Ist die Solidaritätsbewegung zum Ampelokipi-Fall in Athen pervers?
Ralf Dreis verbreitet diese These auf dem Blog anarchismus.de mit den Worten: „Die Inschrift eines Transparents zum Tod von Kyriákos Ximitíris steht exemplarisch für die perverse Heldenverehrung von Mitgliedern bewaffneter Gruppen in Griechenland. Öffentliche Kritik am Umgang mit Sprengstoff oder am Konzept des bewaffneten Kampfes ist aus der anarchistischen Bewegung bisher kaum zu vernehmen.“ Dabei bezieht er sich auf ein Transparent mit der Aufschrift „Wer im Kampf fällt, wird unsterblich sein“. (aus https://anarchismus.de/blog/aktuelles/toter-anarchist-nach-bombenexplosi…)
Ich halte das für eine falsche und gefährliche These und versuche es hiermit zu begründen. Pervers wird im Duden wie folgt definiert;
[1] abwertend: (oft in sexuellem Zusammenhang) entartet, verkehrt, nicht den (moralischen) Konventionen entsprechend[2] nicht logisch folgerichtig zueinanderpassend, verkehrt, widersinnig
Synonyme:
[1] abartig, abnormal, fetischistisch, schöpfungswidrig, widernatürlich, sittlich verdorben
[2] verkehrt, widersinnig
Gegenwörter:
[1] artig, normal, zivilisiert
[2] logisch
Zunächst einmal wäre es nett gewesen, wenn Ralf Dreis die Entscheidung der in diesem Fall Inhaftierten bezüglich der Namensnennung akzeptiert hätte. Nämlich auf die Ausschreibung der Nachnamen zu verzichten. Stattdessen übernimmt er in seinem Beitrag die Schreibweise der griechischen Polizei- und Boulevardpresse.
Obwohl der Gebrauch von Sprengstoff und Schusswaffen in der anarchistischen Bewegung in den letzten 15 Jahren zurückgegangen und inzwischen fast vollkommen versiegt ist, beschwert sich Ralf Dreis,
„Der Schock über den Tod des von vielen geschätzten Genossen Xymitíris, und die folgende staatliche Repression, scheinen bisher keinerlei Widerspruch zuzulassen. Im Gegenteil, in Flugblättern und Redebeiträgen, auf Demos oder Transparenten wird der „Widerstand mit vielfältigen Mitteln“ verteidigt, womit auch Waffen gemeint sind. Dabei dürfte 2024, und den weltweiten Entwicklungen der letzten Jahre längst klar sein, dass wir im Kampf gegen die zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit nicht noch mehr Waffen und tote Helden, sondern lebendige, phantasievolle Genoss:innen voller Lebensfreude und Widerstandsgeist brauchen.“ (aus https://anarchismus.de/blog/aktuelles/toter-anarchist-nach-bombenexplosi…)
Bislang liegen uns keine Informationen über die Hintergründe der Explosion am 31.10. vor, weil Marianna aus gutem Grund dazu geschwiegen hat. Auf den öffentlichen Versammlungen zu dem Fall wurde auch über den bewaffneten Kampf diskutiert und zwar mit dem Ergebnis, dass dieser ein Teil des polymorphen Kampfes ist. Eben ein Teil unter vielen und nicht die hauptsächliche Eigenschaft auf die man Kyriakos nicht reduzieren will. Insofern haben alle Texte, Parolen und Transparente die zum Tod von Kyriakos auftauchen auch immer eine metaphorische Bedeutung.
Um diese zu erfassen, ist es vorteilhaft sich mit der Geschichte des bewaffneten Widerstands in Griechenland auseinanderzusetzen, von 1821 gegen das Osmanische Reich, die deutsche Besatzung 1941-1944, dem Widerstand gegen die Obristen von 1967-1974, dem Kampf von 17N und den zahlreichen anarchistischen Angriffen gegen das Regime während der Metapolitefsi. Es wäre auch hilfreich für Ralf Dreis gewesen bei den öffentlichen Memorials für Kyriakos anwesend zu sein um die Dynamik der Situation zu erkennen.
Warum erwartet er ausgerechnet jetzt eine öffentliche Distanzierung vom bewaffneten Kampf? Die Widersprüche und Risiken werden ausführlich diskutiert, die Bedeutung des Wunsches nach einer bleibenden Erinnerung an Kyriakos ist ständiges Thema für Viele.
Mit seinen Worten schreibt Ralf Dreis den Betroffenen in diesem Fall die Schuld für ihr Schicksal zu, weil ihnen nicht „längst klar“ klar sei, dass der bewaffnete Kampf nicht gebraucht werde. Er grätscht hier geschickt in die Lücke, die zwischen der Weigerung zur Selbstviktimisierung und der Verantwortung des kapitalistischen Systems für die Verhältnisse besteht. Kyriakos ist eben kein Opfer eines Unfalls sondern ein anarchistischer Kämpfer der seine konsequente Haltung mit dem Leben bezahlt hat. Dessen Konsequenz in den Bereich der Sinnlosigkeit zu zerren und der Bewegung, die in der Angelegenheit sehr diverse Positionen widerspiegelt, Perversion vorzuwerfen, empfinde ich als Fußtritt ins Gesicht aller, die auf den Straßen, an den Grenzen und in den Knästen dem mörderischen Programm von Nea Dimokratia entgegen treten.
Unabhängig davon, dass der Autor auch gute Beiträge veröffentlicht hat (z.B.: https://anarchismus.de/blog/aktuelles/romafeindliche-mordlust-soll-vertu…), ist seine Abschlussfrage „Was bleibt, ist die Frage, wie weiter im Kampf gegen die autoritäre Mitsotákis-Regierung und die Barbarei des alles zerstörenden Kapitalismus?“ eine rhetorische Blase. Ralf Dreis findet Rouvikonas gut (https://anarchismus.de/blog/aktuelles/angriff-mit-vorschlaghaemmern-gege…). Eine Gruppe, die gedroht hat Indymedia Athen zu schließen, wenn dort weiterhin Stellungnahmen der Ex-Partnerin eines Rouvikonas Mitglieds veröffentlicht werden. Die Frau wurde inhaftiert nachdem sie in Notwehr den übergriffigen Mann erstochen hatte.
Weiterhin zitiert Ralf Dreis häufig Syriza Stimmen, eine Partei unter deren Regierung die staatliche Gewalt nicht ausgesetzt war, und MeRA25 von Yanis Varoufakis. Der ehemalige Finanzminister veranlasste eine Festnahmewelle, nachdem ihm beim Besuch eines Restaurants in Exarchia die Nase gebrochen wurde.
Warum hat Ralf Dreis seine Kritik nicht auf Indymedia Athen veröffentlicht? Es geht ihm augenscheinlich darum, im deutschsprachigen Milieu den bewaffneten Kampf zu diskreditieren und eine anarchosyndikalistische, pazifistische Auslegung der Anarchie zu beschwören. So wie schon häufiger von deutschen Wohnzimmern aus auch die Bewegung in Chile für ihr Gedenken an gefallene Kämpfer*innen (u.a. Mauricio Morales) kritisiert wurde.
Zum Weiterlesen, eine ältere Debatte:
https://www.abc-berlin.net/2008/brief-an-die-anarchistische-galaxie
und Antwort
https://linksunten.indymedia.org/de/node/53988/