BfV-Schlaglicht: Radikalisierung im gewaltorientierten Linksextremismus

Im gewaltorientierten Linksextremismus zeigt sich bundesweit ein hohes Radikalisierungsniveau. Insbesondere in Berlin, Hamburg und Sachsen, aber auch in Bayern, Bremen, Nordrhein-Westfalen und Thüringen liegen Anhaltspunkte dafür vor, dass sich ein kleiner Teil der Szene zunehmend radikalisiert. Vor allem in Leipzig erreicht die gewaltorientierte linksextremistische Szene durch von ihr verübte Straf- und Gewalttaten eine neue Eskalationsstufe.

Die Radikalisierung lässt sich an zwei Indikatoren messen: an der qualitativen Veränderung der Taten und an der Veränderung der linksextremistischen Szene selbst.

Veränderung linksextremistischer Taten

Linksextremistische Gewalt wird zunehmend aggressiver, gezielter, enthemmter und personenorientierter. Dabei findet ein Wechsel der Aktionsformen von Massenmilitanz hin zu klandestinen Kleingruppenaktionen statt.

In der Vergangenheit äußerte sich linksextremistische Gewalt vor allem in Form von Massenmilitanz im Rahmen von großen Versammlungslagen im städtischen Raum. Diese großen Versammlungslagen haben in letzter Zeit abgenommen. Aber auch die noch stattfindenden Kundgebungen und Demonstrationen wachsen sich immer seltener zu großen Unruhen aus, was von der Szene seit Jahren beklagt wird. Als Reaktion darauf ist zu beobachten, dass sich eher kleine Gruppen gewaltbereiter Linksextremisten auf gezielte Aktionen im Umfeld, aber auch völlig losgelöst von Versammlungslagen konzentrieren. Die Vorbereitung verläuft dabei sehr planvoll, im kleinsten Kreis und vom Rest der Szene isoliert.

Die Zielauswahl linksextremistischer Angriffe verschiebt sich dabei immer häufiger von einer institutionellen auf eine persönliche Ebene. Opfer werden gezielt ausgesucht und in ihrem persönlichen Rückzugsraum angegriffen. Ziel ist in den meisten Fällen Einschüchterung – nicht nur der angegriffenen Person, sondern auch des Umfelds oder der Gruppierung, die sie aus linksextremistischer Sicht repräsentiert. Hohe Sachschäden und Körperverletzungen sind dabei meist eher Mittel zum Zweck: Der Schaffung eines Klimas der Angst, wodurch die unmittelbar oder mittelbar Betroffenen von einem konkreten Handeln oder der freien Meinungsäußerung abgehalten werden sollen.

Erkennbar ist dabei auch eine Erweiterung des Zielspektrums linksextremistischer Gewalt. Bisher richteten sich körperliche Angriffe abseits von Demonstrationslagen grundsätzlich gegen Polizeibeamte und der Szene als solche bekannte Rechtsextremisten. Nun werden auch der Szene unbekannte Dritte, die lediglich einen Zusammenhang zu vermeintlichen Gegnern der Szene haben, Opfer persönlicher Angriffe.

Insbesondere bei der Schaffung und Verteidigung von selbsternannten „Freiräumen“ im Kampf gegen städtebauliche Umstrukturierung und im Kampf gegen tatsächliche oder nur als solche ausgemachte Rechtsextremisten zeugen die Taten von einer gewachsenen Gewaltbereitschaft. Schwere Körperverletzungen der Opfer bis hin zum möglichen Tod werden billigend in Kauf genommen.

Mit dem körperlichen Angriff auf die Prokuristin einer Immobilienfirma in ihrer Wohnung in Leipzig am 3. November 2019 wurde zum ersten Mal eine außenstehende Dritte stellvertretend für die Immobilienbranche ausgewählt. Auf der von Linksextremisten genutzten Internetplattform „de.indymedia“ wurde unter dem Namen „Kiezmiliz“ hierzu eine Taterklärung veröffentlicht:

„Aktuell tobt ein Sturm der Empörung durch die Leipziger Presselandschaft. Grund ist nicht etwa der gesellschaftliche Rechtsruck, oder die Knappheit von bezahlbarem Wohnraum, sondern es wird zum X-ten mal von einer „neuen Stufe der Gewalt“ fantasiert, wenn im Rahmen von sozialen Kämpfen Bagger brennen. Wir freuen uns, wenn sich der Bau von Luxuswohnungen o.Ä. verzögert, denken aber, dass diese Aktionsform angesichts vollumfänglicher Versicherungsabdeckung nur symbolischen Charakter hat. Wir haben uns deswegen entschieden, die Verantwortliche für den Bau eines problematischen Projekts im Leipziger Süden da zu treffen wo es ihr auch wirklich weh tut: in ihrem Gesicht.“

Hierdurch versuchten autonome Linksextremisten erstmals, einen direkten körperlichen Angriff im Kampf gegen städtebauliche Umstrukturierung zu legitimieren, der nicht aus einer unmittelbaren Verteidigungshandlung für ein autonomes Freiraumobjekt resultierte und sich nicht unmittelbar gegen Repräsentanten des Staates richtete. Dennoch blieb in der Szene eine intensive Diskussion über die Legitimation dieser Tat aus.

Selbst Straftaten, bei denen auch Unbeteiligte gefährdet werden, stoßen szeneintern auf immer weniger Ablehnung. Auch hier nimmt die Szene in Leipzig wieder eine herausragende Bedeutung ein. Gebrochen wurde der Szenekonsens, Unbeteiligte nicht zu gefährden, bei einem Brandanschlag auf Baukräne in Leipzig am 3. Oktober 2019. Die Täter nahmen billigend in Kauf, unbeteiligte Bewohner der angrenzenden Wohnhäuser in Lebensgefahr zu bringen, da die brennenden Kräne auf diese zu stürzen drohten. Auch hier war bislang keine kritische Auseinandersetzung innerhalb der Szene wahrnehmbar, was auf eine stille Zustimmung schließen lässt. Eine Unterscheidung zwischen Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Personen findet nicht mehr statt.

Allgemein wird linksextremistische Gewalt als legitime „Gegenwehr“ gerechtfertigt. Die Tonlage hat sich verschärft, ein Widerspruch bleibt aus, weitreichende Aussagen werden stillschweigend toleriert.

So wurde in der anarchistischen Zeitschrift „Zündlumpen“ ein schwerer Angriff auf einen Polizisten in Leipzig in der Silvesternacht dahingehend kommentiert, dass die Polizisten „bekommen […] haben, […] was sie verdienen“. Man würde niemandem den Tod wünschen, Mitleid habe man jedoch auch nicht, da „schwere Verletzungen und manchmal auch der Tod […] schon immer das Berufsrisiko der Scherg*innen des Staates“ gewesen seien.

Während der Ausschreitungen in der Silvesternacht 2019/2020 in Leipzig waren drei Polizeigruppenführer durch Linksextremisten von ihrer Einsatzhundertschaft isoliert und angegriffen worden. Die Täter rissen den Beamten die Schutzhelme vom Kopf und schlugen und traten auf sie ein. Ein Polizeibeamter ging dabei zu Boden und verlor durch weitere Gewaltanwendung gegen den Kopf das Bewusstsein.

Veränderung der linksextremistischen Szene

In mehreren Bundesländern gibt es Hinweise darauf, dass sich klandestine Kleingruppen innerhalb der gewaltorientierten linksextremistischen Szene herausbilden, eigene Tatserien begehen und sich aufgrund steigender Gewaltbereitschaft bei ihren Taten vom Rest der Szene abspalten. Es erscheint möglich, dass es innerhalb solcher abgeschotteten Personenkreise, welche sich nicht mehr an den Szenekonsens einer vermittelbaren und zielgerichteten Ausübung von Gewalt gegen Dinge und ohne Gefährdung Unbeteiligter gebunden sehen, zu einer internen Radikalisierungsspirale kommt. In deren Verlauf können sich die handelnden Personen durch das permanente Begehen von Straftaten selbst enthemmen und noch weiter von der Szene abschotten.

Zudem ist zu beobachten, dass die gewaltorientierte linksextremistische Szene sich auch gegenüber anderen (subkulturellen) Spektren öffnet, um mit diesen zu kooperieren. Ein Beispiel hierfür sind Kontakte in die lokalen Kampfsportszenen. So warben gewaltbereite Linksextremisten unter anderem für die Kampfsportveranstaltung „Anti-Fascist Martial Arts Event“, die in Potsdam bereits zwei Mal in den Jahren 2018 und 2019 stattfand. Linksextremistische Teilnehmer haben hierbei die Möglichkeit, sich neben dem sportlichen Wettkampf auch über politische Aktivitäten auszutauschen oder sich zu Aktionen zu verabreden.

Darüber hinaus lassen sich sowohl national als auch international zahlreiche und vielfältige Vernetzungen der linksextremistischen Szene feststellen. Auch die Leipziger gewaltorientierte linksextremistische Szene handelt nicht autark, sondern verfügt über eine bundesweite Strahlkraft und Verbindungen zumindest nach Berlin, Hamburg und Hessen.

Bewertung

Radikalisierungstendenzen in der linksextremistischen Szene sind bundesweit erkennbar. Sachsen nimmt dabei mit der gewaltorientierten linksextremistischen Szene in Leipzig eine besondere Rolle ein.

Auffällig ist, dass sich die Intensität der Gewalttaten erhöht hat und sich gleichzeitig Teile gewaltorientierter Spektren abschotten. Scheinbare „rote Linien“, die sich aus den Grenzen der Vermittelbarkeit von Gewalt ergeben, werden mit zunehmender Häufigkeit überschritten. Linksextremistische Taten werden professioneller durchgeführt, gewalttätiger und personenorientierter.

Quelle: https://www.verfassungsschutz.de/de/aktuelles/schlaglicht/schlaglicht-2020-03-radikalisierung-im-gewaltorientierten-linksextremismus

passiert am 22.10.2020