Prozess gegen Lina E.: Das ist der aktuelle Stand – und so geht es weiter

Lina E. Prozess: Mit dem Hubschrauber zum Bundesrichter, höchste Sicherheitsstufe vor Gericht. Seit Jahren gab es kein so großes Aufsehen mehr um mutmaßliche Linksextreme wie im Fall der Leipzigerin. Worum geht es und wie ist der aktuelle Stand im Prozess?

Wenn vor dem Oberlandesgericht in Dresden gegen die Leipzigerin Lina E. wegen linksextremer Gewalt verhandelt wird, ist das Ritual immer gleich: Im Zuschauerraum sind alle Plätze besetzt, vor allem von jungen Menschen, die Lina E. und die drei anderen Angeklagten unterstützen. Oft stehen sie schon am frühen Morgen vor dem Gerichtsgebäude an, Prozesstag für Prozesstag, seit bald einem Jahr. Wenn Lina E. dann in den Saal kommt, steht das Publikum auf, winkt ihr zu, manchmal jubelt es. E. lächelt, verteilt Handküsse, geht lässig zur Anklagebank.

Wer ist diese Frau, die seit fast zwei Jahren in Untersuchungshaft sitzt? Was macht ihren Fall so besonders? Und wie ist der aktuelle Stand in dem Prozess? Auf dieser Seite sammelt LVZ.de die wichtigsten Fakten, der Text wird regelmäßig aktualisiert.

Worum geht es im Prozess?

Von Leipzig aus soll eine linksextreme Gruppe Jagd auf Neonazis in Sachsen und Thüringen gemacht haben. Den Ermittlern zufolge sammelte die Gruppe Informationen über die Rechtsextremen, spähte deren Gewohnheiten aus und griff sie brutal an. Seit September 2021 läuft vor dem Oberlandesgericht (OLG) in Dresden der Prozess gegen vier mutmaßliche Mitglieder der Gruppe. Sie müssen sich unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung und Bildung einer kriminellen Vereinigung verantworten.

Welche Taten sind angeklagt?

– Im Oktober 2018 wurde der ehemalige Leipziger NPD-Stadtrat Enrico Böhm von Vermummten vor seinem Wohnaus angegriffen. Er erlitt Tritte gegen Kopf und Knie.

– Wenige Wochen nach dem Angriff auf Böhm wurde in Wurzen Cedric S. attackiert, ein Neonazi, der an dem Überfall auf den Leipziger Stadtteil Connewitz im Januar 2016 beteiligt war. Er erlitt Frakturen an der Lendenwirbelsäule und musste mehrere Tage ins Krankenhaus.

– Im Januar 2019 wurde in Connewitz ein Kanalarbeiter zusammengeschlagen, der eine Mütze eines rechten Labels getragen haben soll. Sein Jochbein musste mit einer Metallplatte fixiert werden, er litt lange an Angststörungen.

– Im Oktober 2019 stürmten Vermummte eine Kneipe in Eisenach, die von einem bekannten Rechtsextremen betrieben wurde. In weniger als einer Minute zerschlugen die Angreifer Fenster und Gläser, verletzten den Chef und Gäste.

– Mitte Dezember 2019 wurde der Kneipen-Chef vor seiner Wohnung in Eisenach abermals angegriffen, unter anderem mit einem Hammer. Er und seine Freunde erlitten Platzwunden und Prellungen, ein Auto wurde demoliert.

– Im Februar 2020 wurden sechs Menschen am Wurzener Bahnhof überfallen, die eine Reichskriegsflagge dabei hatten und auf dem Rückweg vom sogenannten „Trauermarsch“ in Dresden waren. Sie erlitten Prellungen und Platzwunden.

Wer gehört zur Gruppe um Lina E.?

Polizei und Staatsanwaltschaften gehen davon aus, dass die Gruppe mehr Mitglieder umfasst hat als nur die vier in Dresden Angeklagten. Ermittelt wird gegen weitere Beschuldigte – wovon einer inzwischen umfassend ausgesagt hat (mehr zum sogenannten Kronzeugen weiter unten auf dieser Seite). Auch die Zahl der Taten der mutmaßlichen Gruppe könnte deutlich höher sein.

Dringend gesucht wird eine mutmaßliche Schlüsselfigur der Gruppe: Johann G., 29 Jahre alt. Er soll zusammen mit seiner Verlobten Lina E. die Gruppe angeführt haben und ist seit Sommer 2020 untergetaucht. G. hat seine Kindheit und Jugend in Bayern verbracht und wurde dort früh straffällig. Unter anderem ist noch eine Jugendhaftstrafe wegen mehrerer Graffiti-Delikte gegen ihn offen. Wegen seiner Beteiligung an linksextremen Ausschreitungen im Leipziger Süden im Januar 2015 musste G. bereits eine Haftstrafe von mehr als einem Jahr absitzen.

Lina E., 27 Jahre alt, ist in Kassel geboren und lebte zuletzt in einer WG im Leipziger Stadtteil Connewitz. Sie studierte in Halle Erziehungswissenschaften und sitzt seit November 2020 in Untersuchungshaft. Strafrechtlich war sie zuvor noch nicht aufgefallen.

Mit Lina E. angeklagt ist Phillipp M., ein 27 Jahre alter Mann aus Berlin, der in der linksextremen Szene „Nero“ genannt wird. Im Juni 2017 blendete er den Piloten eines Polizeihubschraubers mit einem Laserpointer und saß dafür anderthalb Jahre in Haft.

Ebenfalls angeklagt sind Lennart A., 27 Jahre alt, und Jannis R., 36 Jahre alt. Beide lebten zum Zeitpunkt der mutmaßlichen Taten in Leipzig-Connewitz.

Welche Beweise liegen gegen die Angeklagten um Lina E. vor?

Vor Gericht wurden im zurückliegenden Jahr unterschiedliche Beweise thematisiert – darunter DNA-Spuren, Abhörprotokolle, Blitzerfotos, Auswertung von Verbindungsdaten und Zeugenaussagen. Nach dem zweiten Angriff auf den rechtsextremen Kneipenwirt wurden mehrere der mutmaßlichen Gruppenmitglieder festgenommen, an ihre Autos hatten sie gestohlene Kennzeichen montiert.

Die Generalstaatsanwaltschaft versucht vor Gericht, all das zu einem Bild zusammen zu setzen. Für die Verteidigung der Angeklagten passt dabei aber vieles nicht – und manche Zweifel kann sie auch belegen: So geht das Gericht inzwischen nicht mehr davon aus, dass der Angeklagte Phillipp M. an dem Angriff auf die Kneipe in Eisenach beteiligt war. Seine Anwältinnen und Anwälte hatten ein Alibi für den Abend vorgelegt.

Was macht den Fall um Lina E. so besonders?

Es ist lange her, dass es der Polizei gelungen ist, so detailliert mutmaßliche Strukturen in der gewaltbereiten linken Szene aufzudecken und so viele Beweise für Gewalttaten aus diesem Spektrum vorzulegen. Die Bedeutung des Falls zeigt schon die Tatsache, dass der Generalbundesanwalt einen Großteil der Ermittlungen übernommen hat.

Die Umstände des Verfahrens werden in der linken Szene als überzogen kritisiert: die nun schon fast zwei Jahre andauernde Untersuchungshaft für Lina E., ihr Flug im Hubschrauber zum Haftrichter in Karlsruhe und auch ein für den Fall wichtiges juristische Konstrukt. Denn gegen die Gruppe wurde und wird wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt. Ein solches Strukturermittlungsverfahren ermöglicht es der Polizei, zunächst ohne konkrete Verdächtige und mit weitreichenden Maßnahmen zu agieren, wie etwa Abhöraktionen. Klassischerweise wird so etwas bei organisierter Kriminalität oder wie aktuell zur Ermittlung von Kriegsverbrechen in der Ukraine angewendet.

Wer ist der „Kronzeuge“ und warum sind seine Aussagen so wichtig?

Mitte Juni wurde bekannt, dass ein ehemaliges Mitglied der mutmaßlichen Gruppe um Lina E. bei der Polizei und anderen Sicherheitsbehörden ausgesagt hat: Johannes D., ein 30 Jahre alter verurteilter Linksextremist, der aus Bayern stammt und lange Zeit in Berlin lebte. Er soll an mindestens einer der Gruppe um Lina E. zugeordneten Taten beteiligt gewesen sein.

D. ist wegen Vergewaltigungsvorwürfen innerhalb der radikalen linken Szene geächtet. Seit seiner Aussage wird er als Verräter geschmäht und ist Todesdrohungen ausgesetzt. Er befindet sich im Zeugenschutzprogramm.

Seine Aussagen sind für den Prozess in Dresden enorm wichtig. Er hat Lina E. und die anderen Angeklagten schwer belastet und Einblicke gegeben in die Strukturen der gewaltbereiten Linken.

Im September befragte das Dresdner Gericht Johannes D. zu seinen Motiven, Kronzeuge zu werden. D. gab an, dass Zeugenschützer ihm Hilfe bei der Job- und Wohnungssuche angeboten hätten und er mit 1500 Euro im Monat unterstützt würde.

Während die Aussagen des Kronzeugen hinsichtlich der mutmaßlichen Taten insgesamt glaubwürdig wirken, wird er regelmäßig unsicher, unwirsch und ungenau, wenn es um Details seine Zusammenarbeit mit Verfassungsschutz und Polizei geht. Vor Über die Bewertung von all dem gibt es vor Gericht immer wieder heftigen Streit.

Welche Rolle spielt die Polizei?

Normalerweise gelten Polizisten in Gerichtsprozessen als vergleichsweise sichere Quellen. Das Verfahren gegen Lina E. und ihre drei Mitangeklagten ist aber geprägt von Misstrauen. Auf der einen Seite steht der Verdacht der Verteidigung und von Unterstützern aus der linken Szene, dass voreingenommen ermittelt worden sei, dass gar Beamte Ermittlungsergebnisse an Rechtsextreme weitergegeben haben könnten. Auf der anderen Seite steht bei der Polizei die Überzeugung, Linksextreme seien gefährlicher, als man es ihnen gemeinhin zuschreibe; womöglich wollten sie auch den ermittelnden Beamten an Leib und Leben. Letzteres wurde genährt durch ein Plakat auf einer Demo in Leipzig, auf dem der Leiter der zu Linksextremismus ermittelnden „Soko Linx“ beim LKA namentlich mit seinem Ende in einem Kofferraum bedroht worden war.

Vor Gericht berufen sich die Polizeizeugen immer wieder darauf, dass sie dies und jenes nicht sagen dürften. Manche von ihnen verkleiden sich – aus Angst, persönlich zur Zielscheibe gewaltbereiter Linker zu werden. Immer wieder kommen sie auch mit Anwälten in den Zeugenstand, manchmal wird zum Zeitpunkt ihrer Aussage tatsächlich gerade gegen sie ermittelt. Der Vorwurf, Polizisten könnten Ermittlunginterna an Rechtsextreme durchgesteckt haben, konnte bislang aber nicht erhärtet werden.

Und welche Rolle spielen die mutmaßlichen Opfer?

Viele der mutmaßlichen Opfer im Lina-E.-Prozess sind Neonazis – und gegen drei von ihnen wird inzwischen ebenfalls wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt. Das gefährdet ihre Glaubwürdigkeit, etwa wenn es um die Frage geht, ob Sie bei den Angriffen auf sich eine Frau unter den Vermummten wahrgenommen haben.

Wie steht die linke Szene zum Fall?

In der linken Szene erfahren die Angeklagten viel Solidarität – vor allem Lina E. Für sie werden Spenden gesammelt, T-Shirts verkauft, ihr sind vor allem in Leipzig aber auch anderswo unzählige „Free Lina“-Graffiti gewidmet.

Zur Unterstützung der Angeklagten hat sich das „Solidaritätsbündnis Antifa Ost“ gegründet. Auf ihrer Internetseite berichtet die Gruppe von jedem Prozesstag, über die mutmaßlichen Opfer und ihre rechtsradikalen Aktivitäten. „Wir finden es bedenklich, dass hier Antifaschisten vorgeworfen wird, dass sie Aufgaben übernommen haben, zu deren Bewältigung der Staat offenbar nicht in der Lage war“, hatte ein Sprecher des Bündnisses zu Beginn des Prozesses erklärt. Rechte Strukturen würden in Sachsen nicht ernstgenommen, daher sei es legitim, selbst aktiv zu werden.

Wie ist der aktuelle Stand im Prozess?

Kronzeuge Johannes D. hat in dem Prozess schon mehrere Tage lang ausgesagt – und soll weiter befragt werden. Prozesstermine hat der zuständige Senat am OLG noch bis Ende November festgelegt, denkt aber schon über eine Verlängerung in den Dezember nach.

passiert am 20.10.2022