Es geht wieder vorwärts: Anarchistischer bis autonomer Jahresrückblick

Am Ende des letzten Jahres waren wir uns einig: 2020 war wirklich das beschissenste Jahr seit Langem, schlechter konnte es nicht mehr werden. Pandemie, Hanau, Räumungswelle, Moria, fast täglich Nachrichten, die viel Wut und Ohnmacht brachten. Manche erwarteten das Schlimmste und dass es 2021 einfach so weiter geht. Andere rechneten mit einem Aufbruch. Am Ende war es irgendwas dazwischen. Während in der Presse der Wahlkampf und die neue Regierungsbildung fast das ganze Jahr bestimmten, hatte die autonome und anarchistische Bewegung in Berlin einige Kämpfe, Zuspitzungen, Niederlagen und Erfolge, die wir hier zusammen fassen wollen. Wir schließen damit an den pathetischen anarchistischen Jahresrückblick vom letzten Jahr an: https://de.indymedia.org/node/122981. Klar ist: Wir erheben überhaupt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und geben nur subjektiv wieder, was uns in Erinnerung geblieben ist. Und freuen uns über eure Ergänzungen.

Januar

Das Jahr beginnt für die Berliner Szene eigentlich am 30.12.2020. Für Silvester hatte sich ein Bündnis von Anarchist*innen bis Linksliberalen gebildet, bei dem FFF, Unteilbar und viele andere dabei waren. Mit dem Slogan „2021 solidarisch“ sollte eine linke Gegenposition gegen Schwurbler*innen und Regierung gesetzt werden. Doch der Senat erteilt ein Demonstrationsverbot, die Linksliberalen ziehen sich zurück und die Anarchist*innen machen eine FCK2020-Demo am Tag davor. Ein Funken für eine linke Antwort auf die Pandemie ist erleuchtet, ein Feuer löst er nicht aus. Das Erleben die Cops in den Seitenstraßen der Schönleinstraße an Silvester. Es regnet Mollis von Leuten, die die ganzjährige Gängelung und die Böllerverbotszonen satt haben.

Des Nachts ziehen vereinzelt noch kleine Gruppen rum und üben Rache für die Räumung des Dannis, u.a. die Grünen erwischt es. Ende Januar findet unter dem Slogan „Lockdown Capitalism“ die zweite linksradikale Demo zur Pandemie statt. Aus der JVA Moabit, wo die Demo startet, winken die Gefangenen und freuen sich über den Besuch. Ihr Alltag hat sich in der Pandemie nur zu mehr Isolation entwickelt, vernüftigen Schutz haben sie trotzdem nicht.

Februar

Im Februar wird der Winter bitterkalt, in Berlin liegt so viel Schnee, dass sich das rodeln wieder lohnt. Der Lockdown ist noch in Kraft, die erste Impfwelle startet schleppend. Im Prenzlauer Berg gibt es äußerst gelungenen Protest gegen Coronaleugner*innen, gleichzeitig spaltet die Debatte um NoCovid die Bewegung.

Mit dem Vorwand des Kälteschutzes räumt der Bezirk Lichtenberg am 07.02. für die Investor*innen in der Bucht die größte Zeltstadt Deutschlands, 100 Menschen werden erneut obdachlos. Ein paar Aktivist*innen besetzen spontan den Bagger und stoppen kurzzeitig den Abriss, eine Tag X-Demo aus dem Friedrichshain in die Bucht zeigt ihre Solidarität. Gleichzeitig kündigt sich mehr Stress an, der erste Angriff auf die Rigaer94 scheint nur noch eine Frage der Zeit.

In einem griechischen Knast geht Dimitris Koufontinas in den Hungerstreik und entfacht eine kleine internationale Solidaritätsbewegung. Mitte Februar stehen unsere Herzen für einen Moment still, wir gedenken mit vielen tausenden den Opfern von Hanau, die ein Jahr zuvor starben. Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi, Fatih Saraçoğlu, Gabriele Rathjen, niemand ist vergessen.

Ende Februar spitzt sich die Situation von Koufontinas zu, eine TagX-Demo für seinen Todesfall wird angekündigt, bleibt zum Glück aber aus.

März

Der März bringt die Schwurbler*innen wieder auf die Straße, Reichsfahnen unter dem Brandenburger Tor. Jugendgruppen organisieren eine größere Gegendemo, ein paar Faschos kriegen aufs Maul. Ende März steht die zweite größere Räumung an, die Kiezkneipe Meuterei soll dran glauben. Die Verwurzelung in der Nachbarschaft ist nur schwach, der Widerstand am Morgen eher Alibi, viel passiert nicht. Am Abend geht es vom Mauerpark durch den Prenzlauer Berg, es knallt hier und da ein wenig. Zwei Tage später ist Housing Action Day, der Mieter*innenbewegung fehlt an Drive.

April

Der kommt im April ungewollt rein. Das Verfassungsgericht urteilt im Sinne der Reichen und kippt den Mietendeckel. Innerhalb von 10 Stunden mobilisieren sich über 10.000 Mieter*innen und ziehen wütend durch Kreuzberg, am Kotti knallt es sogar ein wenig. Ein paar Tage zuvor wollen Schwurbler*innen durch Kreuzberg 61 laufen, spontane Blockaden und Barrikaden verhindern das, die Cops sind sichtlich überfordert. In dieser Zeit hören auch viele zum ersten Mal davon, dass es in Spandau ein Hausprojekt zu geben scheint. In der Jagow 15 legen Rechte mehrfach Feuer. Langsam freuen sich alle auf den ersten Mai, die Wut steigt. Am Vorabend zieht eine kämpferische FLINTA*-Demo mit viel Pyro durch die Nacht, am Rande gibt es ersten Glasbruch.

Mai

Am 01. Mai passiert da, womit eigentlich niemand mehr gerechnet hat: Es knallt ordentlich. Die Demo am Hermannplatz ist riesig und wird von einem migrantischen Bündnis angeführt. Nachdem die Cops versuchen die Demo zu spalten und den anarchistischen Block in der Karl-Marx-Straße zu kesseln geht es in der Sonnenallee rund. Auf der Kreuzung zur Weichselstraße verlieren die Cops für eine Viertelstunde die Kontrolle, in den Seitenstraßen brennen kleine Barrikaden, wo es auch später noch manchmal abgeht.

Kurze Zeit später kommt die Ausgangssperre auch in Berlin, ein paar kleine Fahrraddemos fahren noch nach 22 Uhr durch die Stadt. Die Interkiezionale stellt sich auf einen heißen Sommer ein und kündigt mit „Don’t wait until its too late“ die Räumungsversuche von Köpiplatz, Potse und R94 an.

In Schöneberg gibt es einige kleine Demos der Jugendlichen aus der Potse, von denen mittlerweile manche ganz schön alt geworden sind. Der Druck wirkt, die Räumung wird kurz vorher abgeblasen. Ein paar Monate später unterschreibt die Potse einen Mietvertrag für die Zollgarage im Flughafen Tempelhof, nicht perfekt, aber ein Erfolg in der aktuellen Räumungswelle.

Juni

Sehnlichst erwartet findet am 5. Juni endlich der Kronstadtkongress im Miniformat statt. Endlich kommen die Berliner Anarchist*innen mal zusammen, neue Diskussionen wie die um „Deutsche Wohnen & Co. enteignen (DWE)“ entstehen.

Eine Woche später kann in Biesdorf doch der AfD Landesparteitag stattfinden, nachdem die SPD ihnen eine Wiese vermietet. Parteitage an anderen Orten hatte die großartige „Kein Raum der AfD“-Kampagne in den letzten Monaten immer verhindert. Der Gegenprotest vor Ort bleibt jedoch äußerst überschaubar.

Zum Sommeranfang steht die Brandschutzbegehung in der Rigaer an. Der unbekannte Eigentümer hatte sich mal wieder etwas ausgedacht, um gemeinsam mit Geisel die rebellischen Bewohner*innen loswerden zu können. Ein paar Menschen nehmen das „Don’t wait until its too late“ wörtlich und errichteten wenige Stunden vor der roten Zone massive brennende Barrikaden mit Natodrahtgestellen und Autoreifen. Für eine Stunde können die anrückenden Cops zurückgeschlagen werden, ehe der Räumpanzer und genug Verstärkung die autonome Zone wieder aufheben. Auch am nächsten Tag gibt es Widerstand gegen die eindringenden Cops und Zivis auf der TagX-Demo, sodass die Tage der Brandschutzbegehung uns als mutgebender Moment in Erinnerung bleiben.

Juli

Der Sommer lässt uns wieder die ganze Zerstörung der Klimakatastrophe sehen: Erst brennt im Golf von Mexiko das Meer, dann kommt es zur Hochwasserkatastrophe im Westen Deutschlands und den Beneluxstaaten. Gleichzeitig toben im Süden Europas Waldbrände. In Berlin wird ein Teil der Wuhlheide von ein paar Menschen besetzt und für eine neue Schnellstraße nach einer halben Woche wieder geräumt.
Das große Sommerloch fängt an, nachdem im letzten Jahr nicht viel ging nutzen viele die gefühlte Coronapause und sind weg.

August

Vor der Wahl beginnt die Zeit der vermeintlichen Großdemos, jedes Bündnis muss eine machen um, tja warum eigentlich? Den Anfang macht „Wer hat der gibt“, es folgt die Klimabewegung, Unteilbar, Seebrücke, die Mieter*innenbewegung und „Kommunal statt privat“. Wirklich viel Druck macht das nicht, die Politik lässt sich eher von den Coronaleugner*innen treiben, die nach Demoverboten quer durch Berlin ziehen.

Für viele überraschend erscheint Afghanistan plötzlich wieder auf der Weltkarte. Die Taliban nehmen das Land ein und bedrohen das (freie) Leben der Bevölkerung. Die Bundesregierung trägt ihren Teil dazu bei und hinterlässt das Gebiet und die Meschen in Trümmern. In München blockieren hunderte die IAA und stoßen auf massive Polizeigewalt.

September

Währenddessen organisiert sich in Berlin eine neue Bewegung: Die Beschäftigten der Krankenhäuser stellen erst ein 100-Tage Ultimatum und gehen dann am 09. September in den Streik. Statt Klatschen fordern sie endlich vernünftige Löhne und Entlastung. Ein paar Monate später erreichen sie Lohnerhöhungen durch neue Tarifverträge und sind besser organisiert als je zuvor.

Ansonsten geht der Blick aus Berlin nach Leipzig: Am 18. September läuft dort die „Wir sind alle Linx“-Demo, tausende positionieren sich für militanten Antifaschismus und fordern die Freiheit und Glück von Lina und die anderen Mitangeklagten.

Dann sind endlich die Wahlen. Nicht weil irgendjemand Hoffnung darin hätte, sondern weil das Wahlkampfgedöhns endlich ein Ende hat. DWE holt fast 60 % der Stimmen und wird doch direkt von der neuen Landesregierung abgesägt. Die Ampel steht und verspricht Jahre neoliberales Weiterso, eventuell noch mit ein paar Kürzungen als Zugabe, diesmal nur grün und fresh angestrichen.

Oktober

Anfang Oktober brennt bei Gorillas die Luft. Die Bosse feuern alle, die gestreikt haben, knapp 300 Rider*innen und Picker*innen verlieren mindestens kurzzeitig ihren Job. Vor der Zentrale zieht eine Lärmdemo auf. Die Arbeiter*innen dort sind das ganze Jahr über ein starkes Vorbild für alle klassenkämpferischen Linken. Ihre wilden Streiks geben Hoffnung. Die schenken uns auch die Zapatist*innen, die aus Chiapas kommen und uns zeigen wollen: Die Revolution ist möglich.

Hoffnung gibt es jedoch nicht für den Köpiplatz. Mitte Oktober soll er fallen – und fällt. In den Tagen davor wird es heiß, am Morgen selbst passiert jedoch wenig. Nach vier Stunden ist der Platz mit Räumpanzern, Lanzen und Co. geräumt. Am Abend sammeln sich die Menschen am Zickenplatz und legen direkt los. Cops fliehen auf den Gehwegen vor der Demo, 10.000 Menschen in schwarz sind unregierbar. Bis zum O-Platz knallt es, wo Wannen mit quietschenden Rädern Reißaus nehmen.
Die Räumungsserie geht trotzdem täglich weiter: Ende des Monats werden Daniel und Michel in Kreuzberg geräumt, gegen beide Zwangsräumungen gibt es jedoch endlich mal wieder Widerstand. Den gibt es auch kurz darauf gegen die Baustelle der A100, die in Ende-Gelände-Style blockiert wird.

November

Berlin ist endlich wieder grau, der Herbst ist da. In Lichtenberg markiert die Fight Back, Nachfolgerin der Silvio-Meier-Demo, mehrere Nazikneipen und überrascht die Cops. In Ostberlin außerhalb des Rings geht es voran, die Kiezkommune Lichtenberg wächst und mehrere neue Projekte sind dort übers Jahr entstanden. Wären da nicht die transfreindlichen Angriffe. Ganz in den Osten geht die „We take the power“-FLINTA*-Demo am Tag gegen sexistische Gewalt in Marzahn.

Permanenten Angriffen über das ganze Jahr ist auch die kurdische Bewegung ausgesetzt, am 27.11. trifft sie sich in Berlin zu einer Großdemo gegen das PKK-Verbot. Es schüttet den ganzen Tag, trotzdem gibt uns der Kampf um Rojava zum wiederholten Male neue Energie.

Dezember

Die Pandemie ist längst wieder voll da und mit ihr auch die nervigen Schwubler*innen. Berliner Antifas sind kaum noch dafür zu haben, sich ihnen in den Weg zu stellen. Die Ankündigung Anfang Dezember durch Kreuzberg zu laufen ist aber ein Schritt zu viel. Nach Demoverbot und Routenänderung eines Autokorsos raus aus Kreuzberg passiert jedoch nicht viel. Kurz vor Jahresschluss kam dann überraschend doch der erste reine Faschoaufmarsch des Jahres, die gar nicht so „Junge Alternative“ marschierte durch Mitte, Widerstand gab es außer ein paar Schellen nur am Rande. Große Ankündigungen für den Rest des Dezembers gibt es nicht mehr.

Neben den sichtbaren Ereignissen auf der Straße gibt es auch sonst einiges an Entwicklungen: Die Kiezkommunen als lokale Basispolitik abseits der Szene befinden sich, trotz einer größeren internen Debatte, auf einem spannenden Weg. Dazu gesellt sich der neue Kiezladen in der Sonnenallee. Die Anarchosyndikalist*innen der FAU waren in einigen Kämpfen sichtbar, vor allem bei den Ridern von Lieferando bis Gorillas. Mit der Mieter*innengewerkschaft entsteht ein Pendant auf dem Wohnungsfeld. Größere Gruppen verschwinden, neue entstehen. Kein Name, keine Struktur. Antifa-Gruppen gibt es angeblich in fast jedem Stadtteil, dass sie zusammenkommen passiert aber nur selten. 2021 fehlt schlichtweg der Anlass, weil es – außer am 12.12. – zu keinem größeren reinen Naziaufmarsch kommt. Die Hochphase der Interkiezionalen ist womöglich ein wenig vorbei, nachdem die Liebig, die Meute, das Syndi und der Köpiplatz geräumt sind.

Was wird uns das nächste Jahr bringen? Welche Kämpfe werden wir führen? Wo werden sich unsere Wege kreuzen? Welche neuen Ideen, Strategien und Gruppen werden wir entwickeln? Klimakatastrophe, Rechtsruck, Mietenwahnsinn: Schaffen wir gemeinsam einen Schritt nach vorn in unseren Kämpfen? Vielleicht sogar eine Bewegung, die die Regierung ins Schwitzen bringt? Eins steht fest: Wir werden auch kommendes Jahr alles dafür tun. Verbinden wir uns mehr mit den Menschen um uns rum. Wir sprechen manchmal nicht die gleichen Worte, aber tragen die gleiche Wut in uns. Trauen wir uns, seien wir mutig. Auf eine kämpferische Zukunft.