Erregte Antisemitismusdebatte wegen der Documenta: Meint ihr das wirklich ernst?

Was ist gefährlicher: alte antisemitische Karikaturen aus Indonesien oder Antisemiten, die mit Maschinenpistolen in Synagogen eindringen? Über die fatale Lust der Deutschen an Symbolpolitik.

(aus: Der Spiegel)

Völlig sinnlos, noch etwas zu sagen, da mitten hinein ins Gebrüll. Niemand hört zu, im schlimmsten Fall brüllen sie lauter. »Glauben Sie mir, jeder Jude hat Angst vor brüllenden Deutschen«, sagte der Opernregisseur Barrie Kosky kürzlich im »SZ-Magazin«, und dieses Zitat hier ist natürlich sauunfair, denn die Deutschen sind ja deswegen so laut, weil sie es seit Jahren so verdammt ernst meinen mit der Bekämpfung des Antisemitismus in ihrem Land und darin gerade wieder so schrecklich betrogen worden sind. Dabei zerstört vor allem dieses Brüllen alles, jedes Ringen um Vernunft, Augenmaß, Verständigung, Fakten. Selbst die Politiker können einem leidtun, Bundespräsident Steinmeier mit seinem stirnfaltigen Versuch, Kunstkritik mit der Solidarität für Israel zu verschmelzen, Kanzler Scholz, der nun zum ersten Mal seit wie vielen Jahren nicht zur Documenta fahren wird? Wie schade für ihn. Empörend ist der Umgang mit Claudia Roth, deren Persönlichkeit und Lebenslauf Beweis genug sein sollten für ihre Ernsthaftigkeit im Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus, und deren Rücktritt man selbstverständlich ebenfalls verlangt hat, mindestens, neben dem aller anderen, die in den letzten Monaten auch nur in die Nähe der Documenta gekommen sind. Die einzige Forderung, die noch fehlte, war, ganz Kassel niederzubrennen, damit angemessen Buße getan ist.

Nein, ich werde hier nicht auch noch beteuern, dass ich diese Darstellungen »abscheulich«, »abstoßend« und what the fuck finde, denn das ist Antisemitismus immer. Ich will auch nicht entscheiden, ob man das Wandbild hätte nur abdecken oder ganz abnehmen sollen, oder ob, wie man es bei den »Judensauen« an den kunsthistorisch wertvollen Kirchen hält, eine »Erklärungstafel« genügt hätte. »Erklärungstafel meine Mudda«, wie einer meiner Freunde sagen würde. Ich stelle mir vor, wie sie das zusammengerollte Wimmelbild des Schreckens in dunkler Nacht außer Landes geschafft haben, war auch der BND involviert? Ich habe nämlich keine Angst vor zwanzig Jahre alten antisemitischen Karikaturen aus Indonesien, auch nicht vor denen, die sie gewebt oder gemalt haben. Angst habe ich vor den Leuten, die Walter Lübcke auf seiner Veranda erschießen oder versuchen, mit einer Maschinenpistole in eine voll besetzte Synagoge einzudringen.

Und schwer unbehaglich ist mir angesichts des diskursiven Reinigungsfurors eines publizistischen Bataillons aus Anti-Antisemiten, die offenbar wirklich glauben, dass sie dieses Land bald, vielleicht schon übermorgen, antisemitenfrei kriegen. Kriegt ihr aber nicht, niemals, nicht nach zweitausend Jahren des tief verwurzelten christlichen Antisemitismus, vom Holocaust gar nicht erst zu reden. Aber erst, wenn ihr das versteht, kann irgendetwas besser werden. Wenn ihr versteht, gegen welchen Antisemitismus man sofort angehen muss.

Wütend bin ich übrigens auch, und zwar ganz enorm, auf die Verantwortlichen dafür, dass dieses Dings je aufgehängt wurde. Im besten Fall war es Blödheit, im schlimmsten Sabotage, aber es bombt eine ohnehin vergiftete Debatte endgültig zurück in die Steinzeit. Die tragischen Verlierer sind all jene fachkundigen Wissenschaftler, Kulturinstitutionen, Kulturvermittler, Kuratoren, die sich seit Jahren um Wissensvermittlung und die Verhältnismäßigkeit der Debatten bemühen. Verlierer sind auch alle Juden, die die Wörter »Menschenrechte« und »Palästinenser« weiterhin gern in einem Satz unterbringen möchten. Über ihnen allen geht nun der Hohn der Ulf Poschardts, Jürgen Kaubes, Thomas E. Schmidts und Volker Becks nieder, die schon immer gewusst haben, dass aus dem sogenannten Globalen Süden (früher: Dritte Welt) nichts anderes kommen kann als »blanker« Antisemitismus – und jetzt auch noch mit deutschen Steuergeldern!

Also noch einmal von vorne. Deutschland hat den Holocaust erdacht und durchgeführt, einen der größten Völkermorde der Geschichte. Auf Stalins Konto gehen wahrscheinlich noch mehr Tote, aber die schiere Technik des zeit- und ressourcensparenden Massenmordes (Ersticken in Gaskammern, Verbrennen der Leichenberge in neben gelegenen Öfen), zu deren reibungslosem Ablauf nur ganz wenige Arbeiter, infamerweise ebenfalls Juden, benötigt wurden, bleibt ein »schwarzes Loch des Verstehens« (Dan Diner). Diese monströse Schuld hat Deutschland auf sich geladen, und die Verantwortung für die angemessene Erinnerung daran wird es nie wieder los. Da aber Erinnerung immer ein Zustand der jeweiligen Gegenwart ist, verändert auch sie sich beständig. Nach 1945 begann sie schleppend, die Täter entkamen hunderttausendfach oder wurden lächerlich gering bestraft. Von den Nürnberger Prozessen über die Studentenrevolte 1968 bis hin zur Wiedervereinigung und dem schwierigen Abgleich der beiden verschiedenen deutschen Erinnerungskulturen – Deutschland ist es, so argumentiert die jüdisch-amerikanische Philosophin Susan Neiman, als erstem Land gelungen, mit dem Konzept der »Vergangenheitsaufarbeitung« neben den Helden- auch die Untaten in die nationale Identität zu integrieren.

Eine erfolgreiche Schmerzgeschichte, eine schmerzhafte Erfolgsgeschichte – doch sie verändert sich weiter. Die meisten Zeitzeugen sind nun tot, die Weltpolitik ist nicht weniger kompliziert geworden, und seit Langem wird von Deutschland gefordert, mehr internationale Verantwortung zu übernehmen. Es reicht nicht mehr, die deutschen Verbrechen als Erklärung für deutsche Untätigkeit, Feigheit, Naivität oder Blindheit hochzuhalten; wie schief das gehen kann, hat die Implosion der Russlandverständigungspolitik gerade erst gezeigt.

Und daher kommt es wohl, dass der geschwollene moralische Zeigefinger nicht mehr nur auf sich selbst, sondern immer häufiger auf andere weist. Da man nach all den Jahren im eigenen Purgatorium vollumfänglich verstanden zu haben glaubt, was Antisemitismus ist, und sich selbst frei davon wähnt, möchte man ihn bei anderen umso allumfassender geahndet sehen. Ein deutscher Drang zur Übererfüllung blitzt auf. Genau diesem entsprang vor drei Jahren die so ungeheuer schädliche Anti-BDS-Resolution des Bundestags, eine Resolution, die ursprünglich auf die AfD zurückging. Im Jahr 2019 wusste hierzulande noch kaum einer, was BDS (»Boycott, Divestment, Sanctions«) eigentlich ist: nämlich die an sich vernünftige Idee der Palästinenser, eine gewaltlose politische Alternative für die Auseinandersetzung mit Israel zu finden. Aber BDS fuhr unter anderem deswegen gegen die Wand, weil es sich nicht mit dem Boykott von Produkten der israelischen Siedler (die jeden Boykott verdienen!) zufriedengab, sondern ihn auf israelische Künstler und Wissenschaftler ausgedehnt haben wollte.

Das ist, Stichwort Meinungs- und Kunstfreiheit, in demokratischen Ländern die rote Linie, das muss man gar nicht Antisemitismus nennen. Aber für die deutsche Debatte ist das beinahe schon zu hoch. Hier ist nur wichtig, dass innerhalb von drei Jahren das Akronym BDS vom Schockerfaktor her so ähnlich zu klingen beginnt wie RAF oder IS. In drei Jahren von null auf Hexenjagd. Seither verbringen Praktikanten in Kulturvereinen und Museen ihre »Zeit zu einem guten Teil damit, die Social-Media-Accounts der geladenen Künstler oder Theoretiker rückwirkend zu durchforsten. Nach Likes an falschen Stellen und nach potenziell belastenden Aussagen«, wie Catrin Lorch in der »Süddeutschen Zeitung« schrieb. Ein Hauch von McCarthy weht durch das Land.

Im Ausland, etwa in Israel oder den USA, klingt es wie ein schlechter Scherz, wenn man erzählt, was danach geschah: Die zwanzig wichtigsten Wissenschafts- und Kulturinstitutionen, vom Goethe-Institut über das Humboldtforum, die Bundeskulturstiftung, das Zentrum für Antisemitismusforschung, das Moses-Mendelssohn-Zentrum, das Einstein-Forum, das Wissenschaftskolleg und viele mehr wandten sich als »Initiative GG 5.3 Weltoffenheit« gegen diese Resolution und versuchten, die fatale Auswirkung auf jede Kulturarbeit zu beschreiben, die der traurigen alten Regel folgt, dass, sobald man etwas verbietet, immer noch mehr verboten werden muss. Über tausend Intellektuelle unterstützten sie öffentlich, darunter Aleida Assmann, Micha Brumlik, Diedrich Diederichsen, Carl Hegemann, Eva Illouz, Matthias Lilienthal, Ulrike Ottinger, Milo Rau, Ingo Schulze und Klaus Staeck. Seither gelten sie alle, ebenso wie die teilnehmenden Institutionen, als BDS-Anhänger oder BDS-nah. Was gleichbedeutend ist mit: als Antisemiten. Oh nein, das ist nicht übertrieben, man kann es nachlesen, besonders beim so gern als Kronzeugen herangezogenen dubiosen »Kasseler Bündnis gegen Antisemitismus«. Andere Kostprobe – es gäbe Hunderte – aus der notorischen »Welt«: »Ein klarer Fall von demokratischem Antisemitismus.«

Meinen die das wirklich ernst, die Jacques Schusters, Stephan Grigats, Boris Pofallas, Alexander Neubachers und Stefan Trinks? Ganz Kulturdeutschland antisemitisch unterwandert – und damit praktisch sämtliche deutschen Fachleute, die in unzähligen Büchern und Studien die deutsch-jüdische Geschichte, den Holocaust und den Antisemitismus erforscht haben und international hoch angesehen sind? Ebenso alle Kulturvermittler und Kuratoren vom Goethe-Institut bis zum Haus der Kulturen der Welt? Aber so ist leider der völlig enthemmte Zustand der deutschen Debatte beim Thema Antisemitismus, und das macht sie inzwischen wirklich gefährlich. Die Fachleute sind marginalisiert, die mit dem Bauchgefühl haben übernommen. Da denunziert es sich auch leichter. Mit einem Vergleich aus der Coronazeit: Hier geben nicht die Drostens den Ton an, sondern solche, die empfehlen, Desinfektionsmittel zu injizieren. Und schließlich ist es auch eine Art Psychodrama: Viele Deutsche glauben sich ihre kollektive Läuterung und Demokratisierung in letzter Konsequenz offenbar wirklich nicht, in selbst entlastender Absicht verschieben sie den Fokus daher auf den muslimischen sowie den ziemlich vagen, irgendwie »kulturellen« oder linken Antisemitismus.

Dabei hat sich an den Zahlen seit Jahrzehnten wenig verändert. Der ungefähre Anteil an Antisemiten bleibt mit zehn bis fünfzehn Prozent stabil, allerdings tragen die sozialen Medien zusammen mit der Coronapandemie zu einer messbaren Radikalisierung der Mitte bei. Weiterhin werden rund 80 bis 90 Prozent aller antisemitischen Gewalttaten, also von Körperverletzung bis Mord, von deutschen Neonazis begangen. Der nächste Anschlag à la Halle ist bestimmt längst in Planung. Und deren Netzwerke reichen bekanntlich bis in Polizei und Bundeswehr. Aber lasst uns doch noch ein wenig über Wandteppiche aus Indonesien reden.

Zur Autorin: Eva Menasse, geboren 1970 in Wien, lebt als Schriftstellerin und Essayistin in Berlin. Zuletzt erschien ihr Roman »Dunkelblum«. Sie schreibt seit Jahrzehnten über NS-Geschichte, Schoa und Antisemitismus.

passiert am 29.06.2022