Nie wieder Krieg ohne uns!

Seit Donnerstag den 24. Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Schon vorher, aber auch seitdem ist es beinahe unmöglich Informationen aus der betroffenen Region zu verifizieren. Sowohl staatliche Medien, als auch alternative (linksradikale) Medienplattformen sind für ihre Arbeit auf Berichte von staatlichen Stellen und Einzelpersonen angewiesen. Sich ein umfassendes Bild über die tatsächliche Lage vor Ort zu machen ist dementsprechend ein Ding der Unmöglichkeit. Wie in so vielen bewaffneten Konflikten (Kriegen) zwischen Staaten ist es aber auch nicht notwendig die beiden „Konfliktparteien“ verstehen zu wollen. Das liegt einerseits daran, dass Staaten immer staatliche Interessen vertreten, andererseits eben diese staatlichen Interessen nicht mit den Interessen der Menschen in Einklang zu bringen sind. Diese Erkenntnis muss jeder emanzipatorischen, aber vor allem anarchistischen Perspektive auf Krieg zugrunde liegen. Um den Versuch einer Einordnung in Bezug auf den Krieg gegen die Ukraine soll es hier gehen.

WELCHER BURGFRIEDEN?

Als Kaiser Wilhelm zu Beginn des 1. Weltkriegs 1914 seine berühmte Rede hielt, in der er davon sprach, dass er „keine Parteien“ mehr kenne, sondern „nur noch Deutsche“ sprach er sich dafür aus, die bestehenden (politischen, klassenspezifischen, usw.) Widersprüche im Hinblick auf ein größeres Ziel, den Krieg, hinten anzustellen. Wenn es heute darum geht, die Ukraine, „die westlichen Werte“ und „Europa“ in der Ukraine zu verteidigen (1), dann können wir das mit der Aussage des deutschen Verteidigungsminister Peter Struck, dass „unsere (die deutsche, Anmk.) Sicherheit nicht nur, aber auch am am Hindukusch verteidigt“(2) würde vergleichen oder gleich als ein Konstrukt abtun, dass eine europäische Wertegemeinschaft suggeriert, die im alltäglichen sozialen Krieg nicht existiert. So muss es aus anarchistischer Perspektive undenkbar sein, dass existierende Widersprüche nicht verschärft, sondern ganz im Gegenteil, im Angesicht einer Ausnahmesituation aufgelöst werden sollen. Wir müssen einmal mehr herausstellen, dass es nicht darum geht die Menschenrechte zu verteidigen und Solidarität und Selbstbestimmung eben keine europäischen Werte sind, die wir in diesem Krieg gegen ein imperialistisch agierendes Russland hochhalten müssten. Einen Burgfrieden, der Schulterschluss mit dem Staat und auch die Integration in staatliche Strategien dürfen wir aus einer anarchistischen Perspektive nicht zulassen.

GEGEN DIE GENERALMOBILMACHUNG

Medial haben wir es seit beinahe einer Woche mit einer verschärften Mobilmachung zu tun, die auf nichts anderes abzielt als westliche, europäische, imperialistische und schlussendlich staatliche Interessen als Gemeininteressen zu verkleiden. Aus medialer Perspektive ergibt sich die Dringlichkeit zu Handeln ausschließlich aus dem „Sonderfall“ eines Krieges auf dem europäischen Kontinent.(3) Staatliche und nicht-staatliche Berichterstattung verstärken in diesem Moment die eh schon weit verbreitete (un-)bewusste Überzeugung, dass ein Krieg im „Herzen der westlichen Welt“ verabscheuenswerter sei, als überall anders. Unterstrichen wird diese vorherrschende Meinung auch mit der Bereitschaft Geflüchtete aus der Ukraine aufzunehmen und die Ankündigung der Deutschen Bahn, eben diese kostenlos nach Deutschland reisen zu lassen, Möglichkeiten die seit Jahren anderen Verfolgten verweigert wurden. Auch wenn wir diese – mit Sicherheit gesellschaftlich geteilte – Überzeugung aus einer anarchistischen Perspektive abzulehnen meinen, zeigt unser Handeln jetzt gerade, dass wir eurozentristisches Denken tief in uns verinnerlicht haben.
Die Forderung sich den Demos in Solidarität mit der Ukraine – gegen den russischen Imperialismus anzuschließen, Forderungen nach schärferen Sanktionen der „Weltgemeinschaft“, die Fragen nach dem „wie helfen?“ oder auch die Ideen sich in freiwilligen Militärverbänden in der Ukraine zu organisieren zeugen von der Unfähigkeit anarchistische Perspektiven praktisch auch in Ausnahmesituationen und nicht nur theoretisch zu vertreten.
Wie wir uns gegen die militärische Generalmobilmachung in Form der erstmaligen Stationierung der NATO-NRF zur Abschreckung und Verteidigung der Nato-Staaten oder auch Olaf Scholz‘ Ankündigung einen Sonderetat von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr bereitzustellen (4), praktisch positionieren können bleibt eine offene Frage.

ANTIIMPERIALISMUS ODER IMPERIALISTISCHE KONKURRENZ?

Wie schon zu Beginn des Textes geschrieben handelt Russland im Zuge imperialistischer Interessen. Das alleine ist aber auch aus einer europäischen Perspektive nicht verwunderlich. Dass Putin nicht davor zurückschreckt seine imperialistischen Interessen zur Not militärisch zu verteidigen, spätestens seit dem Krieg in Georgien oder auch der Unterstützung der Regierung in Syrien auch nicht. Erschreckend hingegen dürfte die – für viele neue – Erkenntnis sein, dass imperialistische Kriege sich nicht geographisch begrenzen lassen. Die Ukraine ist näher an Deutschland als bspw. Syrien, Libyen, Taiwan oder andere Staaten, die imperialistischen Aggressionen verschiedenster Staaten ausgesetzt sind. Die Mechanismen hinter den Konflikten sind aber dieselben. So sind weder „Europa“, noch die europäischen Staaten oder die NATO Gegenspieler des Imperialismus, sondern vielmehr Akteure auf der weltpolitischen Bühne, die mal die eine oder eben andere, mal mehr und mal weniger imperialistische Politik verfolgen. Die von Putin so vehement geforderte Entwaffnung der Ukraine und das Pochen auf eine Zusage, die Ukraine nicht in die NATO aufzunehmen sind ihrerseits eine Reaktion auf die über Jahrzehnte laufende NATO-Osterweiterung, die zumindest mündlich schon vom deutschen Außenminister Genscher 1990 ausgeschlossen wurde.(5)
Auch hier kann es aus anarchistischer Sicht nicht darum gehen Partei für eine der beiden Seiten zu ergreifen. Eher müssen wir einsehen, dass wir es immer noch mit einer Welt zu tun haben, die von imperialistischen Interessen geprägt wird. Überraschend kann gerade nur sein, dass Krieg – ein eher klassisches imperialistisches Mittel – so unverhohlen und offensichtlich zur Durchsetzung imperialistischer Interessen in Europa eingesetzt wird. Die erstmalige Entsendung der NRF (NATO Response Force) – durch den NATO-Generalsekretär Stoltenberg – zur Abschreckung und Sicherung ist ein weiterer Schachzug in diesem Spiel.(6)

WAS TUN?

Die Ohnmacht, die viele in den letzten Tagen in Bezug auf den Krieg in der Ukraine gespürt haben ist im Angesicht des Kampfes zwischen imperialistischen Großmächten (USA, EU und NATO, Russland) nur all zu gut nachvollziehbar. Die Gefahr eines „neuen Kalten Krieg“ ist real. Beängstigend sind auch die geschilderte mediale Mobilmachung auf allen Seiten und die Forderung nach Waffen für die Ukraine oder nach einem Einsatz der NATO auf ukrainischem Staatsgebiet gegen das russische Militär.
Aus einer anarchistischen Perspektive kann es nur darum gehen die bestehenden Widersprüche zu verschärfen. Praktisch heißt das zuerst einmal aufzuzeigen, dass keine der beiden staatlichen Kriegsparteien unsere Solidarität verdient und dass es die Menschen sind, die wie immer unter den imperialistischen Interessen der Mächte leiden werden. Es muss darum gehen den sozialen Krieg zu intensivieren und imperialistische Interessen dort anzugreifen, wo sie sich uns präsentieren. Wir müssen unsere alltägliche Ignoranz gegenüber den Kriegen dieser Welt hinterfragen und die Ohnmacht die wir schon gegenüber vielen Kriegen vorher verspürt haben muss überwunden werden, damit die Parole „Nie wieder Krieg!“, d.h. schlussendlich eine Welt frei von Herrschaft und Unterdrückung Wirklichkeit werden kann.

________

(1) https://www.waz.de/video/selenskyj-ruft-europaeer-mit-kampferfahrung-zur-verteidigung-der-ukraine-auf-id234672545.html
(2) https://www.heise.de/tp/features/Die-Sicherheit-Deutschlands-wird-auch-am-Hindukusch-verteidigt-3427679.html
(3) https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-02/russland-ukraine-invasion-krieg-chronik?utm_referrer=https%3A%2F%2Fduckduckgo.com%2F
(4) https://www.tagesschau.de/regional/nordrheinwestfalen/wdr-story-46061.html
(5) https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/516654/NATO-Osterweiterung-Ein-gebrochenes-muendliches-Versprechen-mit-Folgen-fuer-Europa
(6) https://www.tagesschau.de/ausland/europa/nato-eingreiftruppe-ukrainekrieg-101.html