Feindbild Individualismus: Wer hat Angst vor der Selbstbefreiung?

Eine Erklärung aus anarchistischer Perspektive

„Individualismus“, wie auch „Anarchie“, sind Wörter, die in den Köpfen unterschiedlicher Menschen mit unterschiedlichsten Vorstellungen verknüpft sind. Die Anarchie ist daran gewöhnt, dass ihre Feind:innen die Angst vor ihr schüren. Und ist der Ruf erst ruiniert… Auch „der Individualismus“ muss, in einer oberflächlichen Definition, als Feindbild in allen möglichen Zusammenhängen herhalten um ein vereinzeltes, handlungsunfähiges Individuum zu beschreiben, das vermeintlich im Gegensatz zur Gemeinschaft steht. Diese Vorstellung wird von bürgerlichen Politiker:innen bis hin zu formell organisierten Anarchist:innen geteilt und verbreitet. Die individualistische Perspektive hat aber viel mehr zu bieten, wenn es darum geht Herrschaft zu verstehen und Wege zu finden, sich daraus zu befreien.

Das Individuum zwischen Vereinzelung und Selbstwerdung

Individualismus(1) ist erst mal nur eine Perspektive, die das Individuum in den Mittelpunkt stellt. In diesem Text möchte ich(2) mich weniger mit dem riesigen philosophische Feld dazu und mehr mit den individualistischen Grundbausteinen des Anarchismus beschäftigen.

Das Individuum ist keine abgeschlossene, statische Einheit. Es wird getragen von unterschiedlichsten Gefühlen, Gedanken, Bedürfnissen, Trieben, Prägungen etc.. Diese instabilen, manchmal gegensätzlich wirkenden, Kräfte sind ständig in Bewegung und wirken sowohl in uns selbst als auch im Wechselspiel mit anderen.

Als Ausgangspunkt können zwei verschiedene Spannungen betrachtet werden, die auf das Individuum wirken. Zum einen das was es bezwingt, begrenzt, ohnmächtig und beherrschbar macht. Das sind Kräfte der Vereinzelung und Fremdbestimmung, die mit Isolation und Entfremdung einher gehen (Individualisierung). Sie sind Teil der Zurichtungen und Traumata die wir von klein auf in diesem System erleiden. Zum anderen gibt es das Streben sich den Zwängen der Fremdbestimmung zu widersetzen, selbst zu bestimmen, die eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu leben, die Vereinzelung zu überwinden und Selbstbstwirksamkeit zu entwickeln (Individualität). Sie beinhaltet das Bewusstsein über die eigene Einzigartigkeit und Selbstbestimmung. Die Möglichkeit zur Selbstreflektion und das (Selbst)bewusstsein, das auch die Konfrontation mit bestimmten Gruppendynamiken aushält. Im psychologischen Sinne ist Individualität die Basis von Kreativität, Motivation, sozialer Kompetenz und Empathie.

Häufig werden die Kräfte der Vereinzelung als Bürgerlicher Individualismus oder Liberalismus kritisiert oder mit Individualismus gleichgesetzt. Individualismus ist nicht das selbe wie Liberalismus. Im Unterschied zum Anarchismus lehnt der Liberalismus den Staat nicht ab, sondern sieht in ihm den Garanten für Freiheit und Eigentum. Liberalismus mag vielleicht teilweise die Freiheit des Individuums gegenüber kollektivem Zwang fordern, verlässt dabei aber nicht die Herrschaftsideologie des Kapitalismus, also der Gewalt von Eigentum und Rechtsordnung. Und das Kapital geht ja gerade mit der kollektiven Enteignung unserer individuellen Fähigkeiten einher. Die Entwicklung der Individualität kann genau dieser Vereinzelung und Entfremdung entgegen wirken.

Manchmal wird auch Identität mit Individualität gleich gesetzt. Dabei sind sie eher gegensätzlich. Identität ist die Zuschreibung vermeintlich gleicher Rollen und Kategorien an unterschiedliche Individuen, also eine künstliche Gleichmachung und Verflachung von Individualität. Diese Art der Identifizierung bleibt meist unbewusst und verhindert damit überhaupt die Möglichkeit darüber zu kommunizieren. Um Machtverhältnisse zu analysieren kann es schon hilfreich sein diese Kategorien auch mal bewusst in den Fokus zu nehmen, aber sie zur Basis der Organisierung zu machen kann sie doch nur verfestigen. Identitätskategorien halten uns in gesellschaftlichen Rollen gefangen. Vor allem wenn wir uns selbst mit diesen fiktiven Rollen identifizieren. Dadurch werden wir zählbar und manipulierbar. Die Entwicklung der eigenen Individualität bedeutet aus Identitäten auszubrechen und sich selbst und andere als einzigartig wahrzunehmen. Das Individuum kann immer noch alle Werte der Mehrzahl teilen, bzw. verinnerlichen. Unter Individualität verstehe ich hingegen einen Bewusstseinszustand in dem man sich als Einzelne:r gegensätzlich dazu verhalten kann, aus welchen Beweggründen auch immer. Aber wie stehen diese Individualist:innnen eigentlich in Beziehung zu anderen?

Individualität und Fremdbestimmung

Ein Klassiker ist die Gegenüberstellung des „schlechten“ Individuums und des „guten“ Kollektivs (Kollektivismus)(3). Beide werden als abgeschlossene Einheiten verstanden, die gegeneinander wirken. Diese vereinfachende Sichtweise ist die Basis um immer wieder neue kollektive Herrschaftssysteme einzurichten. An dieser Stelle finde ich es interessanter Individualität und Fremdbestimmung zueinander in Beziehung zu setzen und zu fragen, wie ich mich mit anderen organisieren kann, ohne dabei in die Falle der Fremdbestimmung zu tappen und bspw. Teil regressiver Gruppendynamiken und Herrschaftslogiken zu werden?

Wie gesagt, weder Menschen, noch ihre Beziehungen zu einander sind statisch. Wir sind immer in Bewegung und im Austausch mit einer sich ständig verändernden Umgebung; Wünsche, Bedürfnisse und Zwänge verstärken sich oder wirken gegeneinander in einem ständigen, komplexen Austausch und es geht eher darum welche Haltung wir dazu einnehmen. Die Haltung, dass sich das Individuum einem Kollektiv unterordnen muss, um mit anderen handlungsfähig zu sein ist weit verbreitet. Sie zeigt sich gleichermaßen in der bürgerlichen Gesellschaft, in der wir leben, kommunistischen Utopien, faschistischen Systemen und auch in vielen linken, vermeintlich emanzipatorischen, Ansätzen wie Basisdemokratie. Herrschaft drückt sich darin aus, andere verwalten (kontrollieren) zu wollen und sich selbst verwalten zu lassen. Der gemeinschaftliche (kollektive) Zusammenhalt wird durch Normen, Regeln und Gewohnheiten hergestellt und zeichnet sich durch Abhängigkeit und Verpflichtung aus. In diesem Zusammenhang sind auch immer Merkmale der „Herdenmentalität“ präsent, mal mehr und mal weniger stark. Sie fordert die Kontrolle des Individuums durch Schuld, Scham, Angst und moralische Bewertungen. „Wir müssen“ ist die dominante Haltung, die individuelle Selbstbestimmung erstickt.

Das Gefängnis der Selbstaufgabe betrete ich meist in dem ich mich einer Ideologie, also einer Idee, Abstraktion, einem Programm oder einem Ideal unterordne. Ideologien sind Systeme des falschen Bewusstseins, in denen Menschen sich selbst nur als Objekte in Bezug zu irgendwelchen übergeordneten abstrakten Gebilden wahrnehmen und nicht mehr direkt als Subjekte in Beziehung zu ihrer Welt. Das Individuum ist eine konkrete Realität während das Kollektiv, die Masse und die Gesellschaft immer nur Abstraktionen sind. Tatsächlich bietet die individualistische Sichtweise ein wirksames Werkzeug gegen die Manipulationsmacht der Ideologie. Vielleicht sogar das einzige.

Manche meinen Individualist:innen wollten grundsätzlich irgendwie allein handeln und sich nicht organisieren. Auch wenn es solche Fälle vielleicht gibt, trifft das nicht grundsätzlich zu. Es geht darum ein Verständnis zu entwickeln, dass es nicht notwendig ist sich dem Kollektiv, der Gesellschaft, einer formellen Struktur (d. h. Institution), einer Organisation unterzuordnen, um (mit anderen) handlungsfähig zu sein. Denn diese Unterordnung wird uns immer schwach und anfällig für die Herrschaft derer machen, die diese Formen für ihre eigene Macht zu nutzen wissen. Durch die eigene gelebte Selbstwirksamkeit kann überhaupt erst echte Eigeninitiative entstehen, die nicht nur aus irgendeinem (sozialen) Zwang resultiert.

Wie gesagt, Menschen stehen immer zueinander in Beziehung, egal ob es zwischen ihnen ausgesprochene Regeln gibt oder nicht. Wichtig ist, ob diese Beziehungen technologisch und/oder politisch vermittelt werden und wie stark sie von normativen Zwängen (Moral/Herdenmentalität) geprägt sind und kontrolliert werden oder eben von einer individualistischen Haltung, die durch (selbst)bewusstes Handeln und direkte Kommunikation gekennzeichnet ist.

Ausgangspunkt ist Freundschaft statt erzwungener Gemeinschaft. Mit anderen Aktiv zu werden, ohne irgendwo beizutreten, zu folgen oder sich unterzuordnen, ist die Suche nach Affinität. Affinität geht über Sympathie hinaus. Sie ist die Vertiefung zwischenmenschlicher Beziehungen auf der Grundlage von geteilten Ideen, Analysen und Aktionen. Manchmal ist es aber auch notwendig diese individuelle Ebene zu verlassen und sich für ein bestimmtes Projekt gemeinsam mit anderen Affinitätsgruppen zu koordinieren. Eine Möglichkeit des gemeinsamen Handelns, auch langfristig, ist die informelle Organisierung. Informell meint nicht-ideologische, anarchistische Organisierung. Informell, weil es nicht darum geht irgendeinen Namen zu vermarkten, „Massen“ zu bewegen, ihr formell beizutreten oder sich einem Programm zu verschreiben, sondern um eine bewegliche und lockere Koordination, um den Bedürfnissen eines Projekts des Kampfes gerecht zu werden. Einzelne verbinden sich für ein bestimmtes Projekt, wobei diese Verbindung sich auch wieder auflöst, wenn das Projekt beendet ist. Trotzdem lebt das was gemeinsam erschaffen wurde, die Resultate, aber auch die Beziehungen und Erfahrungen, nach der Auflösung weiter und können sich in weiteren Projekten entfalten.

Im Gegensatz dazu existieren formelle Strukturen (z. B. eine Partei, ein Verein, eine Institution, die Organisierung um ein Programm und fixes Regelwerk), um langfristig unter möglichst vielen Menschen Einheit, meist auf Grundlage eines kleinsten gemeinsamen Nenners, herzustellen. Vielfalt wird geradezu als Fluch angesehen. Aber es sind selten die Differenzen zwischen uns, die Konflikte verursachen, sondern eher die Menschen, die sich weigern diese zu akzeptieren und ständig Einheit fordern. Statt Einheit zu erzwingen können wir auch starke Verbindungen zwischen uns aufbauen und Vielfalt fördern. Denn Uneinigkeit ist auch ein Zeichen von Lebendigkeit.

Die Fans der Einheit und der formellen Organisierung verlassen die staatliche Logik nicht und bleiben abhängig von Hierarchien und Bürokratie. Diese Strukturen sind für den Staat einfach auszumachen und zu zerschlagen, sei es durch Unterwanderung, Reformen oder Repression. Die Aufrechterhaltung dieser Organisationen wird zum Selbstzweck und auch die damit einher gehende Unterordnung von und Herrschaft über Menschen und Projekte. Im Gegensatz zu Affinitätsbeziehungen und informeller Vernetzung mangelt es den formellen Organisationen in der Regel an Qualität und Rückrad.

„Die Vereinigung wird im Moment gelebt und ist vergänglich. Sie ist ein Werkzeug des Individuums. Dies steht im Gegensatz zur Gesellschaft. Das Individuum ist ein Werkzeug der Gesellschaft. Der Anspruch der Gesellschaft über das Individuum ist absolut und das Individuum kann diesen Anspruch nicht beenden. Während die Vereinigung ein bewusster Akt deiner eigenen Macht ist, wird die Gesellschaft dir aufgezwungen. Sie beruht nicht auf Gegenseitigkeit und in ihr wirst du gezwungen, dich auf Aktivitäten und Beziehungen einzulassen, in welcher du keine Befriedigung findest. Bedürfnisse und Sehnsüchte werden für leere Ideen unterdrückt.“

Grundlage vieler formeller, anti-individualistischer Herrschaftsstrukturen ist Repräsentation. In der heutigen Spiegelwelt des Spektakels ist Repräsentation überall. Überall wird vermittelt; technologisch vor den Bildschirmen, bspw. in den„sozialen Medien“, politisch durch Wahlen, Volksentscheide und Räte, durch Vorstände in Vereinen etc. Unvermittelter Austausch ist selten geworden. Jedes mal, wenn wir eine andere Person für uns reden und handeln lassen, unser Handeln durch Institutionen vermitteln lassen, schwächen wir unsere Autonomie. Wie z. B. wenn wir einen Konflikt von einem „Awareness-Team“ lösen lassen. Es kann Gründe geben, warum (nicht-institutionalisierte) Vermittlung und Mediation auch mal Sinn machen. Aber ich denke, dass wir nur dann herrschaftsfreier mit anderen zusammen leben können, wenn wir auch unsere Selbstbestimmung und Konfliktfähigkeit stärken und den Mut aufbringen uns unseren Ängsten in der direkten Auseinandersetzung zu stellen. Und ist es bspw. verwunderlich, dass unsere Beziehungen immer brüchiger werden, wenn wir sie zunehmend durch Abstraktionen vermitteln und diese dann auch noch profitmaximierenden Unternehmer:innen des Silicon Valley anvertrauen? Können bestehende Herrschaftsstrukturen überhaupt angegriffen werden, in dem wir uns immer mehr von den Technologien, die diese Tragen, abhängig machen?

Wo pauschal gegen den Individualismus gewettert wird, ist zwar manchmal nur „Vereinzelung“ gemeint, oft wird uns aber im gleichen Atemzug auch die Autonomie abgesprochen. Wer an der Befreiung der individuellen Bedürfnisse kein Interesse hat oder verkündet, dass diese nur durch vorherige Unterwerfung unter irgendeine Form von Kollektiv „befreit“ werden können, will den Rahmen der Befreiung anderer vorgeben, sie also kontrollieren und über sie herrschen und hat somit für mich auch mit Anarchie (dem Streben nach Herrschaftsfreiheit) letztendlich nichts am Hut. Hier liegt für mich auch das grundlegende Missverständnis einiger vermeintlicher Anarchist:innen, die die individualistische Basis des Anarchismus ablehnen (und der Grundlegende Unterschied zwischen Anarchist:innen und Linken). Letztere wollen ideologische, strategische und taktische Einheit, wenn möglich durch „Selbstdisziplin“ (deine Selbstunterdrückung) und wenn nötig durch organisatorische Disziplin (Gefahr durch Sanktionen), kreieren. So oder so wird von dir erwartet, deine Autonomie aufzugeben um ihren Pfad, der bereits für dich abgesteckt wurde, zu folgen. Meist geht es einfach nur um die Einführung eines neuen moralischen Regelwerks, das das alte ersetzt. Damit wird die eine Herrschaft durch eine andere ersetzt. Denn auch Moral ist ein System verdinglichter Werte, also etwas das uns von uns selbst entfernt. Die Ablehnung der Moral schließt die Entwicklung einer eigenen kritischen Theorie von sich selbst und der Gesellschaft ein (immer selbstkritisch, provisorisch und niemals totalitär), in welcher ein klares Ziel zur Beendung der sozialen Entfremdung niemals mit verdinglichten partiellen Zielen verwechselt wird. Auf dieser Basis können wir uns mit anderen zusammenzutun. Das ist vielleicht nicht so einfach wie der Herde nachzulaufen, sich anzupassen und die Moralvorstellungen und Normen der Umgebung oder Szene unhinterfragt zu übernehmen. Aber es lohnt sich. Wer die eigenen Bedürfnisse im Auge behält und für die Dinge und Menschen kämpft die ihr:ihm wichtig sind, kann der manipulativen Gewalt von Ideologien (Religion, Faschismus, Demokratie, Kommunismus, Moral) etwas entgegensetzten.

Und was ist mit der Revolution?

Schön wäre es, wenn es die eine Wahrheit gäbe, die eine Blaupause, die zur Revolution, zum besseren Leben für alle führte. Alles was wir tun müssten wäre uns dieser revolutionären Utopie anzuschließen, dafür arbeiten und die restlichen Menschen informieren, möglicherweise auch etwas nachdrücklicher überzeugen. Dann legen wir gemeinsam den Schalter um und siehe da, Revolution! Aber dieser Schalter existiert genau sowenig, wie die eine Wahrheit oder die Vorlage für ein Leben, das allen gerecht wird. Alles was aus dieser Vorstellung entstehen kann ist entweder autoritär oder im Rahmen der Herrschaftsdynamiken, in denen wir leben einfach zu neutralisieren. Und am Ende haben Menschen meist, im Namen einer abstrakten Vorstellung, für etwas gearbeitet, sich aufgeraucht, ihre eigenen Bedürfnisse zurückgestellt und fallen dann, (spätestens) nach der großen Enttäuschung über die unerfüllten Erwartungen, zurück in die Verteidigung bürgerlicher Werte.

Ein anderer Vorschlag ist die Idee der sozialen Revolution. Diese beinhaltet nicht nur die Abschaffung der Politik (Anti-Politik), sondern begreift Revolution als die Umwerfung aller unterdrückenden sozialen Verhältnisse, sei es im Zwischenmenschlichen, in der Organisierung, der Abschaffung von Klassen und Normen, entmündigender Technik usw. Die soziale Revolte vollzieht sich im hier und jetzt und verlässt den Bereich des politischen, um sich auf alle Ebenen auszudehnen. Das heißt, sie geht vom Handeln und der Verantwortung der einzelnen Person aus. Sie wird nicht von einem Plan oder einer Gruppe (Avantgarde) angeführt sondern von uns selbst. Sie ist die Revolution der sozialen Beziehungen und Verhältnisse. Denn darin, wie wir uns organisieren und wie wir uns zueinander Verhalten, drückt sich Herrschaft aus oder eben auch nicht.

Ausbruch

Puh, jetzt haben wir uns viele Begriffe angesehen, rumdefiniert und theoretisiert.(4) Was bedeutet das alles für die eigene Praxis? Natürlich kann das jede:r Einzige nur selbst bestimmen. Aber ich habe ein paar Gedanken dazu.

Das Gefängnis der Selbstaufgabe verlasse ich, in dem ich die Unterwerfung unter Abstraktionen und Institutionen verweigere. Das heißt konkret, wenn ich meine individuellen Bedürfnisse befreie, also revoltiere. Denn immer wenn ich mich einer Idee, Identität oder Organisation unterordne, das heißt meine Bedürfnisse unterordne, liefere ich mich auch ihrer Herrschaft aus, egal wie „gut“ und „gerecht“ die Ziele sind. Wer in der Lage ist selbst zu denken, also gesellschaftliche Normen und Narrative überhaupt zu erkennen und diese aus eigener Perspektive zu reflektieren, hat auch die Möglichkeit sich zu befreien.

Der Ausbruch beginnt hier und jetzt. Ich brauche dafür nicht auf irgendwas zu warten und auch keine Erlaubnis von irgendwem einzuholen oder mich an gesellschaftlichen Normen oder Moralvorstellungen orientieren. Ich muss mich auch nicht als erstes irgendwo „organisieren“ (lassen). Ich kann mich einfach fragen „was will ich?“ und „was brauche ich?“ und mir überlegen, was nötig ist um das in die Praxis umzusetzen. Was ist nötig, um mir mein Leben anzueignen und es aus den Klauen der Herrschaft zu befreien? In der Regel ist das keine Frage, die an einem Tag beantwortet werden kann, sondern der Anfang eines lebenslangen Prozesses und einer kämpferischen Haltung, auch mit anderen zusammen. Sie bringt eine Spannung in richtung Selbstbefreiung mit sich, die die Motivationssprüche der Selbsthilfebücher und Instafeeds, aber auch den verkümmerten Egoismus dieser Ellenbogengesellschaft überwinden kann. Wenn ich den Mut habe mich auf die individualistische Perspektive einzulassen, wird vieles, vorher unmöglich geglaubte, möglich.

Die Liebe zu mir selbst und die Leidenschaft für das Leben geht mit tiefen Freundschaften und Komplizenschaften einher und mit der wachsenden Gefährlichkeit gegen alles und alle, die über mich, über uns, herrschen wollen.

Zusatz: Das Recht der:s Stärkeren? Individualismus und der Vorwurf des Sozialdarwinismus

Es gibt immer wieder Kritiker:innen, die meinen es ginge bei der individualistischen Perspektive um „das Recht der:s Stärkeren“ und manche sehen im Individualismus pauschal eine Art Sozialdarwinismus.

Ich möchte nicht ausschließen, dass es einzelne Individualist:innen gibt, die allen möglichen Quark damit verbinden, wie zum Beispiel bei dem kapitalistische Kult um Ayn Rand in den USA. Für mich ist es so, wer Individualismus als Recht der:s Stärkeren versteht, hat sein Potential nicht begriffen und bleibt in der Ideologie des Liberalismus stecken.

Sozialdarwinismus ist ein Weltbild, das biologische Erkenntnisse auf menschliche Gesellschaften zu übertragen suchte. Diese, von den Wissenschaftler:innen jener Zeit propagierte Vorstellung, diente als „wissenschaftliches“ Fundament der nationalsozialistischen Eugenik. Ein krasser Vorwurf also, der Individualist:innen schnell mal um die Ohren gehauen wird. Der entscheidende Punkt ist, dass „das Recht der:s Stärkeren“ aber als Grundlage für die gemeinschaftliche Abwertung anderer dient. „Dazu sei eine Rassenhygiene nötig, die im Widerspruch zur Individualhygiene stehe. Denn was gut für das Individuum sei, die Pflege und Heilung von Kranken, die Sorge um Behinderte, sei schlecht für die Rasse.“ Mit der Machtübergabe an die Nationalsozialist:innen wurde die Rassenhygiene offizielle Politik, begleitet von Kampagnen über die Last, die die Gesellschaft an den „Erbkranken“ zu tragen habe. Es geht also um eine kollektivistische Ideologie und diese verträgt sich nicht mit einer individualistischen Haltung. Nur weil man sich selbst für voll nimmt heißt das nicht, dass man andere abwerten muss. Im Gegenteil, erst wer sich selbst kennt und individualistisch entfalten kann, hat es nicht mehr nötig (kollektiv) den eigenen Wert aus der Abwertung anderer zu schöpfen. Einer der bekanntesten Kritiker des Individualismus und Propagandisten des Kollektivismus, Karl Marx, der seinen historischen Materialismus hauptsächlich aus der Kritik an Max Stirners „Der Einzige und sein Eigentum“(5) entwickelte, fand auch gefallen an den Theorien Darwins. Marx sah in der Darwinschen Theorie die “naturwissenschaftliche Unterlage des gesellschaftlichen Klassenkampfes“ und bat Darwin, ihm den zweiten Band des “Kapitals” widmen zu dürfen. Darwin lehnte ab.

(1) Das was ich hier als „Individualismus“ bezeichne wird manchmal (besonders im englischsprachigen Raum) im philosophischen Sinne als „ethischer Egoismus“ oder als „individualistischer Anarchismus“ bezeichnet.

(2) Ich habe „Ich“ geschrieben, obwohl viele andere, direkt und indirekt, an diesem Text beteiligt sind; weil ich mir ihre Ideen angeeignet habe und der Text durch ihre Kritik und Korrekturen erweitert wurde.

(3) „Kollektiv“ meine ich hier im weitesten Sinne als ein soziales Gebilde wie ein Volk, eine Klasse, eine zielgerichtete Gruppe, ein Staat… und „Kollektivismus“ als System von Werten und Normen, in dem das Wohlergehen des Kollektivs über das Wohlergehen des Individuums gestellt wird.

(4) Ich halte nicht so viel von Literaturangaben und klaue Gedanken und Zitate wie es mir gefällt. Aber wenn es von interesse sein sollte, welche Texte mich in letzter Zeit, mehr oder weniger im Bezug auf diesen Text, interessierten: Shahin: „Nietzsche und Anarchie“, Feral Fire: „Wildpunk“, Libri Felis: „Totale Befreiung“, Archipel und Texte von Flower Bomb, Emma Goldman, Wolfi Landstreicher, Jason McQuinn, Renzo Novatore, Maschinenstürmer Distro, Counterflow Distro und Warzone Distro…

(5) Das am meisten gefürchtete, verleumdete und unterschätzte Selbsthilfebuch der letzten 177 Jahre. Als sanfter Einstieg auch zu empfehlen „Recensenten Stirners“, in dem Stirner, in der dritten Person über sich selbst sprechend, auf die Kritiken seines Werks eingeht.

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