Beitrag der Roten Hilfe Leipzig zur Debatte um den Täter Johannes Domhöver in Bezug zu Solidaritätsarbeit

Im folgenden Text gehen wir zunächst auf die Vorwürfe gegenüber J.D. (1) und den Umgang einiger Strukturen damit ein. Anschließend versuchen wir, unsere eigenen, allgemeinen Reflexionen bezüglich Antirepressionsarbeit mit übergriffigen Personen darzulegen. Wir würden uns wünschen, dass wir als ‚Szene‘ diese Diskussion weiterführen.

gefunden auf https://antirepression.noblogs.org/post/2021/12/30/beitrag-der-roten-hil…

 

Beitrag der Roten Hilfe Leipzig zur Debatte um den Täter Johannes Domhöver in Bezug zu Solidaritätsarbeit

 

Im folgenden Text gehen wir zunächst auf die Vorwürfe gegenüber J.D. (1) und den Umgang einiger Strukturen damit ein. Anschließend versuchen wir, unsere eigenen, allgemeinen Reflexionen bezüglich Antirepressionsarbeit mit übergriffigen Personen darzulegen. Wir würden uns wünschen, dass wir als ‚Szene‘ diese Diskussion weiterführen.

Am 21.10.21 wurden wir mal wieder mit aller Klarheit damit konfrontiert, dass innerhalb unserer Szene gewalttätiges, menschenverachtendes, sexistisches Verhalten ausgelebt wird. Natürlich sind wir nicht so naiv zu glauben, unsere Szene sei kein Abklatsch dieser beschissenen Gesellschaft, aber schockiert haben uns die Vorwürfe dennoch. Die FLINTA* unter uns sind zwar tagtäglich den größeren und kleineren sexistischen Bemerkungen und Haltungen unserer Genossen ausgesetzt, aber was die Betroffenen von J.D. erlebt haben, überschreitet das, was wir kollektiv erleben, bei weitem. Wir behaupten nicht, dass es aushaltbares und nicht-aushaltbares Scheißverhalten gibt – das sollen Betroffene selbst definieren können –, dennoch treibt sein Verhalten sexualisierte, physische und psychische Gewalt auf die Spitze.
Wir gehen stark davon aus, dass es – wie auch die Betroffene schreibt – Menschen gab, die von seinen Taten wussten. Wie viele, wissen wir nicht, aber wir spekulieren, dass so einige von der Akte gewusst haben mussten, aus der vermutlich auch die Faschos zitiert haben. (2) Es gibt zwar Solidaritätsbekundungen und Lob für die „mutigen“ Betroffenen, aber keine Verantwortungsübernahme seitens Strukturen. Ja, auch wir finden den Schritt der Betroffenen, das Arschloch zu outen, mutig. Aber wo ist die Transparenz der Strukturen, die mit dem Täter zutun hatten, zu ihrer Verantwortung und ihrem Versagen?

Wir finden es schwach von euch, der §129er-Solistruktur, dass ihr nicht schon vor dem ersten Outing einen Umgang mit J.D. gefunden habt bzw. es verpasst habt, diesen zu thematisieren. Wir können verstehen, dass Klandestinitätsabwegungen und Angstmomente Hürden darstellen, aber in abstrahierter Form darauf aufmerksam zu machen, dass nicht allen Beschuldigten im §129er-Verfahren tatsächlich Solidarität gebührt, wäre verdammt nochmal drin gewesen. Es gab zu jedem Zeitpunkt die Möglichkeit, die Vorwürfe gegen einen Beschuldigten zu erwähnen, ohne ihn selbst öffentlich outen zu müssen. Auch hättet ihr, wenn gewollt, schon da klarstellen können, dass er z.B. kein Geld aus den Solitöpfen bekommt, ohne dass die Betroffenen es erst einfordern mussten. Wir nehmen eure Worte ernst und fordern von euch, euren eigenen Aussagen nachzukommen! (3)

Wir erkennen in diesem Fall Argumente, die sich auf ‚Strukturschutz‘ beziehen, nicht an. Es wäre unserer Auffassung nach immer möglich gewesen, sich zu verhalten ohne andere Menschen zu gefährden. Natürlich ist unklar, was der Täter nun tut, aber ihr werdet selbst eingestehen müssen, dass das vor dem Outing auch nicht anders war, denn es zeichnet ein Bild von einem Menschen, der keinen Wert auf die Unversehrtheit von Genoss*innen legt. Wer mit dem Schutz von Strukturen argumentiert, muss sich außerdem fragen lassen, was das in letzter Konsequenz bedeutet: Sollen wir Täter aus Angst vor Verrat unserer Geheimnisse schützen? Stattdessen sollten wir uns doch mit der Frage beschäftigen, wie wir Täter aus den eigenen Reihen outen können, ohne Strukturen zu gefährden. Das Problem ergibt sich jedoch erst daraus, dass solche wie J.D. in der Szene und in Strukturen geduldet werden. Hätten nicht alle weggeguckt oder wäre Feminismus Szenestandart und nicht nur Schriftzug auf Trainingshosen, dann wäre er rausgeflogen oder gar nicht erst Teil geworden, und dann gäbe es jetzt entsprechend weniger zu befürchten. Natürlich steht es nicht allen Tätern auf der Stirn geschrieben, aber mehr Awareness gegenüber problematischer Männlichkeit ist dringend notwendig.
Wir finden sehr gut, was ABC Dresden mit Bezug auf Antirepressionsarbeit dazu schreibt und gehen mit ihrer Analyse mit: „Soli-Kampagnen mit von Repression Betroffenen versuchen oft, ein widerspruchsfreies Bild von perfekten Aktivist*Innen aufzubauen. […] Wir brauchen keine Superheld*innen. Was wir brauchen sind soziale Zusammenhänge, welche bei Gewalt nicht wegschauen, sondern Gewalt ausübende Personen stoppen und Betroffene unterstützen.“ (4) Man kann über ein paar Dinge hinwegsehen, um die Solidarität für von Repression Betroffene zu organisieren, aber – wie wir eingangs schreiben – sicher nicht über J.D.s menschenverachtendes, gewalttätiges Verhalten. Wir denken, es wäre viel wichtiger, das vorhandene Vertrauen unter uns auszubauen und zu festigen, auf dass wir uns gegenseitig bestärken und zusammenstehen können – gegen solche Schweine! Dazu benötigt es aber in erster Linie Transparenz.
Denn uns allen ist bewusst: es wird geredet. Ob das unbedingt gut ist, wollen wir an dieser Stelle nicht bewerten. Aber wir kritisieren die Dynamik, die vermeintlich internes Wissen generiert. Informationen werden unter dem alles trumpfenden Vorwand des Repressionsschutzes unter der Hand gestreut. In den wenigsten Fällen führt das zu einer aktiven Auseinandersetzung. Dies ist eine weitere Dimension von Täterschutz: Immer mehr Menschen werden zu Mitwissenden gemacht, ohne dass sie die Möglichkeit haben, sich adäquat dazu zu verhalten, denn obwohl alle darum wissen, darf man es nicht thematisieren, denn schließlich wurde man nur „im Vertrauen“ eingeweiht. Es gibt schützenswerte Informationen in laufenden Verfahren, aber hört auf, ‚interne Informationen‘ zu verbreiten, die eigentlich alle (oder eben niemanden) was angehen, und fragt euch, wer denn eigentlich geschützt wird dadurch, dass alle darüber tuscheln, aber niemand hörbar was sagt.

Es ist nun mal einfach eine missliche Lage: Die Ermittlungen laufen und die GBA und die Soko Linx werden nutzen, was sie können, um ihre Thesen zu stützen. Dennoch plädieren wir für einen sensiblen, aber offenen Umgang. Es darf sich nicht versteckt werden hinter der Repression. Uns fehlt natürlich der Einblick, wie J.D. von den Bullen in das Verfahren reinkonstruiert wurde. Wir sind sicher, dass die Bullen sich große Mühe gegeben haben, das komplette Verfahren aufzublasen, um das Konstrukt der kriminellen Vereinigung überhaupt aufrechterhalten zu können. Dennoch zweifeln wir an, dass keine*r der weiteren Beschuldigten aus dem Verfahren den Täter und sein Verhalten kannte. Uns ist bewusst, dass es unter dem enormen Repressionsdruck schwierig für die Angeklagten ist, sich öffentlich (im Fall der Beschuldigten meinen wir mit „öffentlich“ nicht die Presse, sondern bspw. die zuständige Soligruppe) zu bekennen. Dennoch plädieren wir insgesamt für mehr Offenheit und ehrliche Benennung von Fehlern. Uns selbst fallen mögliche Begründungen, warum man mit solchen Leuten überhaupt zu tun hatte, ein: Angst, einen emanzipatorischen Weg im Umgang mit ihnen einzuschlagen, oder dass man doch eigentlich gerade ganz anderen individuellen Stress hat und sich nicht damit befassen kann, und dass sich ja andere darum kümmern wollten. Aber unsere ausgedachten Begründungen reichen nicht, wir fordern eine wahrnehmbare Reflexion von seinem Umfeld!

Auch die im Nachhinein veröffentlichten Statements verschiedener Berliner Strukturen suggerieren, keine*r hätte was gewusst. Wir wollen den einzelnen Strukturen nichts unterstellen, wundern uns aber dennoch, dass bis heute keine mal offen legt: „Wir haben es gewusst, waren überfordert damit, wie umgehen und haben uns dann erst mal den wirklich wichtigen Kampffeldern gewidmet.“ Stattdessen hat sich bis zum Zeitpunkt des Outcalls der Betroffen kein anderer Zusammenhang entschlossen, das höchstgradig problematische Verhalten des Täters zu thematisieren.
Auch schließen wir aus dem Outcall, dass es TA-Arbeit (5) mit J.D. gab, denn eine der Forderungen der Betroffenen lautet, dass keine unbezahlte TA-Arbeit mehr geleistet wird. Wir können nur spekulieren, ob es tatsächlich den Versuch eines emanzipatorischen Umgangs mit J.D. gab oder ob es, wie so oft, an der mangelnden Verantwortungsübernahme aller lag und außer einem Gespräch mit den Homies nichts dabei rausgekommen ist. Wir selbst stehen zuweilen auch vor dem Problem, dass „jemand anderes kümmert sich“ uns immer wieder in Passivität verharren lässt, vor allem wenn wir selbst keinen Zugang zu der gewaltausübenden Person haben. Wir denken, dass es dazu mehr Diskussion und Reflexion bedarf. TA-Arbeit sollte kein heimlicher Prozess Einzelner sein, da doch im Regelfall viele Menschen davon abhängig sind, dass diese Arbeit gut geleistet wird und nachvollziehbar ist. Falls es tatsächlich Menschen gibt, die sich mit J.D. auseinandergesetzt haben, erst mal: Respekt. Diese Arbeit macht niemand gerne. Aber bitte verhaltet euch doch mal öffentlich dazu, wie dieser Prozess gelaufen ist, ob er noch läuft oder nicht und an welchen Stellen er geglückt oder gescheitert ist.
Im Bezug auf Arbeit mit dem Täter sehen wir auch die Gefahr von ätzender Männerbündelei, denn oft stützen manipulative Sexisten einander. Auf TA-Gruppen bestehend aus Männern, die nicht einen Text über Definitionsmacht o.ä. gelesen haben und deren eigene Reflexion um ihre Männlichkeit stehengeblieben ist beim Thema „Hinsetzen beim Pinkeln“, können wir verzichten. Wer J.D.s Verhalten heruntergespielt oder negiert hat, sollte sich selbst zwingen, sich wenigstens nachträglich damit auseinanderzusetzen.
Was im Fall von J.D. nun zutrifft, oder auch nicht, können nur die Strukturen um ihn herum aufarbeiten. Wir unterstreichen nochmal die bis dato mangelhafte öffentliche Auseinandersetzung. Sie schürt (berechtigtes) Misstrauen untereinander und schwächt uns kollektiv nachhaltig! Gemachte Fehler im Umgang mit dem Täter können nur auf Akzeptanz stoßen, wenn sie eingestanden und reflektiert werden.

Wir als Leipziger Ortsgruppe der Roten Hilfe fordern außerdem ein öffentliches Statement vom Bundesvorstand der Roten Hilfe zur Forderung der Betroffen: Die RH wird in beiden Outcalls implizit angesprochen, wenn es um die finanzielle Unterstützung von J.D. geht, da das §129-Solikonto über die RH läuft und sie damit die Verantwortung für die Zuteilung der Gelder zuständig ist! Wegducken ist nicht.

Damit kommen wir zu unserer eigenen Arbeit. Zunächst: Wir als Ortsgruppe begreifen uns nicht als Teil der Solistruktur um J.D. und werden uns auch nicht in diese einbringen, so lange diese sich nicht transparent und aus unserer Sicht zufriedenstellend zu ihrer Verbindung zu dem Täter verhält. Darüber hinaus haben wir anlässlich des Falls um J.D. darüber gesprochen, wie wir in der Vergangenheit mit Antirepressionsarbeit mit Tätern umgegangen sind und wie wir das in Zukunft handhaben wollen. Denn wie auch Criminals for Freedom schreiben: Manchmal unterstützen wir Menschen, deren Taten wir verachten. (6) Widersprüche des Lebens: Repression ist scheiße, aber nicht alle, die sie trifft, sind korrekt. Antirepressionsarbeit ist aber kein Altruismus – wir machen das nicht aus Nettigkeit –, sondern politische Notwendigkeit. In manchen Fällen sahen/sehen wir also über uns bekannte Vorwürfe hinweg, um beispielsweise Gerichtsprozesse zu begleiten. Wir machen das, um mitzukriegen, was die Repressionsorgane jetzt schon wieder erfinden und um die Szene über eben diese Entwicklungen von Repression zu informieren. Was wir als Ortsgruppe hingegen nicht tun wollen, ist individuelle Solidarität mit Arschlöchern zu praktizieren, z.B. sie im Knast zu besuchen, damit sie nicht so traurig sind. Rückblickend sind wir dennoch unzufrieden, denn zu jeder Prozessbeobachtung rufen wir auch zu Solidarität mit den Betroffenen auf. Es ist ein Widerspruch, den wir nicht gut auflösen können.

Um unterscheiden zu können, wen wir unterstützen wollen und wen nicht, gibt es aber ein paar Voraussetzungen:
Erstens müssen wir wissen, dass Vorwürfe im Raum stehen. Und wir wollen das wissen! Darum: Egal ob ihr direkt betroffen seid oder zum Umfeld von bspw. sexualisierter Gewalt Betroffener gehört, sprecht uns an! Kommt in unsere Sprechstunde oder schreibt uns (trotzdem gern unter Wahrung von Sicherheitsstandards), und wir werden parteiisch und im Sinn der Betroffenen handeln!
Zweitens ist es schwierig, öffentlich Stellung zu beziehen zu Vorwürfen, die nur als Szene-Gerüchte existieren. Natürlich ist es den Betroffenen überlassen, ob sie Täter outen oder nicht. Outings machen es uns als Struktur aber einfacher, transparent zu machen, ob, wie und warum wir Täter unterstützen. Das heißt auch, dass wir uns in den meisten Fällen, die nicht öffentlich gemacht werden, nicht öffentlich verhalten. Das heißt aber nicht, dass wir uns der Widersprüche nicht bewusst sind, oder nicht damit strugglen. Gerade jetzt wird uns wieder bewusst, dass wir über internes Wissen verfügen, von dem wir denken, dass es öffentliches sein müsste. Wie im Abschnitt oben zu Struktur- und Täterschutz erwähnt sehen auch wir uns vor dem Problem, dass wir uns nicht öffentlich verhalten können, weil andere Strukturen es bislang nicht tun. Damit werden wir zu Mitwissenden; gleichzeitig wird jeder offensive Umgang mit diesem Wissen blockiert. Aus diesem Dilemma heraus verfassen wir diesen Text: Zum einen wollen wir diskutieren, wie mit den aktuellen Problemen umzugehen ist. Zum anderen wollen wir andere Strukturen dazu bewegen, nicht auf Informationen sitzen zu bleiben, die längst publik sein sollten.

Wir wollen, dass Menschen sich über diese Zustände empören und einander zur Rechenschaft ziehen, und wir nehmen uns davon nicht aus. Wenn ihr Zweifel oder Kritik an unserer Arbeit oder Position habt, sprecht mit uns.

Bis die ganze Scheiße aufhört!

Rote Hilfe Leipzig

Dezember 2021

 

(1) Zu den Outcalls, siehe https://kontrapolis.info/5272/ und https://kontrapolis.info/5338/

(2) Davon, dass J.D. schon vor Jahren unter Einsatz von K.O.-Tropfen eine Vergewaltigung versucht hat, berichtete Compact 6 Tage nach dem initialen Outcall, siehe (oder auch nicht): https://www.compact-online.de/antifa-hammerbande-vergewaltigte-ein-mitglied-andere-linke/ Klar ist das Compact-Magazin nicht die Infomationsquelle unserer ersten Wahl. Leider ist die Informationslage bezüglich des §129er-Verfahrens so schlecht, dass man von den Faschos mehr darüber erfährt als von den eigenen Solistrukturen. Wir sehen das durchaus sehr kritisch, natürlich auch, weil man dem Nazipack nicht einfach glauben kann. Dafür, wie diese und andere Informationen bei Faschos gelandet sind und ob es einen Maulwurf in der Soko Linx gibt, interessiert sich indes sogar die Staatsanwaltschaft.

(3) Aus dem Statement von Soli Antifa Ost: „Wir nehmen die Vorwürfe sehr ernst und werden uns mit diesen, sowie unserer eigenen Verantwortung als Solidaritätsbündnis, auseinandersetzen. Wir werden diese Auseinandersetzung der Betroffenen und ihrem Unterstützungskreis transparent machen und versuchen, auch auf unserem Blog unsere Diskussionen und mögliche weitere Konsequenzen offenzulegen.“ Siehe https://www.soli-antifa-ost.org/statement-des-solidaritaetsbuendnis-antifa-ost-zum-outcall-von-johannes-domhoever/

(4) Link zum Statement von ABC Dresden: https://kontrapolis.info/5750/

(5) Wir wissen nicht, ob in dem ersten Outcall Täter-Arbeit oder transformative Arbeit gemeint war. Wir beziehen uns mit „TA-Arbeit“ im Folgenden auf beide Ansätze.

(6) Siehe https://criminalsforfreedom.noblogs.org/2021/10/statement-zum-outing-ueber-den-taeter-johannes-domhoever/#more-1040