Intifada ist kein Klassenkampf

Gegen das Schweigen über den Antisemitismus auf der Revolutionären 1.-Mai-Demonstration in Berlin

 
Der erste Block der Revolutionären 1.-Mai-Demonstration wird seit einigen Jahren von Gruppen mitgestaltet, deren einziges Thema der Antizionismus ist. Den Vorwurf des Antisemitismus weisen diese Gruppen vehement zurück. Ihre Agitation gegen Israel sei Teil des Befreiungskampfs gegen Rassismus, Unterdrückung und Kapitalismus. Von Sprecher*innen des Demo-Bündnisses und von beteiligten und sympathisierenden Gruppen wird diese Argumentation wohlwollend aufgenommen und bereitwillig weitergegeben. Diese Gruppen seien keineswegs antisemitisch, und wer sie so nenne, sei offensichtlich ein bürgerlicher oder antideutscher Verleumder der radikalen Linken. Man sei froh, dass die Demo so international aufgestellt ist.
 
Tatsächlich sind die Verlautbarungen von „Palästina spricht“ oder der „Jewish Antifa Berlin“ vollgestopft mit linksradikalen Catchwords wie „Feminismus“, „Widerstand“, „Klassenkampf“ und „Revolution“, aber alle Instrumente linker Kritik werden hier gegen Israel, nur gegen Israel und gegen nichts Anderes als Israel gewendet. Bei einer solchen Verengung des Blickwinkels fallen Erkenntnisse natürlich kaum ab. Deutlich besser als die historisch-ökonomische Analyse beherrschen diese Gruppen denn auch die Artikulationsform des zwischen Aggression und Angst schwankenden Gefühlsausbruchs.
 
Ihr besonderes Steckenpferd und der eigentliche Gehalt ihrer Texte sind Parolen, Stereotype und Anspielungen, wie sie sonst nur bei offen reaktionären, antisemitischen Organisationen zu finden sind. Hier wird die „Intifada“ gepriesen; mit „From the river to the sea, Palestine will be free!“ zur Vernichtung Israels aufgerufen; und in Wendungen wie „zionistischer Kapitalismus“ der Jude mit dem Wucherer assoziiert.
 
Dass so etwas auf einer linken Demonstration toleriert wird, ist ein Skandal. Die gutmütigste Erklärung dafür ist noch, dass die übrigen beteiligten Gruppen, auf die linke Umdeutung dieser Parolen hereinfallen, wie sie beispielhaft in der nach der Demo von „Palästina spricht“ publizierten „Begriffserklärung“ (https://www.klassegegenklasse.org/palaestina-solidaritaet-hat-nichts-mit-antisemitismus-zu-tun/) praktiziert wird. Mit „Intifada“ meine man ganz allgemein alle „Aufstände“; Israel wolle man nur beseitigen, um dort einen Staat zu errichten, in dem alle Menschen frei von Unterdrückung leben können; und „zionistischer Kapitalismus“ sei ein Fachbegriff für die spezielle Ausprägung des Kapitalismus in Israel.
 
Aber wenn die Gruppe diese antisemitischen Stereotype, die ihre Texte permanent anklingen lassen, tatsächlich ablehnen würde, könnte sie auf Wendungen verzichten, von denen sie ganz genau weiß, dass sie besonders gern von Antisemit*innen benutzt werden. Wenn es ihr darum zu tun wäre, sich von offen antisemitischen Gruppierungen abzugrenzen, könnte sie statt „Intifada ist unser Klassenkampf“ andere Parolen rufen. Aber genau das können diese angeblichen Linken offensichtlich nicht. Sie können nicht anders, als das Repertoire der Antisemit*innen immer und immer wieder zu reproduzieren.
 
Tatsächlich dienen die antikapitalistischen und antirassistischen und sogar die anti-antisemitischen Versatzstücke in ihren Texten nur dazu, das Ressentiment zu verpacken und den Antisemitismus so der tatsächlichen Linken, die diese Gruppen als Umfeld und Unterstützer*innen brauchen, als Wille zur Emanzipation unterzujubeln. Könnte sie nicht mehr mitbrüllen, was die Propagandamaschine des Antisemitismus permanent ausspuckt, hätte eine Gruppe wie „Palästina spricht“ nichts mehr, worüber sie sprechen könnte. 
 
In der Hoffnung, dass der Grund für die linke Toleranz diesen Gruppen gegenüber tatsächlich Unverständnis sein möge, wollen wir hier einige ihrer rhetorischen Tricks beschreiben.
 

1. Emotionalisierung

Diese Gruppen inszenieren sich und die Palästinenser*innen im Allgemeinen als ein einziges Kollektiv von Opfern. In kollektiver Notwehr sei man seit Generationen gezwungen, einen verzweifelten Abwehrkampf gegen Israel zu führen. Der Tonfall changiert dabei zwischen penetrant weinerlich und ungehemmt aggressiv und verlangt angesichts von Leid und Bedrohung unbedingte Identifikation und Zurückstellung aller Vorbehalte. Diese Texte dulden Zweifel so wenig wie Besinnung.

2. Weglassen

Diese Selbststilisierung gelingt nur dank systematischer Ausblendung dessen, was nicht ins Bild passt. Eine Tatsache, die der Gruppe offenbar zu peinlich ist, um sie zu erwähnen, ist zum Beispiel, dass es in Israel eine große arabische Minderheit gibt, die dieselben Rechte hat wie die jüdische Bevölkerung und dass beide in vielen gesellschaftlichen Bereichen und Orten gleichberechtigt zusammenleben. Genauso wenig erfährt man von ihr, dass es auch in den von der Palästinensischen Autonomiebehörde verwalteten Gebieten Kapitalismus, Unterdrückung und Diskriminierung gibt. Davon, dass einige palästinensische Organisationen Selbstmordattentate auf unbeteiligte Zivilist*innen durchführen, scheint „Palästina spricht“ noch nicht gehört zu haben, und der religiöse Fanatismus der Hamas ist ihnen offenbar nie aufgefallen. Hält man sich an ihre Verlautbarungen, dann ist Palästina das Land der Freiheit und Gleichheit, in dem jedeR leben und lieben kann, wie sie*er möchte.

3. Israel mit rassistischen Staaten vergleichen

„Palästina spricht“ nennen Israel nie beim Namen, sondern benutzen stets Begriffe wie „zionistischer Apartheidsstaat“. Sie unterstellen damit, bestimmte gesellschaftliche Positionen oder Bereiche seien Araber*innen in Israel systematisch und explizit verwehrt, wie sie es in Südafrika und den Südstaaten der USA den „Schwarzen“ waren. Tatsächlich aber gibt es im Kernland Israels keine Lokale, Busse oder Bänke, die Araber*innen verwehrt wären und keine gesellschaftlichen Positionen, die sie nicht auch einnehmen könnten. In den besetzten Gebieten mag es anders sein, aber hier einen Unterschied zu machen, hält „Palästina spricht“ für nicht notwendig. Israel auf diese pauschale Art und Weise mit den tatsächlich rassistischen Staaten gleichenzusetzen ist Israelbezogener Antisemitismus.

4. Dem Gegner zuschreiben, was man selber tut

„Palästina spricht“ zufolge ist Israel geprägt von „Rassenwahn“ und ethnischer Säuberung. Sogar die sozialistische israelische Linke hatte angeblich die Absicht, „einen ethnisch rein jüdischen kapitalistischen Arbeitsmarkt und Staat aufzubauen“. Stichhaltige Belege dafür halten sie für überflüssig. Man muss und will es einfach glauben. Tatsächlich ließe sich durch ein wenig Recherche feststellen, dass vielmehr in den palästinensischen Autonomiegebieten kein Jude unbehelligt leben kann – genauso wenig wie eine Araber*in, die an eine Jüd*in Land verkauft hat oder die nicht den obligaten Sexualvorstellungen gemäß zu leben vermag. 

5. Den sofortigen Gegenschlag führen

Aber Hinsehen und Zuhören ist „Palästina spricht‘s“ Sache nicht. Besser und lieber schlagen sie zu:

„Ein Satz, von uns, der massiv verdreht wurde, ist folgender: „Der zionistische Kapitalismus in Palästina ist Teil eines globalen Systems von Herrschaft und Unterdrückung.“ Einige pseudo-„Linke“ aus dem „antideutschen“ Spektrum versuchen diesen Satz zu entstellen, um die Nazis ihrer Großelterngeneration zu entlasten, indem sie antisemitische Verschwörungsideologien vom „raffenden jüdischen Kapital“ auf ein rassifiziertes Anderes projizieren.“

 
Das kling schön akademisch und ist wirklich schlecht formuliert. Gemeint ist: Wer bei einem Satz wie dem vom „zionistischen Kapitalismus“ an antisemitische Stereotype denkt, verfolge nur das eigene, schmutzige Interesse, den Antisemitismus der Großeltern auf die Palästinenser*innen abzuwälzen. Wer die Verwendung offensichtlich antisemitischer Klischees kritisiert, betreibt Schuldabwehr und „NS-Relativierung“. Der Hinweis auf die Nähe zu antisemitischen Stereotypen wird sofort gekontert mit der Rückgabe des Vorwurfs; eine Diskussion sofort abgeblockt.

6. Überblenden des Antisemitismus mit linker Rhetorik 

Der für die Texte von „Palästina spricht“ charakteristischste Trick ist das Überblenden antisemitischer Anspielungen und Andeutungen mit linken Catchwords und Versatzstücken gesellschaftkritischer Theorie.
 
a) „Zionistischer Kapitalismus“
Indem der bereits zitierte Satz in der Wendung „zionistischer Kapitalismus“ den „Kapitalismus“ mit „dem Juden“ in Verbindung bringt, ruft er das Stereotyp des jüdischen Wucherers und der von Jüd*innen beherrschten Finanzsphäre auf. Durch die Verknüpfung mit einem „globalen System von Unterdrückung“ assoziiert er die jüdische Weltverschwörung.
 
Laut „Palästina spricht“ ist das aber ganz und gar unbeabsichtigt. Das Attribut „zionistisch“ soll nicht das Wesen des Kapitalismus kennzeichnen, sondern nur – wie das „rheinisch“ beim „rheinischen Kapitalismus“ – die bestimmte, lokale Ausprägung des Kapitalismus in Israel. Tatsächlich lässt sich dieser Satz so verstehen, vor allem dank des unscheinbaren Prädikats „ist Teil“; und tatsächlich hat „Palästina spricht“ ein gewisses Geschick darin entwickelt, antisemitische Stereotype in Sätze zu verpacken, die auch eine linke Deutung zulassen. Das ändert aber nichts daran, dass solche Sätze antisemitische Stereotype antippen; und an der ständigen  Wiederholung solcher zweideutiger Wendungen kann nur Gefallen finden, wem das Vorurteil nicht zuwider ist.
 
b) „From the river to the sea, Palestine will be free“
Mit dieser Maximalforderung stellt sich die Gruppe in eine Reihe mit den reaktionärsten Kräften, die den Kampf gegen Israel führen. Ihre Begründung dafür, warum aber auch diese Parole nichts mit Antisemitismus zu habe, sondern emanzipatorisch und menschfreundlich sei, lautet:
Der Ruf nach der Befreiung des historischen Gebiets Palästina vom Jordanfluss bis zum Mittelmeer hat nichts mit „Vernichtungsantisemitismus“ zu tun, sondern bedeutet zwangsläufig die antikoloniale Befreiung von zionistischer Unterdrückung und ethnischer Segregationspolitik (Apartheid). Die Freiheit und Gleichberechtigung aller Menschen – ob sie jüdisch, arabisch oder sonst etwas sind – ist nicht gleichzusetzen mit dem rassistischen zionistischen Apartheidsystem, das aktuell im Gebiet Palästina herrscht. Der Spruch bedeutet uns wirkliche Freiheit für alle arabischen sowie jüdischen Menschen, die in einem enkolonialisierten und damit entzionisierten Palästina gemeinsam und gleichberechtigt leben können und wollen.
 
Diese Erklärung ist so offensichtlich verlogen wie die Drohung an die deutlich, von denen „Palästina spricht“ entscheiden wird, dass sie in ihrem neuen Palästina nicht „gemeinsam und gleichberechtigt leben können“. Auch wenn sie sagen, in dem Staat, der an die Stelle des heutigen Israel und der palästinensischen Gebiete treten soll, solle „wirkliche Freiheit“ herrschen, ist doch die Voraussetzung für seine Errichtung die Auslöschung Israels; und auch wenn sie es als Parteinahme für die Unterdrückten verkaufen, ist das eben eine Parteinahme nicht für die Arbeiter*innenklasse, die in beiden Ländern den Kapitalisten gegenübersteht, sondern für die palästinensische Seite. Da sie durch keinerlei Kritik an bestimmten palästinensischen Akteur*innen eingeschränkt wird, bedeutet es Solidarität auch mit den Antisemit*innen der Hamas.
 
c) „Intifada ist unser Klassenkampf“
Sucht man in der deutschen Wikipedia nach „Intifada“, erfährt man, dass darunter die erste (1987-1992) und die zweite Intifada (2000-2005) zu verstehen seien. Zu den maßgeblichen Akteuren der zweiten Intifada zählten auf palästinensischer Seite neben den angeblich linken PFLP und DFLP die islamistischen und offen antisemitischen Organisationen Hamas und Islamischer Dschihad. Sie führten den Krieg bevorzugt mit gegen die jüdische Zivilbevölkerung gerichtetem Terror: mit Selbstmordanschlägen auf Busse und Restaurants.
 
„Palästina spricht“ aber „erklärt“ die Parole „Intifada ist unser Klassenkampf“, die die Gruppe auf einem großen Seitentranspi im Frontblock der 1.-Mai-Demo gezeigt hat, so:
Intifada bedeutet auf Arabisch so viel wie „sich erheben“ beziehungsweise „Aufstand“. Gemeint ist eine Erhebung der unterdrückten, kolonisierten palästinensischen Bevölkerung gegen die Unterdrückung durch den zionistischen Apartheidstaat und dessen Siedlungskolonialismus. Historisch hat sich eine solche revolutionäre Erhebung wie andere Revolutionen der Geschichte in Generalstreiks, Massenprotesten, selbstversorgenden Rätestrukturen von unten, Massenboykott, Frauenkomitees bis hin zu militantem Widerstand geäußert. Intifada hat nichts mit „Vernichtungsantisemitismus“ oder „alle Juden töten“ zu tun. Als Palästina Spricht sind wir Teil der internationalen Linken und unterstützen dementsprechend selbstverständlich Aufstände, Revolutionen und Dekolonisierungsprozesse wie eine Intifada.
 
Das, was man in Deutschland unter „Intifada“ eigentlich ausschließlich versteht, wollen sie in ihrer Parole also darunter nicht verstanden wissen. Allerdings sucht man auch vergeblich nach einer Distanzierung von dieser „Intifada“ oder wenigstens von einigen sie tragenden Organisationen oder vom Mittel des Selbstmordanschlags. Die „Intifada“ ist angeblich nicht gemeint, aber dass sie nicht gemeint ist, wird auch wieder nicht explizit gesagt. Sie ist nicht gemeint, aber auch nicht nicht gemeint. Sie wollen sich nicht darauf festlegen lassen, mit „Intifada“ genau das zu meinen, was alle damit meinen, aber sie wollen genauso wenig darauf verzichten, genau diese Assoziation aufzurufen. 
 
Diese für die Texte der Gruppe charakteristische Unschärfe kompromittiert den Klassenkampf mit dem Ressentiment und legitimiert die antisemitische Aktion als Befreiungstat. 
Antisemitisch Aufschlagen und mit linken Argumentationsfiguren ein War-doch-nicht-so-gemeint Simulieren hat hier Methode. Durch die Überblendung von antisemitischen Parolen und Vorstellungen mit linkem Vokabular und Argumenten entsteht in diesen Texten ein Vexierbild. Explizit und deutlich gezeichnet ist stets nur die linke Argumentation; immer präsent aber bleiben die antisemitischen Stereotype. Da die Argumente nie deutlich ausgeführt und die Begriffe absichtlich unscharf gehalten werden, legen sich diese Wortcluster wie Nebel um die Wirklichkeit. Einzig zu erahnen bleibt darin die finstere Gestalt des Juden.
 
Diese Gruppen lassen es sich einige Mühe kosten, als Linke wahrgenommen und akzeptiert zu werden. Um solche Texte schreiben zu können, mussten sie immerhin erst herausfinden, welche Phrasen und Argumente bei Linken gut ankommen, und um den Kritiker*innen ihre Vorwürfe zurückgeben zu können, mussten sie deren Argumente wenigstens zur Kenntnis genommen haben. So wie Deutschland seine „besondere Geschichte“ inzwischen in moralische Überlegenheit umgemünzt hat, so haben sie und die gesamte Bewegung um den BDS gelernt, sich als Linke auszugeben.
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