile überwinden und einem Tunnelblick entgegenwirken. In Lichtenberg hatten die Jugendlichen es etwa mit einem CDU-Bezirksstadtrat zu tun. Den fanden sie dann erstaunlich in Ordnung. Um eine App für auf der Straße lebende Jugendliche zu entwickeln, haben die Projektteilnehmer mit Google zusammengearbeitet. Es hat etwas Überzeugungsarbeit gekostet, aber sie haben die Firmenzentrale besucht.

Selbstwirksamkeit kann also Radikalisierung vorbeugen?

Wir sehen uns als Brücke in die Zivilgesellschaft. Wir wollen die Möglichkeiten aufzeigen, die friedliche Aktionen bieten. Die Jugendlichen haben viele Ideen. Und es finden sich immer wieder progressiv denkende Menschen in der Verwaltung. Da bin sogar ich manchmal erstaunt. Und wenn das nicht der Fall ist, gibt es die Möglichkeit, die Öffentlichkeit zu mobilisieren. Gleichzeitig wollen wir deutlich machen, dass Straftaten es unmöglich machen, solchen Einfluss zu nehmen und etwas zu erreichen. Sie können das eigene Leben zerstören und natürlich auch anderen Menschen schaden.

Die Straftaten im Zusammenhang mit dem Fall Lina E. zeigen eine Verachtung für den Wert fremden Lebens, sofern es sich um Gegner handelt. Eine sich selbst zugeordnete angeblich höhere Moral rechtfertigt solche Gewalt. Wie lässt sich die Selbstüberhöhung aufbrechen?

Bei Entmenschlichung von anderen wird es in der Tat schwierig. Wir hören zu und wollen herausfinden, woher die Einstellung zur Gewalt herrührt. Begegnungen können helfen, Feindbilder abzubauen. So hatten wir zum Beispiel Kontakt zu einem Dorfpolizisten, der immer wieder eines unserer Projekte außerhalb von Berlin besucht hat. Der Gedanke, dass der eine Beamte ganz nett ist, führt zu der Frage, ob es auch andere geben könnte, die okay sind. Allerdings braucht es Zeit, um etablierte Denkmuster aufzubrechen.

Sie wollen eingreifen, bevor Grenzen überschritten werden. Hilfe für bereits Radikalisierte sind im Gegensatz zum Rechtsextremismus und religiös motivierten Extremismus in Deutschland rar. Müsste es nicht mehr Angebote geben?

Ja und Punkt. Mir fehlt bei dem Aussteigerprogramm des Verfassungsschutzes für Linksextreme eine zivile Organisation, die vorgeschaltet ist. Ich frage mich, wer aus der linken Szene sich ausgerechnet an die Verfassungsschützer wenden soll. Mehr niederschwellige Angebote könnten mehr Menschen erreichen. Etwas Vergleichbares mit Exit, dem Aussteigerprogramm für Rechtsextreme, fehlt in der Bundesrepublik für die linke Szene.

Woran liegt das?

Ich glaube, dass es von Sozialarbeitern wenig Interesse gibt, Angebote für Linksextremisten zu entwickeln. Viele Sozialarbeiter sind zu nah an der Szene dran. Sie gehen zum Teil auf dieselben Demos. Als wir mit unserem Projekt angefangen haben, haben das auch nicht alle verstanden. Dabei nehmen wir die Menschen mit einem empathischen Blick wahr. Wir wollen, dass sie sich erfolgreich mit friedlichen Mitteln ausdrücken können.

Nun sind die Proteste in Leipzig vorbei. Wird sich die Stimmung wieder beruhigen?

Mir macht Sorge, dass sich gerade Gräben bilden. Auch die Razzia gegen Klimaaktivisten trägt zu einer Stimmung bei, die Dialog erschwert. Ein Stellungskrieg löst aber kein einziges Problem. Wichtig wäre auch, kritischen jungen Menschen Raum zu geben. Sie brauchen auch ihre Treffpunkte. Nicht jeder Besetzerkneipe sollte gleich als Hort des bösen Linksextremismus kriminalisiert werden.


Infokasten: Jörg Richert
wurde 1963 in Ostberlin geboren. Er arbeitete seit seinem 16 Lebensjahr in der Jugendarbeit und gründete 1990 die Organisation Karuna, Zukunft für Kinder und Jugendliche in Not International. 2016 folgte die Karuna Sozialgenossenschaft. Der frühere Bundespräsident Johannes Rau verlieh Richert 1999 für seine Jugendarbeit das Bundesverdienstkreuz.

 

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passiert am 06.06.2023