Zwei Jahre paradox-a.de – Ein Blog zur anarchistischen Theorie

Vor mittlerweile zwei Jahren habe ich den Blog paradox-a.de gestartet. Im Wissen darum, dass derartige Projekte von Einzelpersonen oftmals kurzlebig sind, habe ich die Erwartungen daran niedrig gehalten. Mein ursprüngliches Anliegen bestand vor allem darin, bereits vorhandene Texte, in denen ich mich mit anarchistischer Theorie aus der Perspektive der anarchistischen Synthese beschäftigte, zugänglich zu machen. Mittlerweile ist eine große Zahl von weiteren Beiträgen entstanden und veröffentlicht worden. Dabei handelt es sich um Buchbesprechungen, Theorietexte auf einem höheren Niveau, Interventionen und persönliche Gedanken zur Reflexion über meine unmittelbare Lebenswelt.

Darüber hinaus dient der Blog dazu, dass ich mich als referierende Person zu anarchistischen Themen ansprechbar zeige. Nach wie vor führe ich – abhängig von meinen Kapazitäten – Vorträge und Workshops durch. Beispielsweise zu (Anti-)Politik, Individualismus und Kollektivismus, sozialer Revolution oder Pluralität im Anarchismus. Aufgrund meiner langjährigen intensiven Beschäftigung mit anarchistischer Theorie kann ich darüber hinaus auch weitere, damit verbundene Veranstaltungen ausarbeiten. Das habe ich auch vor – also fragt mich gerne an und ladet mich ein.

Sowohl die spezifische theoretische und inhaltliche Perspektive als auch meine Entscheidung – wo es mir sinnvoll erscheint – mich offen als Anarchist zu positionieren und diese Position öffentlich zu thematisieren, sind selbstverständlich nur eine unter verschiedenen Möglichkeiten, auf welche Weise Menschen aus diesem Spektrum aktiv sein können. Keineswegs plaudere ich leichtfertig über Strukturen oder Interna. Wo es mir aber möglich ist, versuche ich die Exklusivität einer Szene zu überwinden, deren Grundgedanken so wahr und richtig sind, dass sie unbedingt verallgemeinert werden sollten. Dieses Selbst-Bewusstsein (dem konkreten Thema gegenüber) ist mit nicht in die Wiege gelegt, sondern habe ich mir gerade durch eine theoretische Beschäftigung angeeignet.

Aus diesem Wissen und Bewusstsein ergibt sich keine soziale Hierarchie. Aber diese Herangehensweise basiert auf gesellschaftlichen Privilegien und persönlicher Besessenheit, die mir einen Vorsprung in einem bestimmten Bereich ermöglicht haben. Ich versuche diesen abzubauen, indem ich Zugänge dazu eröffne und andere Menschen motiviere, sich selbst mit anarchistischem Denken auf ihre Weisen zu beschäftigen.

Dass wir unter anderem in einer Klassengesellschaft leben, erscheint mir so offensichtlich, dass ich dies nicht fortlaufend benennen muss. Dass meine Theorie unter anderem poststrukturalistisch beeinflusst ist, macht sie nicht weniger „materialistisch“ als jene anderer Intellektueller, die sich so labeln. Im Übrigen lehne ich den Irrglauben ab, nach welchem aus einer als „falsch“ erachteten Theorie automatisch eine problematische Praxis folgen würde. Diese Vorstellung ergibt sich meines Erachtens aus einem autoritären Verständnis von Theorie, mit dem ein avantgardistischer Führungsanspruch begründen werden soll. Stattdessen ist es möglich, Theorie so zu betreiben und zu vermitteln, dass sie zur selbstbestimmten Bewusstseinsbildung von Menschen dient – was einschließt, dass diese sich ihre eigenen Gedanken dazu machen und dadurch ihre eigenen Praktiken reflektieren und ableiten.

Auf anarchistische Theorie kann mensch sich spezialisieren, wie auf alle möglichen anderen Praktiken auch. Prinzipiell sind aber alle Menschen in der Lage, theoretisch zu denken, wenn sie sich die entsprechenden Voraussetzungen dafür aneignen und diese zugänglich gemacht werden. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass es auch in der anarchistischen Szene einen Bedarf an theoretischer Beschäftigung gibt, sei es in Bezug auf die eigene Tradition und Geschichte, hinsichtlich von Grundbegriffen, der Aktualisierung anarchistischer Theorie und ihrer Anwendungsbezogenheit. Gefühle und Überzeugungen sind wichtig und für das anarchistische Denken und Handeln einzubeziehen. Wenn es aber bloß bei Romantik und Dogmatik bleibt, werden wir die Gesellschaftsordnung nicht grundlegend reorganisieren. Dafür braucht es unter anderem auch Theoriearbeit.

Meiner Erfahrung nach irritiert es viele Menschen, wenn ich zugleich Position beziehe und verschiedene Positionen gelten lassen kann. Auch wenn dies einer gewissen neurodiversen Veranlagung entsprechen mag, halte ich diese Herangehensweise für sinnvoll und begründbar. Sie ist kein Ausdruck von Beliebigkeit, Gleichgültigkeit oder bürgerlicher Toleranz. Sie ist auch nicht weniger „rational“ als beispielsweise eine vermeintlich kohärente marxistischen Theorieentwicklung. Deswegen taugt das damit verfolgte und weiter zu entwickelnde Denken in Spannungsfeldern und Paradoxien auch als Name des Blogs und bildet sein Programm.

Meiner Ansicht nach ist die Pluralität im Anarchismus eines seiner wesentlichen Charakteristika und deswegen begrüßenswert, weil auch eine erstrebenswerte libertär-sozialistische Gesellschaftsform heterogen und vielfältig sein wird. Und zwar im Unterschied zum staatlich verwalteten Multikulturalismus, der kapitalistischen Warenauswahl oder der neoliberalen Subjektivierung von angeblich ach so besonderen Individuen. Weiterhin anerkennt der synthetische Anarchismus, dass soziale Bewegungen und die anarchistische Szenen offensichtlich pluralistisch sind. Daher muss jede emanzipatorische Bestrebung die Autonomie und Freiwilligkeit der ihr angehörigen Gruppierungen bewahren, wenn mit ihr zugleich eine dezentrale Assoziierung und Föderation möglich werden soll.

Da ich den Anarchismus in ethischer, organisatorischer und theoretischer Hinsicht anderen sozialistischen Strömungen gegenüber für überlegen halte, richtet sich meine solidarische Kritik oftmals auf Verkürzungen, welche ich in seinen unterschiedlichen Ausprägungen wahrnehme – seien sie plattformistisch, syndikalistisch, pazifistisch oder individualistisch. Hierbei geht es nicht darum, alle Anarchist*innen in eine gemeinsame Organisation zu integrieren, sondern um einen gemeinsamen Prozess, um auf verschiedenen Wegen nach Autonomie zu streben. Das bedeutet Herrschaftsverhältnisse wie Staat, Kapitalismus, Patriarchat, weiße Vorherrschaft und Naturbeherrschung radikal abzubauen und im selben Zuge freiheitliche, gleiche und solidarische Beziehungen an ihre Stelle zu etablieren.

Aus diesem Grund lehne ich die Fetischisierung von Identitäten ab, suche aber nach flexiblen Orientierungspunkten, an welche wir uns halten können. Ich wende mich gegen besinnungslosen Hedonismus, überheblichen Dogmatismus, gnadenlosen Moralismus, rückhaltlosen Aktionismus und bloße Theoriearbeit. Ich kritisiere, wenn anarchistische Praktiken, Gedanken und Lebensweisen zu bloßen Selbstzwecken verkommen – anstatt immer auch als Mittel für die radikale, umfassende und anhaltende Transformation verstanden zu werden.

Den Blog paradox.a.de und diese Form anarchistischer Theorieentwicklung als Einzelperson zu betreiben, hat Vor- und Nachteile. Ich stehe aber im kontinuierlichen Austausch mit verschiedenen Personen und Gruppen, deren Gedanken in meine eigenen Überlegungen einfließen. Im besten Fall fühlen sich Sympathisierende durch die veröffentlichten Beiträge und meine Veranstaltungen inspiriert ihre eigenen Wege, Positionen und Praktiken zu finden, indem sie Anregungen erhalten, die ihnen helfen, ihre Lebensrealitäten zu interpretieren und zu verändern.

Nehmt gern mit mir Kontakt auf oder reicht eigene Beiträge ein, wenn ihr sie passend findet.

Weil es mir um die gemeinsame Debatte, die Weiterentwicklung und Stärkung der anarchistischen Szene geht, agiere ich – wenn nicht repressive Aspekte der bestehenden Herrschaftsordnung dagegen sprechen – möglichst transparent. Um eine Herrschaftsordnung angreifen zu können, welche uns in Konkurrenz, Misstrauen und Missverständnis setzt, mache ich mich selbst angreifbar. Dieses Statement bildet wie immer einen Zwischenstand ab. Ich wollte es weder einfacher, noch komplizierter formulieren. Die Veröffentlichung eines intellektuellen Textes an dieser Stelle halte ich deswegen für sinnvoll, weil die bestimmte Weise meiner Theoriearbeit – und vor allem, was ich damit mache und vorhabe – selbst eine bestimmte Form der Praxis ist. Und ich glaube auch eine im besten Sinne radikale.

Für den libertären Sozialismus!
Es lebe die Anarchie!

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