Anschlag auf Blohm+Voss – Warum diese Männer nach 51 Jahren ihr Schweigen brechen

Steinwerder – Der 13. Oktober 1969. Um 6.32 Uhr zerreißt auf der Werft Blohm + Voss eine gewaltige Explosion die Stille. Trümmer fliegen 150 Meter weit. Eine Schute sinkt sofort. Die im Bau befindliche Korvette „Joao Coutinho“, die gleich daneben liegt und der der Anschlag galt, wird schwer beschädigt, geht jedoch nicht, wie geplant, unter. Zwar nimmt die Polizei die Ermittlungen auf, findet die Täter aber nicht. Oder wollte sie sie gar nicht finden?

51 Jahre danach sitzen die beiden Bombenleger einem MOPO-Reporter gegenüber und beantworten bereitwillig alle Fragen. Uwe C.*, inzwischen 80, und Peter M.*, 73 Jahre alt, reden zum allersten Mal mit einem Fremden über das Attentat. Wie sie heute zum Anschlag stehen? Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen. Beide sind einer Meinung: „Es war richtig, was wir getan haben.“

Vor 51 Jahren: Anschlag auf Blohm + Voss in Hamburg

Dass sie ihre Namen und ihr Gesichter nicht veröffentlicht sehen wollen, hat nicht mit Angst vor Strafverfolgung zu tun. Die Tat ist längst verjährt. Weshalb dann diese Zurückhaltung? „Weil wir uns einerseits nicht wichtig machen wollen, und andererseits wären manche Menschen in unserem Umfeld irritiert und vielleicht geschockt, weil wir sie nicht ins Vertrauen gezogen haben.“ Gleichzeitig finden die beiden es wichtig, nicht länger zu schweigen, denn „es wird Zeit, historisch aufzuarbeiten, was damals geschah und warum. Das geht auch anonym.“

Dann beginnen sie zu erzählen: Es ist eine Geschichte, so spannend wie ein Agententhriller von John le Carré. Es gibt Losungsworte, konspirative Treffen in einer Pariser Buchhandlung und ein Paket mit 20 Kilo Plastiksprengstoff, das sie sich aus einem Schließfach am Hamburger Hauptbahnhof holen. „Plötzlich wurde es ernst“, sagt Peter M., „und zugegebenermaßen hatten wir richtig Bammel.“

Die Geschichte spielt in einer Zeit, als die Jugend begann, den Kapitalismus, die verkrustete Parteiendemokratie, ja, eigentlich alles in Frage zu stellen. In Hamburg protestierten Studenten, Schüler und Auszubildende gegen die Notstandsgesetze der Regierung Brandt/Kiesinger, gegen die undemokratischen Strukturen an Unis, Schulen und in den Betrieben, gegen den Vietnamkrieg und gegen Ausbeutung und Unterdrückung der Menschen in der Dritten Welt.

Dabei rückte 1968 immer mehr ins Blickfeld, was für einen brutalen Krieg der portugiesische Diktator Antonio de Oliveira Salazar (1889-1970) gegen die nationalen Unabhängigkeitsbewegungen in den Kolonien seines Landes führte. Das war wie ein zweites Vietnam. Bilder von furchtbaren Massakern kursierten: Auf einem hielten portugiesische Soldaten in jeder Hand den abgeschlagenen Schädel eines ermordeten Freiheitskämpfers in die Höhe – wie eine Trophäe. „Da wurden keine Gefangenen gemacht“, erzählt Uwe C., „die haben jeden gefoltert und ermordet.“

Portugals brutaler Kolonialkrieg in Afrika

Die Empörung beim „Sozialistischen Deutschen Studentenbund“ (SDS), der Keimzelle der Rebellion, war groß, als herauskam, dass die Bundesrepublik ein Waffenembargo der Vereinten Nationen missachtete und die portugiesische Militärjunta mit Kriegsmaterial belieferte. Als dann ein niederländisches Fernsehteam auch noch aufdeckte, dass sich bei „Blohm + Voss“ in Hamburg drei 80 Meter lange und 10 Meter breite Korvetten im Bau befanden, die künftig das Rückgrat der portugiesischen Flotte bilden sollten und unmittelbar für den Kolonialkrieg bestimmt waren, da setzte sich die Erkenntnis durch, dass was geschehen musste.

Aktivisten des „Sozialistischen Lehrlingszentrums“ (SLZ) in der Hochallee 21, von denen einige auf den Werften arbeiteten, stellten eine Informationskampagne auf die Beine. Flugblätter wurden an den Werkstoren von „Blohm + Voss“ verteilt. Darauf abgedruckt war ein Schreiben der angolanischen Befreiungsorganisation MPLA an die „Genossen Arbeiter und Angestellte“: „Indem Ihr diese Korvetten mit Euren Händen baut, habt Ihr niemand anderem geholfen als den Unterdrückern der afrikanischen Völker. Ihr müsst Euch klar darüber werden, dass Ihr nichts produziert, sondern nur vernichtet.“

Zeitgleich traf ein Schreiben der PAIGC, der Befreiungsbewegung Guinea-Bissaus, beim Hamburger SDS ein. Absender: Amílcar Cabral, der charismatische Führer. In dem Brief stellte er klar, dass die Korvetten aus Hamburg eine große Bedrohung für den Freiheitskampf Afrikas seien. Es sei müßig, lang und breit über Solidarität zu reden, schrieb er. „Was nottut, das ist der Kampf. Sie müssen in Ihren Ländern ebenfalls kämpfen. Ich sage nicht, mit dem Gewehr in der Hand. Ich werde Ihnen auch nicht sagen, wie sie zu kämpfen haben. Das ist Ihre Angelegenheit.“

Konspiratives Treffen in einer Pariser Buchhandlung

„Uns war klar, wir müssen was tun“, sagt Peter M. „Also nahmen wir Kontakt zu einem niederländischen Angola-Komitee auf, das wiederum in Verbindung stand mit einer portugiesischen Widerstandsgruppe namens „Liga für revolutionäre Einheit und Aktion“ (LUAR). „Mit einem gemieteten VW Käfer sind wir dann nach Paris gefahren. Ein Losungswort war vereinbart, und es kam zu einem konspirativen Treffen in einer Buchhandlung im Quartier Latin.“

Von dort ging es über Umwege in eine Wohnung ohne Namensschild, wo die Hamburger von zwei Männern in Empfang genommen wurden. Zunächst war von Sprengstoff noch nicht die Rede. Erstmal wollten die Gastgeber  den Fremden aus Deutschland auf den Zahn fühlen. Es gab Stunden lange Gespräche über Politik, Widerstandsbewegungen, Kuba, die Sowjetunion, China und die westdeutsche Studentenbewegung. Anschließend wurden die Hamburger zur Buchhandlung zurückgebracht und mit den Worten verabschiedet: „Wir melden uns!“

Der Sprengstoff lag im Schließfach am Hauptbahnhof

„Beim nächsten Gespräch kamen sie dann ganz schnell zur Sache”, fährt Peter M. fort. „Man sei bereit, uns 20 Kilo Plastiksprengstoff zur Verfügung zu stellen.” In einer anderen konspirativen Wohnung gab es eine Unterweisung in die Eigenschaften des Sprengstoffs und in den Bau einer Bombe. Am Ende hieß es abermals: ,Ihr hört von uns.‘“ Die Hamburger traten die Heimreise an.

Vierzehn Tage später überbrachte ein Bote einen Umschlag: Darin der Schlüssel für ein Schließfach im Hamburger Hauptbahnhof. Damit verbunden war die Anweisung: „Sofort abholen!“

„Um sicherzugehen, dass mit dem Sprengstoff alles in Ordnung war, haben wir eine kleine Menge davon auf dem Truppenübungsplatz Höltigbaum getestet“, erzählt Peter M. „Wir wussten ja, dass dort Sprengungen an der Tagesordnung sind und ein lauter Knall nicht weiter auffallen würde. Die Wirkung war beeindruckend: Der Baum, an dem wir die Ladung angebracht hatten, wurde zerrissen.“

„Nein, nein, wir haben das Buch noch nicht gelesen“

In den nächsten Monaten passierte erstmal nichts. Theoretisch über einen Anschlag nachzudenken, ist das eine, ihn wirklich durchzuführen, was ganz anderes. „Wir mussten uns schon ganz schön überwinden“, gibt Peter M. zu, „und das hat den Sprengstofflieferanten ganz offensichtlich zu lange gedauert. Eines Tages kam ein Anruf. Da sagte jemand: ,Wir hätten gerne das Buch zurück.‘ Ich habe geantwortet: ,Nein, nein, wir haben das Buch noch nicht gelesen.‘“

Damit war klar: Jetzt oder nie.

„Am 12. Oktober 1969“, so Uwe C., „haben wir die Bombe gebastelt.“ Dazu verwendeten die Attentäter einen Plastikeimer mit Deckel und als Zeitzünder einen handelsüblichen Wecker. In der darauffolgenden Nacht verschafften sie sich gegen ein Uhr durch ein Loch im Zaun Zutritt zum Gelände von Blohm + Voss. Den Weg zum Ausrüstungskai, wo die Fregatte „Joao Coutinho“ lag, konnten sie ungehindert zurücklegen.

„Das Schiff war bewacht, aber uns war bekannt, dass den Werkschutzmännern in der Nachtschicht langweilig war und sie Werftspaziergänge unternahmen oder sich an entfernte Getränkeautomaten begaben“, so Peter M. „Unser Plan war, in einer solchen wachfreien Pause das Schiff zu betreten und den Sprengsatz zu deponieren.“

Doch der Werkschutzmann dieser Nacht blieb in seiner Bude sitzen, löste Kreuzworträtsel und hörte Radio. Die Bombenleger mussten also improvisieren: Einer der beiden hangelte sich an einem Versorgungsschlauch von der Kaimauer hinunter auf eine Schute, die zwischen Korvette und Kaimauer lag. Eine Möglichkeit, von dort auf die Korvette zu kommen, gab es nicht. Deshalb deponierte er den Sprengsatz in einer Wassertiefe von einem Meter zwischen Schute und Korvette. Anschließend kletterte der Bombenleger an dem Versorgungsschlauch wieder auf die Kaimauer hoch.

Ein handelsüblicher Wecker diente als Zeitzünder

„Wir hatten den Zeitzünder auf 6.30 Uhr eingestellt – denn wir wussten, erst um 7 Uhr ist Arbeitsbeginn“, erzählt Uwe C. „Wir konnten also davon ausgehen, dass sich niemand auf dem Schiff oder an der Kaimauer befinden würde. Geplant war, dass wir um 6 Uhr Polizei und Werkschutz telefonisch warnen würden. Als es soweit war, stellten wir zu unserem Schrecken fest, dass die Telefonzelle, von der aus wir das machen wollten, kaputt war. Wir gerieten ganz schön in Panik und mussten in größter Eile eine andere finden. Um 6.13 Uhr erreichten wir endlich die Polizei. Um 6.15 Uhr den Werkschutz. Um 6.20 Uhr riefen wir den Werkschutz noch einmal an, um ganz sicher zu gehen. Um 6.32 Uhr machte es Rrrrummms.“

Der Tag, an dem die RAF ihren ersten Mord beging

Ziel der Attentäter war es erstens, das Schiff mindestens so schwer zu beschädigen, dass es möglichst spät an Portugal ausgeliefert werden konnte, und zweitens sollte der Anschlag eine gesellschaftliche Diskussion darüber auslösen, dass die Bundesrepublik eine brutale Militärdiktatur mit Kriegsgerät belieferte. Ziel eins wurde erreicht: Der Schaden am Schiff war so groß, dass sich die Auslieferung um acht Monate verzögerte. Das zweite Ziel aber verfehlten die Attentäter. Zwar wurde in niederländischen Medien ausführlich berichtet, in deutschen jedoch kaum: Einige Zeitungen brachten kurze Artikel und auch in den Abendnachrichten wurde der Anschlag erwähnt – aber das war es auch schon. „Als hätte jemand die Angelegenheit bewusst totschweigen wollen“, so Uwe C.

Möglicherweise ist die Erklärung aber auch viel einfacher: Am selben Tag stürzte in der Nähe des Fliegerhorstes Memmingen zum 100. Mal ein Starfighter ab. Das überlagerte möglicherweise alle anderen Ereignisse.

Die Attentäter reisten nach der Tat nach Marokko

Auch die außerparlamentarische Opposition in Hamburg sorgte nicht dafür, den Anschlag und seine Hintergründe an die Öffentlichkeit zu bringen. „Eigentlich war eine Flugblatt-Aktion und eine Presseerklärung geplant, aber das unterblieb“, so Uwe C. Vielleicht steckte dahinter die Sorge, für die Tat verantwortlich gemacht zu werden. Hinzu kam ganz sicher auch, dass die APO inzwischen völlig zersplittert war. Peter M.: „Die rebellierende Jugend war zu sehr mit sich und den diversen Zirkelinteressen beschäftigt, als dass sie noch in der Lage gewesen wäre, auf das Signal zu reagieren und die antikolonialistischen Aktivitäten auszuweiten.“

Im Jahr darauf löste sich der SDS selbst auf.

Die beiden Bombenleger verreisten unmittelbar nach der Tat nach Marokko und blieben dort bis Weihnachten. „Unsere Nachbarn wurden befragt, unsere Geschwister auch. Wir selbst wurden nach unserer Rückkehr zwar von der Polizei beschattet, aber nie auch nur vernommen“, erzählt Peter M. „Dabei sind wir uns ziemlich sicher, dass die Polizei genau wusste, dass wir es waren.“

Mit der „Nelkenrevolution“ endete auch der Kolonialkrieg

1974 putschten linksgerichtete Generale gegen die Militärjunta in Lissabon. Die „Nelkenrevolution“ bedeutete das Ende der Diktatur – und des portugiesischen Kolonialkriegs. Noch im selben Jahr wurde Guinea-Bissau unabhängig. Angola, Mosambik und andere Teile des Kolonialreichs erklärten ihre Unabhängigkeit im Jahr darauf.

Die beiden portugiesischen Widerstandskämpfer Camilo Mortágua und Hermínio da Palma Inácio – sie waren es, die den Hamburger Attentätern den Sprengstoff beschafft hatten – kennt heute in Portugal jedes Kind. Dafür, dass sie die Militärjunta bekämpften und den Anschlag auf die „Joao Coutinho“ herbeiführten, wurden sie mit höchsten Orden ausgezeichnet.

51 Jahre sind vergangen seit jener Nacht, in der im Hamburger Hafen der Sprengsatz explodierte. „Wir kalkulierten das Risiko so gering wie möglich. Dass trotz aller Vorsichtsmaßnahmen etwas hätte schief gehen und ein Mensch hätte ums Leben kommen können, hielten wir für fast ausgeschlossen“, sagt Peter M. „Heute sehen wir es anders. Wäre einem Menschen damals was zugestoßen, wir hätten uns das sicher nicht verziehen.“ Und trotzdem sind sie überzeugt: „Es war richtig, was wir getan haben.“

Der Tag, an dem die Giftfabrik „Boehringer“ schließen musste

Der Anschlag vom 13. Oktober 1969 blieb übrigens ihr einziger. Peter M. und Uwe C. führen seither ein gewaltfreies Leben, sind aber weiter links, weiter kämpferisch und immer noch gewerkschaftlich aktiv.

(* Namen verändert)

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