Ein linker Hinterhalt

Von Ibrahim Naber, Alexander Dinger

Vermummte schlugen vor zwei Jahren ein ZDF-Team am Rande einer Corona-Demo in Berlin zusammen. Noch heute leiden Opfer unter den Folgen. Der Staatsschutz ist sich jetzt sicher: die mutmaßlichen Täter kommen aus dem linken Spektrum. Eine Exklusivrecherche.
Zwei Jahre ist der Angriff her, der sein Leben verändert hat, doch als sich Gordon Graszt an einem nasskalten Mittwoch in Berlin dem Tatort nähert, schießen die Bilder sofort in seinen Kopf. „Hier“, sagt der 24-Jährige und zeigt auf die Fahrradständer vor ihm, „lag ich auf dem Boden und wurde zusammengetreten.“

Graszt, ein hagerer Hüne mit rosa Wollmütze, steht im Berliner Stadtteil Mitte, unweit vom Alexanderplatz. Hinter ihm thront die Spitze des Fernsehturms, links ist der Eingang zum Kaufland, daneben ein Café. In dieser Passage gerieten der junge Tontechniker und seine Kollegen am 1. Mai 2020 in einen Hinterhalt.

Bis heute gilt der Überfall auf das TV-Team der Satiresendung „Heute Show“ (ZDF) als einer der brutalsten Angriffe, die es am Rande von Corona-Protesten gab. Ein Schlägertrupp, überwiegend vermummt, attackierte sie damals unvermittelt und gezielt.

„Wie Zombies“ seien die Angreifer auf sie losgestürmt, sagte eines der Opfer später. Manche von ihnen leiden noch immer an den Folgen der Attacke. Das Reporterteam hatte zuvor auf der sogenannten „Hygienedemonstration“ gedreht, wo sich Gegner der Corona-Maßnahmen versammelt hatten. Doch auch andere Gruppen, darunter Gegendemonstranten, zogen an jenem Tag durch die Hauptstadt.

So brutal und plötzlich der Überfall ablief, so groß war danach bundesweit der Aufschrei. Wer Journalisten angreife, werde „die Kraft unseres Rechtsstaates zu spüren bekommen“, kündigte der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) an.

Schnell gab es erste Tatverdächtige, aber die Verwirrung war groß. Denn laut Staatsanwaltschaft gehörten sie „dem linken Spektrum“ an – darunter ein Geschwisterpaar aus Baden-Württemberg, wie WELT AM SONNTAG erstmals berichtete. Das sorgte in der radikal linken Szene für Aufregung und warf die Frage nach dem Motiv auf.

Gordon Graszt weiß bis heute nicht, wer auf ihn einprügelte und schon gar nicht warum.

Erst schienen sich die Ermittlungen endlos in die Länge zu ziehen, dann wehrten sich Tatverdächtige über Monate juristisch gegen eine DNA-Probenentnahme. Am Ende vergeblich.

Nun also, nach mehr als zwei Jahren, sind die polizeilichen Ermittlungen abgeschlossen. Der Aufwand war enorm. Staatsschützer des Landeskriminalamtes (LKA) Berlin sind überzeugt, mehrere mutmaßliche Täter identifiziert zu haben – darunter ein Mann, der Graszt attackiert haben soll.

WELT zeigt nicht nur exklusiv, zu welchem Ergebnis das LKA kommt, sondern hat auch mit Opfern und Beteiligten des Falls gesprochen.

Der Überfall

Eigentlich, so erzählen die Opfer heute, sei es ein ganz normaler Dreh gewesen. Das TV-Team filmte zunächst am Rosa-Luxemburg-Platz in der Berliner Innenstadt, wo sich Teilnehmer der „Hygienedemo“ versammelten. Die Polizei sicherte das Gelände ab. Komiker Abdelkarim führte für die „Heute Show“ Interviews. Die Atmosphäre sei friedlich gewesen, berichten Beteiligte.

Außerhalb des abgesperrten Bereichs aber war die Stimmung anders, phasenweise aufgeheizt und aggressiv: Traditionell ziehen am Ersten Mai Demonstranten auf die Straße. Es herrscht Ausnahmezustand.

Dass sie Sicherheitsleute engagieren, gehöre bei Demo-Drehs mittlerweile dazu, sagt Harald Ortmann. Er ist Geschäftsführer der Berliner „TV United GmbH Film- und Fernsehproduktion“, die das TV-Team stellte. Mehrfach schon hatten sie zuvor für die „Heute Show“ gedreht. Seine Firma würde das seit den rechtsextremen Pegida-Demonstrationen so machen. Mehrfach schon kam es zu bedrohlichen Situationen.

Nur acht Gehminuten trennen den Rosa-Luxemburg-Platz vom Tatort. Graszt sagt, dass sie dorthin am Nachmittag aufbrachen. Er erinnere sich auf dem Weg nur an eine brenzlige Situation. Als ihr Kameramann das gedrehte Material überprüfte, sei dieser von dunkel gekleideten Personen „dumm angemacht“ worden. „Hier nicht filmen!“, habe einer gerufen.

Ortmann, der selbst nicht vor Ort dabei war, erzählt, dass ihm ein beteiligter Redakteur Tage später berichtete, er hätte beim Dreh „die ganze Zeit ein blödes Gefühl“ gehabt. Das Gefühl, beobachtet zu werden.

Gegen 16.20 Uhr, so steht es in einem Dokument, das WELT vorliegt, hätten sich die sieben Geschädigten in der Rochstraße aufgehalten. Der Dreh war zu diesem Zeitpunkt so gut wie abgeschlossen. Sie machten gerade Pause. Er habe einen der Sicherheitsmänner nach einer Zigarette gefragt, sagt Graszt. Einer aus dem Team habe noch „Achtung“ gerufen. „Und ich glaube, ich konnte die Zigarette noch nicht mal anzünden. Dann hatte ich schon jemanden vor mir stehen, der mir direkt ins Gesicht geschlagen hat.“

Komiker Abdelkarim sprach Tage nach der Attacke in der „Heute Show“ von mindestens 15 Personen, die „in Hochgeschwindigkeit“ auf sie zugekommen seien. „Wie Zombies, die schnell rennen können.“

Es gibt ein Video des Angriffs, keine Minute lang, das von einem Hochhaus gefilmt wurde. Die Aufnahmen zeigen eine noch nicht identifizierte Person, die wohl das Angriffssignal gibt. Insgesamt sollen es 10 bis 20 überwiegend Vermummte gewesen sein. Sechs Beschuldigte hat die Polizei identifiziert.

Das Video offenbart sowohl die Brutalität der Attacke als auch das Vorgehen. Die Vermummten schlugen und traten unvermittelt auf die Opfer ein, auch auf eine bereits am Boden liegende Person. Mindestens ein Schlagwerkzeug wurde dabei verwendet, eine Metallstange.

Graszt sagt, er habe den ersten Angreifer noch zu Boden ringen können. Acht Jahre habe er früher Kampfsport betrieben, die Jiu-Jutsu-Stunden hätten ihm in der Situation geholfen. Doch der erste Angreifer habe am Boden plötzlich um Hilfe gerufen. „Dann kamen die anderen und haben auf mich eingetreten. Und irgendwann musste ich loslassen.“

Für die Ermittler steht fest, dass die Täter „sehr koordiniert“ vorgingen. Es habe Späher, Aufpasser und Schläger gegeben. Die einen hätten geprügelt, die anderen für sie abgesichert. Und nach etwa 20 Sekunden erfolgte der gemeinsame Abzug der Gruppe.

Es waren Beamte des Streifendienstes A 56, die den Überfall aus der Ferne beobachteten. Nach einer Verfolgungsjagd nahmen Polizisten in der Nähe des Tatortes sechs Verdächtige fest. Diese fuhren, so halten es Ermittler fest, auf zuvor bereitgestellten Fahrrädern. Sie sollen zwischenzeitlich auch ihre Kleidung gewechselt haben.

Bei der Festnahme leistete ein Beschuldigter Widerstand, ein Polizist wurde dabei verletzt. Von den Tatverdächtigen wurden vor Ort Taschen und Kleidung beschlagnahmt. Darunter befanden sich Stadtpläne und Gebissschützer, was laut Polizei auf eine gezielte Vorbereitung hinweisen könnte.

Selten betreibt das LKA so einen Aufwand, um eine Tat aufzuklären. Sie ließen den Angriff auf die Journalisten und die Flucht der Tatverdächtigen unter anderem nachstellen. Dafür wurden Schauspieler engagiert und Straßen am Tatort gesperrt. Auch Drohnen kamen zum Einsatz. Rund 60 Menschen waren Teil dieser Rekonstruktion.

Diese Akribie in der Aufarbeitung hängt auch mit einem Problem zusammen: Zwischen Festnahme und Tat liegen mehrere Minuten und Hunderte Meter. Die Verfolgung der Verdächtigen durch die Polizei hat Lücken. An manchen Stellen verloren die Beamten den Sichtkontakt.

Die Ermittler drängten deshalb bereits 2021 auf die Entnahme von DNA-Proben, um durch sogenannte „Spuren-Personen-Treffer“ Zweifel aus dem Weg räumen zu können. Doch lange wehrte sich die Verdächtigen juristisch gegen die Entnahme der Proben.

Die Opfer

Als die Schläge und Tritte endeten, habe er sich „so richtig zerbeult“ gefühlt, sagt Gordon Graszt. Sein Kopf dröhnte vor Schmerzen. Er tastete den Boden nach seiner Brille ab, die irgendwo zerbrochen lag, die Gläser zerkratzt. „Dann habe ich gemerkt, ich habe Blut an der Hand.“ Unter seinem Auge klaffte eine Wunde, die Stunden später im Krankenhaus genäht wurde.

Geschäftsführer Ortmann wundert sich bis heute, warum sich die Aggression beim Angriff so sehr auf den Kameramann und den Assistenten gerichtet hätte. „Es sah schon sehr ausgespäht aus“, sagte Komiker Abdelkarim in den Tagen nach dem Angriff.

Die Folgen des Angriffs für die Geschädigten laut Polizei: Platzwunden, Hämatome, ein Nasenbeinbruch, Bewusstlosigkeit. Alle, mit einer Ausnahme, mussten zur ambulanten Behandlung ins Krankenhaus.

Graszt kramt aus seiner Tasche sein Handy hervor und zeigt die Bilder, die Stunden nach der Tat von ihm gemacht wurden. Ein Verband ist um Nase und Kopf gewickelt, an Händen und Beinen finden sich Spuren der Tat.

Heute gehe es ihm relativ gut, sagt Graszt, zumindest psychisch sei es okay. „Aber ich bin immer noch sauer und ich will immer noch, dass die Leute dafür zur Rechenschaft gezogen werden.“

Körperlich habe der Angriff für ihn bis heute Konsequenzen. Er könne wohl nie wieder so arbeiten wie zuvor. Seine Schulter, sagt Graszt, bereite ihm Probleme. „Wenn ich meine Schulter so hochhebe, ist alles okay“, führt er vor und streckt den Arm auf Kopfhöhe aus. „Aber sobald ich über diesen Punkt komme, habe ich wahnsinnige Schmerzen.“ Gerade als Tonmann brauche er eigentlich eine gesunde Schulter. Physiotherapie und Krankengymnastik hätten jedoch nur temporär geholfen.

Ortmann berichtet, dass vor allem der attackierte Kameramann lange unter den Folgen des Angriffs gelitten habe. „Der kann erst seit kurzem wieder darüber reden. Das hat ihn nachhaltig so stark belastet.“ Ein Gespräch mit dieser Redaktion lehnte er ab.

Die Tatverdächtigen

Schon kurz nach der Tat im Mai 2020 gab die Generalstaatsanwaltschaft Berlin bekannt, dass die Tatverdächtigen – vier Männer und zwei Frauen, alle im Alter zwischen Mitte 20 und Anfang 30 – dem „linken Spektrum“ zuzuordnen seien. Dafür liegt eine Reihe von Hinweisen vor.

Als die Polizei einen der Verdächtigen festnahmen, fand sie in einem Rucksack, den er bei sich hatte, einen Aufkleber mit der Aufschrift „NEA Antifaschist“. Die Abkürzung steht für die Berliner Gruppierung Antifa Nord-Ost. In einem weiteren Rucksack steckte auch eine Wasserflasche mit diesem Aufkleber. Die Gruppe soll im Vorfeld des 1. Mai im Internet dazu aufgerufen haben, Angehörige der rechten Szene zu bekämpfen.

WELT liegen Namen von Verdächtigen vor. Die Redaktion verzichtet aufgrund des laufenden Verfahrens jedoch darauf, diese zu veröffentlichen.

Bereits kurz nach dem Angriff lag bei zwei der zwischenzeitlich Festgenommenen ein dringender Tatverdacht vor. Eine Beschuldigte wurde aufgrund ihrer auffälligen Brille und der Haare von einem Zeugen wiedererkannt. In einem anderen Fall ergab sich der dringende Tatverdacht durch Beobachtungen von Polizisten.

Verfassungsschutz beobachtet zunehmende Radikalisierung unter Linksextremisten
Ermittler sehen bei den Beschuldigten weiterhin Bezüge zur linken bis radikal linken Szene, gehen aber nicht davon aus, dass es sich um gefestigte Linksextremisten handelt. Eine Tatverdächtige war in dem linken Berliner Szeneobjekt „Scharni38“ gemeldet.

Ein anderer Tatverdächtiger sei mehrfach staatsschutzrelevant mit Verstößen gegen das Versammlungsgesetz, einem Landfriedensbruch, politisch motiviertem Hausfriedensbruch sowie Sachbeschädigung aufgefallen. Unter anderem soll er 2019 die Bundespressekonferenz gestört und 2014 an einer Blockade gegen eine rechte Demonstration teilgenommen haben. Diesem Mann, geboren 1995, schreiben Ermittler bei der Tat eine herausgehobene Stellung zu. Er soll auch auf Gordon Graszt eingeschlagen haben.

Die bisherigen Ermittlungen hätten auch den Verdacht gegen das Geschwisterpaar S. aus Baden-Württemberg erhärtet, heißt es in Sicherheitskreisen. WELT AM SONNTAG hatte über die Vorwürfe gegen sie bereits wenige Wochen nach der Tat berichtet. Ein Verwandter der Beschuldigten im schwäbischen Örtchen Schwaigern erzählte damals, dass der verdächtige Bruder kurz vor dem 1. Mai zur Schwester nach Berlin aufgebrochen sei.

Der Bruder war laut einer Online-Veröffentlichung Trainer eines Kickboxklubs. Online bekundete er damals Unterstützung für Antifa-Plattformen und Initiativen wie „Sea-Watch“ oder „Seebrücke Heilbronn“. Auch seine Schwester bekundete damals online Sympathien für linke Positionen und Aktionen.

Bekannte trafen die Geschwister mehrfach in einem „selbstverwalteten Zentrum für linke Politik, Kultur und kollektives Wohnen“ in Heilbronn. Ein Reporter dieser Redaktion traf in dem Zentrum Wochen nach dem 1. Mai 2020 auch Unterstützer der „Roten Hilfe“. Die Bundesregierung bezeichnete die Organisation als eine Vereinigung, die „linksmotivierten Straf- und Gewalttätern politische und finanzielle Unterstützung“ biete.

Um die mögliche Tatbeteiligung der Verdächtigen zu klären, wurden mittlerweile unter anderem DNA-Spuren gesichert und der Vergleich mit den Tatverdächtigen angeordnet. Von vier in Berlin gemeldeten Beschuldigten wurden bereits DNA-Proben entnommen, teilte die Staatsanwaltschaft mit. Bei den Beschuldigten aus Baden-Württemberg erhielt die Polizei vor Ort einen entsprechenden Auftrag.

„Eine DNA-Probe, bei der die DNA im Innern eines Handschuhs festgestellt wurde, an dessen Außenseite die DNA eines geschädigten Zeugen festgestellt wurde, wird derzeit beschleunigt ausgewertet“, sagte der Sprecher der Staatsanwaltschaft Berlin, Sebastian Büchner, auf Nachfrage von WELT. Das Ergebnis soll bald veröffentlicht werden.

Das Motiv
Die Frage bleibt: Was steckt hinter diesem Angriff? Auch nach zwei Jahren Ermittlungen haben Staatsschützer darauf keine eindeutige Antwort. Bislang hätten sich die Tatverdächtigen nicht zum Fall geäußert. Auch ein Bekennerschreiben liegt Ermittlern nicht vor.

Die These der Ermittler lautet: Es war eine Verwechslung. Wahrscheinlich hätten die Angreifer politische Gegner im Visier gehabt, die sie dem rechten Spektrum zuschreiben. Dann aber schlugen sie auf die Falschen ein.

Auch Graszt hat die These bereits gehört, sogar im eigenen Freundeskreis. „Ich kenne ein paar Leute in der linken Szene und von denen hatte ich dann eben auch gehört, dass es eine Verwechslung gewesen sein soll mit einem Team von ‚Russia Today.‘“ Den Ermittlern liegen dazu keine Erkenntnisse vor.

„Was wir erleben, ist Berliner Behörden-Pingpong“
Auch die anfängliche Spur zur NEA-Gruppe, von der Sticker bei der Festnahme gefunden wurden, brachte keine wirklichen Fortschritte.

Geprüft haben Ermittler auch den Hinweis, die Attacke könnte mit Ken Jebsen zusammenhängen. Aus dem ehemaligen Radio-Moderator ist ein Verschwörungsideologe geworden, und ein Feind der radikalen Linken. Tatsächlich wurden Jebsens Shows über Jahre teilweise im Studio der Produktionsfirma TV United produziert. Graszt erinnert sich an die Aufzeichnungen, sagt aber, dass die Zusammenarbeit der Vergangenheit angehöre.

Graszt selbst bezeichnet sich politisch eher als links. „Also ich würde sagen, wenn es Rechte gewesen wären, hätten sie einen Grund gehabt, weil ich schon wirklich links eingestellt bin.“

In Sicherheitskreisen geht man davon aus, dass die Generalstaatsanwaltschaft bald Anklage vor einem Landgericht erheben wird. Die Frage wäre dann, ob man den Angriff als schwere oder als gefährliche Körperverletzung wertet. Wenn Journalisten am Rande einer politischen Demonstration angegriffen werden, gilt eine politische Tatmotivation aber als wahrscheinlich, heißt es aus Ermittlerkreisen. Die Verdächtigen hätten sich in hohem Maß konspirativ verhalten.

Die Tat sei ein klassischer Hinterhalt gewesen.

passiert am 01.05.2020