„Moralapostel und Rechthaber“

Der Aktivist Marcus Staiger verlässt die Kampagne „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“. Die Initiative sei „dogmatisch“, sagt er. Auch die Justiz beschäftigt sich nun mit den internen Querelen

Von Pascal Bartosz und Alexander Fröhlich

Viel Streit um die richtige Linie, Ärger um Subkultur-Marotten und zwei Ermittlungsverfahren gegen Aktivsten – es steht trotz des Wahlerfolgs mit einem Ja-Votum von 56 Prozent schlecht um „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“. Vor zehn Tagen stimmten 1 034 709 Berliner für den von der Initiative durchgesetzten Volksentscheid, doch Kritik am internen Umgang mit anderen Meinungen, an fehlender Toleranz und linkem Dogmatismus lässt sie an sich abperlen.

Nach Tagesspiegel-Informationen hat eine Aktivistin den Mitgründer der Initiative, Michael Prütz, angezeigt: Gegen den 69-Jährigen wird wegen Verdachts der sexuellen Nötigung ermittelt. Prütz soll auf einer öffentlichen Veranstaltung im Juni an der Volksbühne, so der Vorwurf, die Hand der Frau an sein erigiertes Glied geführt haben. Zugleich prüft die Justiz die Version von Prütz, dessen Anwalt die mutmaßliche Tat als „frei erfunden“ bezeichnet hatte. Infrage kämen also seinerseits: falsche Verdächtigung, Verleumdung und üble Nachrede. Die Anwältin der Frau sagte inzwischen zu, sie werde mit ihrem Vorwurf gegen Prütz nicht mehr „hausieren“ gehen.

Der Streit über den Umgang mit den Vorwürfen innerhalb der Initiative war durch mehrere Tagesspiegel-Berichte öffentlich geworden. Der harte Kern von „DW & Co. enteignen“ hatte die Angaben der Frau als uneingeschränkt wahr eingestuft, jeden Zweifel daran de facto untersagt und Prütz den Sprecherposten entzogen. Bis zu 30 Aktivisten von „DW & Co. enteignen“ sowie Politiker der Linken sollen am 21. Juni bei der Volksbühnen-Veranstaltung am Rosa-Luxemburg-Platz vor Ort gewesen sein; die Partei übergab der Initiative damals 30 000 Unterschriften. „DW & Co. enteignen“ brauchte die Signaturen für ihr Volksbegehren. Wenige Tage nach der Veranstaltung informierte die Frau die informelle Leitung der Initiative in einem Bericht über die mutmaßliche Nötigung durch Prütz. Am Ende musste sich Prütz zurückziehen, ohne sich verteidigen zu können.

Auch in der Linkspartei gibt es einzelne Funktionäre, die sich politisch von der Initiative, nicht aber ihrem Anliegen abwenden wollen. Pragmatiker in der Partei gehen schon seit einiger Zeit wegen zunehmender Sektiererei vorsichtig, aber weitgehend unauffällig auf Distanz zur Kampagne.

Die Linke-Landeschefin Katina Schubert sagte am Dienstag: „Die Berliner Bevölkerung hat nicht über die Initiative und ihre Verfasstheit abgestimmt, sondern über die Aufforderung an den Senat, einen Gesetzentwurf zur Vergesellschaftung sehr großer Wohnungsbestände profitorientierter Immobiliengesellschaften vorzulegen.“ Dies habe „unabhängig von der Initiative“ noch Bestand.

Erst vor einigen Tagen hatte einer der bekanntesten Aktivisten die Kampagne verlassen. Der Musikjournalist, KreuzbergKenner, frühere Rap-Label-Chef und Kampfsportler Marcus Staiger schrieb am Sonnabend in einem Facebook-Post: Die Initiative sei „immer akademischer und dogmatischer“ geworden, „unsolidarisch, verletzend, ausgrenzend“, dominiert von „Moralaposteln und Rechthaber:innen“ mit „künstlicher Sprache“, denen es „ums Aburteilen und Bestrafen“ derjenigen gehe, die nicht in jedem Punkt linientreu seien. Andere Leute „trauten sich nicht mehr, den Mund aufzumachen“. Staiger beklagt auch den „Verlust einer offenen und heterogenen Kampagne“. Die habe sich dadurch ausgezeichnet, dass sie unterschiedliche Leute angesprochen hat und „einbinden konnte“. Ein bunter Haufen „von engagierten Menschen“, verschiedenen Strömungen, „kompromissbereit, wie es sich für so ein großes Bündnis gehört – vereint, um einem scheinbar übermächtigen Gegner vors Schienbein zu treten“.

Doch das habe sich massiv geändert. Die Bereitschaft, „echte Diversität und somit auch Widersprüche auszuhalten (…), wurde immer geringer“. Am Ende habe er sich „von Feinden umzingelt“ gefühlt, andere Leute „trauten sich nicht mehr, den Mund aufzumachen“. Staiger hatte sich auch in den Streit um die Vorwürfe gegen Michael Prütz eingemischt – und nach internen Berichten für ein Verfahren eingesetzt, in dem beide – die Mitstreiterin und Prütz zu Wort kommen können. Prütz’ eigener Vorschlag, den Konflikt in einem moderierten Gespräch zu klären, wurde von der Kampagnenmehrheit abgewiesen. Den Vorwurf zu prüfen sei unangemessen, der Mitstreiterin, die nach ihren Vorwürfen abgetaucht war, sei als Frau uneingeschränkt zu glauben, alles andere sei „Täterschutz“.

Prütz wurde aufgefordert, seinen Abgang öffentlich mit einem „Burnout“ zu begründen – er sollte also lügen. Prütz selbst sieht dadurch rechtsstaatliche Prinzipien wie die Unschuldsvermutung außer Kraft gesetzt. Prütz nennt es „sektenhaftes und dschihadistisches Verhalten“. Maßgeblich verantwortlich dafür soll die „Interventionistische Linke“ sein, die in der Kampagne inzwischen den Ton angebe. Gewerkschafter sprechen von einer „wohlstandsverwahrlosten Narzissten-Truppe“. Prütz sagte am Dienstag: „Die innere Verfasstheit der Kampagne passt nicht zur den eine Million Stimmen beim Volksentscheid.“

Staiger, der in der linken Szene weithin geschätzt wird, wirft „DW & Co. enteignen“ sogar Elitismus vor: Einigen innerhalb der Kampagne gehe es offenbar nicht darum, „dass wir uns gemeinsam entwickeln und gemeinsam lernen können, sondern darum, möglichst rein und korrekt durchs Leben zu flutschen“. Eine Aktivistin habe etwa erklärt, „dass sie an einem längerfristigen Engagement in einem gewissen Viertel gar kein Interesse habe, weil sie mit den Leuten vor Ort gar nicht so viel anfangen könne, da diese vom Habitus halt ganz anders seien“.

Ähnliches war auch in anderen politischen Lagern über die Kampagne gesagt worden: „Die Enteignungs-Initiative war in den Innenstadtkiezen grünen-naher Bürgerkinder erfolgreich, nicht dort, wo die allermeisten Berliner leben – außerhalb des S-Bahn-Rings“, hatte CDU-Bundestagskandidat Mario Czaja vor seinem Wahlsieg in Marzahn-Hellersdorf gesagt – allerdings mit Bezug auf die für die Abstimmung nötigen Unterschriften.

Die Initiative ließ eine schriftliche Anfrage von Montag zu den von Staiger erhobene Vorwürfen unbeantwortet. Auf Nachfrage erklärte ein Sprecher am Dienstag, das habe aktuell für die Kampagne keine Priorität. Stattdessen sprechen Vertreter davon, dass ein Gremium sogar die bevorstehenden Koalitionsverhandlungen begleiten könnte, um die Umsetzung des Volksentscheids bei der Entstehung einer neuen Regierung und ihres politischen Programms zu überwachen.

https://plus.tagesspiegel.de/berlin/von-feinden-umzingelt-marcus-staiger-verlaesst-deutsche-wohnen-co-enteignen-271702.html

Siehe auch:

Anarchistisch Deutsche Wohnen enteignen?!


https://kontrapolis.info/4941/

Mach’s gut Deutsche Wohnen & Co. enteignen!


https://kontrapolis.info/5041/

passiert am 06.10.2021