Raus aus dem Vampirschloss

Am 22. November 2013 veröffentlichte die britische Website The North Star einen Essay des Kulturtheoretikers Mark Fisher unter dem Titel »Exiting the Vampire Castle«. Auf Deutsch erschien er in k-punk in der Edition Tiamat. Nachfolgend ist er dokumentiert:

Im Sommer habe ich ernsthaft überlegt, mich aus sämtlichen politischen Zusammenhängen zurückzuziehen. Erschöpft wegen völliger Überarbeitung und unfähig, produktiv zu sein, zog ich durch die sozialen Netzwerke und spürte, wie meine Depression und Ermüdung wuchsen.

Die »linke« Twitter-Blase ist häufig frustrierend und entmutigend. Anfang dieses Jahres gab es ein paar prominente Twitterskandale, bei denen vor allem sich als links bezeichnende Personen denunziert und verurteilt wurden. Zum Teil war das, was sie gesagt hatten, bedenklich; trotzdem hinterließ die Art und Weise, wie sie persönlich angegriffen und fertig gemacht wurden, einen üblen Nachgeschmack: das miefige Gefühl von schlechtem Gewissen und inquisitorischem Moralismus. Der Grund, warum ich bei keinem dieser Vorfälle meine Stimme erhoben habe, ist – und ich schäme mich, das zu sagen – Angst. Die Mobber waren am anderen Ende des Spielplatzes und ich wollte ihre Aufmerksamkeit nicht auf mich ziehen.

Die offene Brutalität dieser Diskussionen wurde von etwas begleitet, das noch verbreiteter war und darum noch lähmender ist: einer Atmosphäre höhnischen Ressentiments. Das häufigste Ziel dieses Ressentiments ist Owen Jones und die Angriffe auf Jones – der in den letzten Jahren am meisten für die Bildung des Klassenbewusstseins in Großbritannien getan hat – waren ein Grund, warum ich so niedergeschlagen war. Wenn das einem Linken widerfährt, der erfolgreich den Kampf in die Mitte der britischen Gesellschaft trägt, warum sollte ihm irgendjemand in den Mainstream folgen wollen? Ist die einzige Möglichkeit, diesen konstanten Tropf von Beleidigungen zu vermeiden, dass man in einer Position der machtlosen Marginalität bleibt?

Eines der Dinge, die mich aus meiner Depression herausholten, war der Besuch der Volksversammlung in Ipswich, in der Nähe meines Zuhauses. Die Veranstaltung hatte als Reaktion den üblichen Spott und Hohn hervorgerufen. Man sagte uns, dass es nicht mehr als ein nutzloser Stunt sein würde, bei dem sich Medienlinke, einschließlich Jones, in einer erneuten Zurschaustellung von hierarchischer Promikultur selbst feierten. Was tatsächlich bei der Versammlung geschah, war etwas völlig anderes als diese Karikatur.

Die erste Hälfte des Abends, deren Höhepunkt eine leidenschaftliche Rede von Owen Jones war, wurde sicherlich von den prominenten Sprechern dominiert. Doch in der zweiten Hälfte sah man Aktivisten aus der Arbeiterklasse aus ganz Suffolk miteinander sprechen und sich unterstützen, man teilte Erfahrungen und Strategien. Die Volksversammlung war kein weiteres Beispiel hierarchischer, linker Politik, sondern zeigte, wie das Vertikale mit dem Horizontalen kombiniert werden kann: Mediale Macht und Charisma zogen Leute an, die noch nie bei einer politischen Versammlung gewesen waren, und die Volksversammlung gab ihnen die Möglichkeit, mit erfahrenen Aktivisten zu sprechen und strategisch zu planen. Die Atmosphäre war antirassistisch und antisexistisch, aber erfrischend frei von jenem paralysierenden Gefühl der Schuld und des Misstrauens, das die linken Twitterdebatten durchzieht wie ein scharfer, erstickender Nebel.

Und dann ist da Russell Brand. Ich bin schon lange ein Bewunderer von Brand, einem der wenigen Spitzencomedians der Gegenwart, die aus der Arbeiterklasse kommen. In den letzten Jahren gab es einen graduellen, aber gnadenlosen Prozess der Verbürgerlichung der Fernsehcomedy, mit lächerlichen, aufgeblasenen Einfaltspinseln wie Michael McIntyre und einem traurigen, faden Haufen junger Karrieristen, die die Bühne beherrschen.

Am Tag bevor Russell Brands inzwischen berühmtes Interview mit Jeremy Paxman bei Newsnight gesendet wurde, sah ich seine Stand-up-Show im Messiah Complex in Ipswich. Die Show war dezidiert pro-migrantisch, pro-kommunistisch, anti-homophob, voller proletarischer Klugheit (und ohne Angst, sie zu zeigen), sowie queer in einer Art und Weise, wie es die Popkultur früher einmal war (das heißt, sie hatte nichts zu tun mit der verbitterten, identitären Frömmelei, die uns die Moralisten der poststrukturalistischen »Linken« aufzwingen).

Malcolm X, Che, Politik als psychedelische Dekonstruktion der herrschenden Realität: Dieser Kommunismus war cool, sexy und proletarisch, keine Predigt mit erhobenem Zeigefinger. Am Abend nach dem Interview war klar, dass es einen Bruch gegeben hatte. Für einige von uns war Brands mit forensischer Genauigkeit vollzogener Sieg über Paxman wirklich bewegend, fast wie ein Wunder. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal gesehen habe, dass jemandem aus der Arbeiterklasse der Raum gegeben wurde, mit Intelligenz und Vernunft einen Vertreter der herrschenden Klasse zu schlagen.

Das war nicht Johnny Rotten, wie er Bill Grundy anschreit – ein antagonistischer Akt, der Klassenklischees eher zementierte als herausforderte. Brand hingegen überflügelte Paxman – und es war sein Humor, mit dem sich Brand von der Griesgrämigkeit eines Großteils der Linken unterschied. Brand sorgt dafür, dass sich Menschen wohl in ihrer Haut fühlen; die moralisierende Linke hingegen ist darauf spezialisiert, dass sich Leute schlecht fühlen, und ist nicht zufrieden, bis alle Köpfe hängen, voll Schuldbewusstsein und Selbsthass.

Die moralisierende Linke hat schnell dafür gesorgt, dass es nicht um Brands einzigartige Subversion der Diskussionskonventionen von Mainstreamdebatten ging, oder um seine Behauptung, dass es eine Revolution geben wird. (Nur die verstopften Ohren der narzisstischen, kleinbürgerlichen »Linken« konnten letzteres so verstehen, dass Brand die Revolution anführen wollen würde – worauf sie mit dem typischen Ressentiment antworteten: »Ich brauche keinen aufgeblasenen Prominenten, der mich führt.«) Für die Moralisten war die wichtigste Geschichte Brands persönliches Verhalten – vor allem sein Sexismus. In der fieberhaften, an die Zeiten McCarthys erinnernden Atmosphäre, die die moralisierende Linke geschaffen hat, bedeuten Bemerkungen, die als sexistisch ausgelegt werden können, dass Brand ein Sexist ist, was dann wiederum auch heißt, dass er misogyn ist. Hier ist die Schablone, fertig ist das Urteil.

Es ist richtig, dass sich Brand, wie jeder von uns, für sein Verhalten und seine Sprache verantworten muss. Doch eine solche Debatte sollte auf der Grundlage von Verbundenheit und Solidarität stattfinden, und vielleicht nicht in erster Linie in der Öffentlichkeit – obwohl Brand, als er von Mehdi Hasan zu dem Thema befragt wurde, genau die gutgelaunte Bescheidenheit zeigte, die den steinernen Gesichtern seiner Kritiker abgeht: »Ich glaube nicht, dass ich sexistisch bin, aber ich muss an meine Großmutter denken, der wunderbarste Mensch, den ich jemals gekannt habe. Sie war eine Rassistin und ich glaube nicht, dass ihr das bewusst war. Ich weiß nicht, ob es bei mir nicht noch einen kulturellen Rest gibt, ich weiß, dass ich proletarische Sprachformen wie ›Darling‹ oder ›Bird‹ sehr liebe, und wenn Frauen glauben, dass ich sexistisch bin, dann sind sie in einer besseren Position, das zu beurteilen, als ich, also werde ich daran arbeiten.«

Bei Brands Intervention ging es nicht darum, irgendeine Führungsrolle zu übernehmen; es war eine Inspiration, ein Aufruf zum Kampf. Und mich zumindest hat er inspiriert. Ein paar Monate zuvor wäre ich noch stumm geblieben, als die moralische und säuerliche Salonlinke sich in Rufmordkampagnen erging und Brand in ihren Affentribunalen vorführte – wobei die »Beweise« meistens aus den rechten Medien kamen, die immer gern zur Verfügung stehen –, aber diesmal war ich auf einen Konflikt vorbereitet. Die Reaktion auf Brand wurde schnell genauso wichtig wie das Interview mit Paxman selbst. Wie Laura Oldfield Ford schrieb, schaffte der Moment Klarheit. Und eine Sache, die mir klar wurde, war die Art und Weise, wie in den letzten Jahren große Teile der selbsterklärten »Linken« das Problem der Klasse verdrängt haben.

Klassenbewusstsein ist fragil und flüchtig. Das Kleinbürgertum, das die Universitäten und die Kulturindustrie dominiert, beherrscht eine ganze Reihe subtiler Mechanismen der Ablenkung und Umschiffung, die dafür sorgen, dass das Thema gar nicht erst aufkommt – und selbst wenn es einmal angesprochen wird, geben sie einem das Gefühl, dass man eine schreckliche Unverschämtheit begangen hat, dass man gegen die Etikette verstoßen hat, als man es erwähnte. Ich halte inzwischen seit Jahren Vorträge auf linken und antikapitalistischen Veranstaltungen, aber ich habe in der Öffentlichkeit kaum über Klasse gesprochen – geschweige denn, dass ich danach gefragt wurde.

Doch als das Thema wieder aufgetaucht war, konnte man nicht anders, als es überall in der Brand-Affäre zu sehen. Mindestens drei Linke, die auf eine Privatschule gegangen waren, haben Brand schnell verurteilt und infrage gestellt. Andere haben uns erzählt, Brand könne gar nicht zur Arbeiterklasse gehören, weil er Millionär ist. Es ist alarmierend, wie viele Linke den Impuls hinter Paxmans Frage zu teilen scheinen: »Woher nimmt diese Person aus der Arbeiterklasse die Autorität, das Wort zu erheben?« Ebenso beunruhigend, ja erschütternd, ist, dass sie zu glauben scheinen, Leute aus der Arbeiterklasse müssten arm, unbekannt und machtlos sein, wenn sie nicht ihre »Authentizität« verlieren möchten.

Jemand hat mir einen Post über Brand auf Facebook weitergeleitet. Ich kenne die Person nicht, die ihn geschrieben hat, und ich möchte ihren Namen nicht nennen. Worum es geht, ist, dass der Post symptomatisch für eine Arroganz und Herablassung ist, die man offenbar zur Schau stellen kann, während man sich immer noch als links bezeichnet. Der ganze Ton war selbstgefällig, als ob ein Lehrer die Hausaufgaben eines Kindes benotet oder ein Psychiater einen Patienten diagnostiziert. Brand sei »enorm instabil … eine schlechte Beziehung oder ein Rückschlag in der Karriere reichen, um wieder in Drogenabhängigkeit oder schlimmeres zu verfallen«. Obwohl die Person behauptet, dass sie Brand »wirklich mag«, kommt es ihr niemals in den Sinn, dass einer der Gründe,
warum Brand vielleicht »instabil« ist, diese herablassende, scheinbar über den Dingen stehende »Beurteilung« der »linken« Bourgeoisie sein könnte. Außerdem gibt es da diese schockierende und zugleich entlarvende Nebenbemerkung, in der die Person beiläufig auf Brands »lückenhafte Bildung« und die »Fehler im Vokabular, die für Autodidakten charakteristisch sind, und bei denen man oft zusammenzuckt« verweist – mit denen, wie die Person großzügig erklärt, sie »gar kein Problem« habe – wie nett von ihr! Es handelt sich hier nicht um einen kolonialistischen Bürokraten, der im 19. Jahrhundert darüber schreibt, wie er versucht, ein paar »Eingeborenen« die englische Sprache beizubringen oder um einen viktorianischen Schulmeister an einer privaten Einrichtung, der einen Jungen mit einem Stipendium beschreibt, sondern um einen »Linken« von vor ein paar Wochen.

Wie gehen wir damit um? Zunächst ist es nötig, die Merkmale des Diskurses und das Begehren zu identifizieren, das uns auf diesen düsteren und demoralisierenden Weg gebracht hat, wo die Klasse verschwunden ist, überall Moralismus herrscht und Solidarität unmöglich ist, aber Schuld und Angst omnipräsent sind – und zwar nicht, weil wir von der Rechten terrorisiert werden, sondern weil wir zugelassen haben, dass bürgerliche Formen der Subjektivität unsere Bewegung vergiften. Ich glaube, es gibt zwei libidinös-diskursive Konfigurationen, die diese Situation hervorgebracht haben. Sie nennen sich links, aber wie die Brand-Affäre gezeigt hat, gibt es viele Hinweise darauf, dass die Linke – verstanden als Akteur im Klassenkampf – so gut wie verschwunden ist.

Die erste Konfiguration habe ich das Vampirschloss genannt. Im Vampirschloss ist man darauf spezialisiert, Schuld zu erzeugen. Man wird angetrieben von dem Wunsch des Priesters, zu exkommunizieren und zu verdammen, dem Begehren des pedantischen Akademikers, der erste zu sein, der einen Fehler entdeckt, und dem Bedürfnis des Hipsters, Teil einer kulturellen Avantgarde zu sein. Wenn man das Vampirschloss angreift, besteht die Gefahr, dass es so aussieht – und es wird alles dafür tun, damit dieser Eindruck entsteht –, als ob man auch den Kampf gegen Rassismus, Sexismus und Heterosexismus attackieren würde. Aber das Vampirschloss ist nicht der einzig legitime Ausdruck dieser Kämpfe, sondern man muss es als bürgerlich-liberale Perversion und Aneignung der Energie dieser Bewegungen verstehen. Das Vampirschloss entstand in dem Moment, als der Kampf darum, nicht durch Identitätskategorien definiert zu werden, in die Suche nach »Identitäten« umschlug, die von dem bürgerlichen, großen Anderen anerkannt werden.

Das Privileg, das ich als weißer Mann sicherlich genieße, besteht zum Teil darin, dass ich mir meiner Ethnizität und meines Geschlechts nicht bewusst bin, und es ist eine ernüchternde und erhellende Erfahrung, auf diese blinden Flecke aufmerksam gemacht zu werden. Doch anstatt für eine Welt zu kämpfen, in der alle von Identitätszuschreibungen befreit sind, möchte das Vampirschloss die Leute wieder in Identitäten hineinzwängen, wo sie für immer den Regeln der herrschenden Macht unterworfen sind, wo ihr Selbstbewusstsein verkümmert und sie aufgrund einer solipsistischen Logik isoliert werden, die darauf beharrt, dass wir uns nicht verstehen, wenn wir nicht zur selben Identitätsgruppe gehören.

Mir ist ein faszinierender, magisch-inversiver Projektions- und Verleugnungsmechanismus aufgefallen, der dafür sorgt, dass die bloße Erwähnung von Klasse automatisch so wirkt, als würde man die Bedeutung von Herkunft und Geschlecht herunterspielen. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall, insofern das Vampirschloss ein in letzter Instanz bürgerliches Verständnis von Herkunft und Geschlecht benutzt, um Klasse zu verdecken. In all den absurden und traumatischen Twitterdebatten über Privilegien zu Beginn dieses Jahres fiel auf, dass die Diskussion über Klassenprivilegien vollkommen abwesend war. Die Aufgabe besteht immer noch darin, Klasse, Geschlecht und Herkunft zur Sprache zu bringen – doch der fundamentale Impuls des Vampirschlosses ist es, Klasse von anderen Kategorien abzulösen.

Das Problem, das das Vampirschloss lösen wollte, war folgendes: Wie kann man enormen Reichtum und Macht besitzen und trotzdem als marginal, als widerständig und als Opfer gelten? Die Lösung dafür gab es schon – in der christlichen Kirche. Deswegen kann das Vampirschloss auf all die infernalischen Strategien, die dunklen Pathologien und psychologischen Folterinstrumente zurückgreifen, die das Christentum erfunden hat und die Nietzsche in der Genealogie der Moral beschreibt. Dieses Priestertum des schlechten Gewissens, das Nest der frommen Schuldtreiber, ist genau das, was Nietzsche meinte, als er voraussagte, dass etwas Schlimmeres als das Christentum bereits auf dem Weg sei. Und Das Vampirschloss zehrt von den Energien, Ängsten und Verletzlichkeiten junger Studierender, aber vor allem lebt es davon, das Leiden einzelner Gruppen – je »marginaler« umso besser – in akademisches Kapital umzumünzen. Die meistgepriesenen Figuren des Vampirschlosses sind jene, die einen neuen Markt des Leidens entdecken – und wer eine Gruppe findet, die noch unterdrückter und marginaler ist, als die vorige, wird schnell in der Hierarchie aufsteigen.

Das erste Gesetz des Vampirschlosses: Individualisiere und privatisiere alles.

Obwohl man theoretisch immer für eine strukturelle Kritik ist, konzentriert man sich praktisch auf nichts anderes als individuelle Verhaltensweisen. Einige aus der Arbeiterklasse hatten keine so gute Erziehung und können manchmal etwas grob sein. Vergiss niemals: Individuen zu verurteilen, ist immer wichtiger, als auf unpersönliche Strukturen zu achten. Die tatsächlich herrschende Klasse propagiert eine Ideologie des Individualismus, während sie zugleich dazu neigt, als Klasse zu handeln. (Vieles von dem, was wir »Verschwörungen« nennen, ist eigentlich die herrschende Klasse, wie sie Klassensolidarität zeigt.) Das Vampirschloss, als nützlicher Idiot der Herrschenden, tut das Gegenteil: Es formuliert ein Lippenbekenntnis der »Solidarität« und »Kollektivität«, während es zugleich so tut, als ob die individualistischen Kategorien, die die Macht installiert, wirklich gelten würden. Weil sie bis ins Innerste kleinbürgerlich sind, verhalten sich die Bewohner des Vampirschlosses enorm kompetitiv, allerdings wird dies in der passiv-aggressiven Weise verdrängt, die für die Bourgeoisie typisch ist. Was sie zusammenhält, ist nicht Solidarität, sondern gemeinsame Angst – die Angst, dass sie die nächsten sein könnten, die geoutet, entlarvt und verurteilt werden.

Das zweite Gesetz des Vampirschlosses: Lass Denken und Handeln als sehr, sehr schwer erscheinen.

Es darf keine Leichtigkeit geben, geschweige denn Humor. Humor ist schließlich an sich schon nicht ernst, oder? Denken ist harte Arbeit, gemacht für Leute mit feinen Stimmen und gerunzelter Stirn. Wo Selbstbewusstsein ist, stifte Skepsis. Sag: Nicht so schnell, wir müssen genauer darüber nachdenken. Denk dran: Überzeugungen zu haben, ist repressiv und könnte den Gulag zur Folge haben.

Das dritte Gesetz des Vampirschlosses: Erzeuge so viel Schuld, wie du kannst.

Je mehr Schuld, umso besser. Menschen müssen sich schlecht fühlen: Es zeigt, dass man den Ernst der Dinge versteht. Es ist okay, Klassenprivilegien zu besitzen, wenn man sich schuldig fühlt und andere in einer niedrigeren Klassenposition dazu bringt, sich auch schuldig zu fühlen. Du hast viel für die Armen getan, nicht wahr?

Das vierte Gesetz des Vampirschlosses: Essenzialisiere.

Obwohl die Bewohner des Vampirschlosses immer deklarieren, dass Identitäten fluide, plural und multipel sind – zum Teil, um ihren ausnahmslos wohlhabenden, privilegierten und bürgerlich-assimilatorischen Hintergrund zu verschleiern –, muss der Feind stets essenzialisiert werden. Da das Begehren, das im Vampirschloss herrscht, im Wesentlichen das des Priesters nach Exkommunikation und Verdammung ist, braucht es eine starke Unterscheidung zwischen Gut und Böse, wobei letzteres essenzialisiert gehört. Man beachte die Taktik: X hat etwas gesagt / sich in einer bestimmten Weise verhalten – diese Bemerkungen / dieses Verhalten kann als transphob/sexistisch und so weiter aufgefasst werden. So weit, so gut. Aber auf den nächsten Schritt kommt es an: X wird dann als transphob/sexistisch identifiziert. Die ganze Identität wird durch eine unüberlegte Bemerkung oder falsches Verhalten definiert.

Sobald das Vampirschloss seine Hexenjagd begonnen hat, kann das Opfer (das oft aus der Arbeiterklasse kommt und die passiv-aggressive Etikette der Bourgeoisie nicht gelernt hat) zuverlässig dazu gebracht werden, die Fassung zu verlieren und damit seine Position als Pariah / jüngstes Opfer zementieren.

Das fünfte Gesetz des Vampirschlosses: Denke wie ein Liberaler (denn Du bist einer).

Die Arbeit des Vampirschlosses, immer neue reaktive Empörung anzustacheln, besteht darin, immer wieder das Offensichtliche zu bestätigen: Das Kapital verhält sich wie das Kapital (es ist nicht sehr nett!), repressive Staatsapparate sind repressiv. Wir müssen protestieren!

Neoanarchy in the UK
Die zweite libidinöse Formation ist der Neoanarchismus. Damit meine ich auf keinen Fall Anarchisten oder Syndikalisten, die tatsächlich Arbeiter organisieren, wie die Solidarity Federation. Ich meine vielmehr jene, die sich als Anarchisten begreifen, aber deren Politik nicht viel mehr umfasst als Studierendenproteste und Besetzungen sowie Kommentare auf Twitter. Wie die Bewohner des Vampirschlosses kommen Neoanarchisten meist aus dem Kleinbürgertum, wenn nicht aus einer noch höheren Klasse.

Sie sind außerdem meist jung: in ihren Zwanzigern oder höchstens frühen Dreißigern, weswegen ihre neoanarchistische Position auf einem schmalen historischen Horizont beruht. Neoanarchisten kennen nichts anderes als den kapitalistischen Realismus. Zum Zeitpunkt der Politisierung der Neoanarchisten – und viele von ihnen wurden erst vor sehr kurzer Zeit politisiert, wenn man sich das Ausmaß an auftrumpfender Angeberei anschaut – war die Labour Party bereits von Blair ausgehöhlt und hatte sich dem Neoliberalismus mit einer kleinen Dosis sozialer Gerechtigkeit verschrieben. Doch das Problem mit dem Neoanarchismus ist, dass er, ohne es zu wissen, einen historischen Moment widerspiegelt, anstatt einen Ausweg aus ihm zu bieten. Er vergisst, oder hat tatsächlich nie gewusst, welche Rolle Labour in der Verstaatlichung großer Industrien und Infrastrukturen oder bei der Gründung des Nationalen Gesundheitsdienstes NHS gespielt hat. Neoanarchisten werden behaupten, dass »parlamentarische Politik noch nie etwas geändert hat« oder dass »Labour schon immer nutzlos war«, während sie Demonstrationen für das Gesundheitssystem besuchen oder Kritiken über die Demontage der Überreste des Sozialstaates retweeten. Darin liegt eine merkwürdige, implizite Regel: Es ist in Ordnung, gegen das Parlament zu protestieren, aber es ist nicht in Ordnung, ins Parlament oder die Massenmedien zu gehen, um von dort aus zu versuchen, etwas zu verändern. Die Mainstreammedien müssen verachtet werden, aber Question Time auf BBC sollte man schauen und sich auf Twitter darüber beschweren. Purismus gleitet über in Fatalismus; lieber nicht von der Korruption des Mainstreams befleckt werden, lieber hilflos »Widerstand leisten«, anstatt zu riskieren, sich die Hände schmutzig zu machen.

Es ist darum kein Wunder, dass viele Neoanarchisten depressiv wirken. Diese Depressionen werden durch die Ängste des Lebens nach dem Studium ohne Zweifel noch verstärkt, da der Neoanarchismus, wie das Vampirschloss, an den Universitäten seine natürliche Umgebung findet und mehrheitlich von Leuten vertreten wird, die gerade ihren Abschluss gemacht haben oder noch weiter an der Universität bleiben.

Was tun?
Warum haben diese beiden Konfigurationen so überhandgenommen? Der erste Grund besteht darin, dass sie unter dem Kapital gedeihen konnten, weil sie seinen Interessen dienen. Das Kapital hat die organisierte Arbeiterklasse gebändigt; es hat das Klassenbewusstsein fragmentiert, indem es die Gewerkschaften unterworfen und gleichzeitig die »hart arbeitenden Familien« dazu verführt hat, sich auf ihre eng definierten Interessen zu beschränken, anstatt auf die Interessen der größeren Klasse. Aber warum sollte sich das Kapital über eine »Linke« Sorgen machen, die Klassenpolitik durch moralisierenden Individualismus ersetzt und die, anstatt Solidarität zu fördern, Angst und Unsicherheit verbreitet?

Der zweite Grund ist das, was Jodi Dean den »kommunikativen Kapitalismus« genannt hat. Vielleicht könnte man das Vampirschloss und den Neoanarchismus ignorieren, gäbe es da nicht den kapitalistischen Cyberspace. Das fromme Moralisieren des Vampirschlosses kennzeichnet eine bestimmte »Linke« schon seit Jahren – aber wenn man nicht Mitglied dieser spezifischen Kirche war, konnte man ihre Predigten meiden. Durch die Sozialen Medien ist das nicht mehr der Fall und es gibt kaum Schutz vor den psychischen Pathologien, die diese Diskurse propagieren.

Was können wir also tun? Zunächst ist von enormer Wichtigkeit, Identitätspolitik abzulehnen und anzuerkennen, dass es keine Identitäten, sondern nur Begehren, Interessen und Identifikationen gibt. Ein wichtiger Aspekt der britischen Cultural Studies – die in John Akomfrahs Installation »The Unfinished Conversation« (derzeit in der Tate Britain) und seinem Film The Stuart Hall Project so beeindruckend und bewegend inszeniert werden – bestand darin, dass sie sich dem identitären Essenzialismus widersetzt haben. Anstatt die Menschen in die Ketten bereits bestehender Kategorien zu zwängen, ging es darum, jede Artikulation als provisorisch und künstlich zu begreifen. Neue Artikulationen kann es immer geben. Keine davon ist essenziell. Leider handelt die Rechte mehr nach dieser Prämisse als die Linke. Die bürgerlich-identitäre Linke weiß, wie man Schuld erzeugt und eine Hexenjagd veranstaltet, aber sie weiß nicht, wie man Ungläubige überzeugt. Aber darum geht es ihr auch nicht. Das Ziel ist nicht, eine linke Position zu popularisieren oder Leute zu gewinnen, sondern in einer Position der elitären Überlegenheit zu bleiben, bei der die Überlegenheit als Klasse durch moralische Überlegenheit verdoppelt wird. »Wie kannst du es wagen, zu sprechen – wir sind es, die für die Leidenden das Wort erheben!«

Die Ablehnung von Identitätspolitik kann jedoch nur gelingen, wenn die Bedeutung von Klasse wieder hervorgehoben wird. Eine Linke, die im Kern nicht an Klasse orientiert ist, kann nichts anderes als eine liberale Lobbygruppe sein.

Klassenbewusstsein hat immer einen Doppelcharakter: Es bedeutet ein Wissen um die Art und Weise, wie Klasse Erfahrung formt und strukturiert, und ein Wissen um die besondere Position, die wir innerhalb der Klassenstruktur einnehmen. Wir dürfen nicht vergessen, dass es nicht um eine Anerkennung durch die Bourgeoisie geht, noch nicht einmal um die Zerstörung der Bourgeoisie. Es ist die Klassenstruktur – eine Struktur, die alle verletzt, selbst die, die von ihr profitieren –, die zerstört werden muss. Die Interessen der Arbeiterklasse sind die Interessen von allen; die Interessen der Bourgeoisie sind die Interessen des Kapitals, was wiederum die Interessen von niemandem sind. Unser Kampf muss auf die Konstruktion einer neuen und überraschenden Welt zielen, nicht auf die Erhaltung von durch das Kapital geformten und verzerrten Identitäten.

Wenn das wie eine verbotene und abschreckende Aufgabe wirkt, dann stimmt das. Es ist jedoch möglich, viele präfigurative Dinge im Jetzt zu unternehmen. Tatsächlich sind diese Aktivitäten mehr als präfigurativ – sie könnten zu einer Kettenreaktion führen, einer selbsterfüllenden Prophezeiung, in der die bürgerlichen Formen der Subjektivität demontiert werden und sich eine neue Universalität entwickelt. Wir müssen lernen oder wieder-lernen, wie Verbundenheit und Solidarität entstehen können, anstatt die Arbeit des Kapitals zu übernehmen, indem wir uns verurteilen und beschimpfen. Das heißt natürlich nicht, dass wir immer einer Meinung sein müssen – im Gegenteil, wir müssen Bedingungen schaffen, in denen es Uneinigkeit geben kann, ohne die Angst vor Ausschluss und Exkommunikation.

Wir müssen strategisch darüber nachdenken, wie wir die Sozialen Medien nutzen – und dabei nie vergessen, dass es sich, trotz des Egalitarismus, den die libidinösen Ingenieure des Kapitals propagieren, dabei im Moment um das Terrain des Feindes handelt, auf dem es um die Reproduktion des Kapitals geht. Doch das bedeutet nicht, dass wir dieses Gebiet nicht besetzen können, um darauf Klassenbewusstsein zu fördern.

Wir müssen aus der »Debatte«, zu der wir vom kommunikativen Kapital ständig überredet werden, ausbrechen und uns daran erinnern, dass es um den Klassenkampf geht. Das Ziel ist nicht, ein Aktivist »zu sein«, sondern der Arbeiterklasse dabei zu helfen, sich selbst zu aktivieren – und zu transformieren. Außerhalb des Vampirschlosses ist alles möglich.

Erschienen in k-punk. Ausgewählte Schriften (2004-2016) von Mark Fisher
29.03.2022, 14:04

Quelle des Bezahlartikels: https://jacobin.de/artikel/raus-aus-dem-vampirschloss-mark-fisher-kpunk/