Rechtsextreme Anschlagsserie in Berlin-Neukölln: Experten sehen deutliche Defizite bei Ermittlungen

Der Befund ist brisant. Die bislang erfolglosen Ermittlungen zu der jahrelangen Serie rechtsextremer Anschläge in Neukölln wären offenbar besser verlaufen, wenn es nicht bei Staatsanwaltschaft und Verfassungsschutz gravierende Defizite gegeben hätte. Die Polizei hingegen hat offenbar eine deutlich bessere Arbeit gemacht, Mängel zeigten sich zeitweise in der Kommunikation mit Opfern.

Das ergibt sich aus dem Abschlussbericht der Expertenkommission, die von Oktober 2020 an die Maßnahmen der Behörden im Neukölln-Komplex untersucht hat. Am Montag befasst sich der Innenausschuss des Abgeordnetenhauses mit dem Bericht.

Die beiden Mitglieder der Kommission, die frühere Polizeipräsidentin von Eberswalde, Uta Leichsenring, und Ex-Bundesanwalt Herbert Diemer, haben den 102 Seiten umfassenden Report am Mittwoch Innensenator Andreas Geisel (SPD) und Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) überreicht.

Die Serie rechter Angriffe beunruhigt Berlin. Seit 2013 wurden in Neukölln mehr als 70 Attacken verübt, darunter 23 Brandstiftungen. Im Februar 2021 legte die Kommission einen Zwischenbericht vor, Schwerpunkt war die Sicht der Tatopfer. Der Ton des Schlussreports ist härter.

Leichsenring und Diemer halten der Staatsanwaltschaft vor, im Februar 2018 Anträge auf Haftbefehle gegen die hauptverdächtigen Neonazis Sebastian T. und Tilo P. ungenügend begründet zu haben und deshalb gescheitert zu sein.

Kommission bemängelt „eine eher routinehafte Abhandlung von Beweismitteln“

Sebastian T. und Tilo P. sind bis heute verdächtig, in der Nacht zum 1. Februar 2018 die Wagen des Linken-Politikers Ferat Kocak und des Buchhändlers Heinz Ostermann angezündet zu haben. Beide Fahrzeuge brannten aus. Nach den Recherchen der Kommission hat die Staatsanwaltschaft in den Haftanträgen die Erkenntnisse der Polizei zur Serie rechter Taten in Neukölln kaum berücksichtigt.

In den Haftanträgen seien nur einige Beweismittel genannt worden, ohne diese, „vor dem Hintergrund der vorangegangenen gleichgelagerten Straftaten sowie der persönlichen Verhältnisse der Beschuldigten und des Umfelds der Delinquenz darzustellen und einer stringenten Würdigung zu unterziehen mit dem Ziel, das entscheidende Gericht trotz fehlender Tatzeugen vom dringenden Tatverdacht zu überzeugen“, heißt es im Bericht.

Das Amtsgericht Tiergarten habe die Anträge denn auch „postwendend abgelehnt“. Die Kommission bemängelt bei den Haftanträgen „eine eher routinehafte Abhandlung von Beweismitteln“. Der Staatsschutzabteilung wird zudem eine schlecht organisierte Sachbearbeitung der Anschlagsserie bescheinigt – aber auch eine enorme Arbeitsbelastung.

Gerügt wird im Bericht zudem, dass die Staatsanwaltschaft mehrmals Opfern der rechten Anschläge mitteilte, das Verfahren sei eingestellt, obwohl die Ermittlungen zur Tatserie weiterliefen. Im Report wird allerdings auch erwähnt, dass die Staatsanwaltschaft bei den Ermittlungen gegen T. und P. wegen Heß-Schmierereien in Neukölln deutlich mehr Engagement zeigte und die Anklage weitgehend zugelassen wurde. Der Prozess, der im August 2020 am Amtsgericht begann, stockt allerdings wegen lückenhafter Aussagegenehmigungen für Polizeibeamte.

Kein Beleg für rechte Kumpanei bei Staatsanwaltschaft

Dass die Generalstaatsanwaltschaft im August 2020 die Ermittlungen an sich zog, wird von der Kommission begrüßt. Ein Anlass für die Übernahme war eine abgehörte Äußerung des Tatverdächtigen Tilo P., ihm könne nichts passieren, denn der zuständige Oberstaatsanwalt F. sei „AfD-nah“.

Die Kommission fand keinen Beleg für den Verdacht auf rechte Kumpanei, bescheinigt aber Generalstaatsanwältin Margarete Koppers die „Entschlossenheit, an der Objektivität der Staatsanwaltschaft als solcher nicht den geringsten Zweifel aufkommen zu lassen“.

Dass die Generalstaatsanwaltschaft im Dezember 2020 beim Amtsgericht Tiergarten Haftbefehle gegen T. und P. wegen der beiden Anschläge vom Februar 2018 erwirken konnte, sieht die Kommission als „ein erstes positives Ergebnis dieser intensivierten Arbeit“. Auch wenn das Landgericht den Haftbefehl gegen T. aufhob und darin vom Kammergericht bestätigt wurde.

Problematisch sind für die Kommission auch die Nöte des Verfassungsschutzes. Im Fall Neukölln hat der Nachrichtendienst von 2017 an bei sogenannten G-10-Maßnahmen vor allem Telefongespräche von T., P. und weiteren Neonazis abgehört. Solche Eingriffe in das Fernmeldegeheimnis, geschützt durch Artikel 10 des Grundgesetzes, müssen von einem Gremium des Abgeordnetenhauses genehmigt werden.

Das geschah, doch der Fülle und Länge der jahrelang belauschten Kommunikation ist der Berliner Verfassungsschutz offenkundig personell nicht gewachsen. Von Januar 2017 bis Juni 2019 liefen allein 76.000 Telefongespräche auf. Leichsenring und Diemer bekamen die Abhörprotokolle und stellten fest, „dass teilweise zu sehr langen Gesprächen nur sehr kurze Protokolle gefertigt wurden“.

„Strukturelle Schwachstelle“ beim Verfassungsschutz

Die Expertenkommission und ihr Mitarbeiterstab hörten sich dann selbst rund 1000 aufgezeichnete Gespräche an, aus der Zeit schwerer rechter Straftaten 2017 und 2018. Das war ein Prozent der vorliegenden Daten aus der Überwachung von Telefonaten und weiterer Telekommunikation. Das Resultat: Es gab „einzelne Informationen, die nicht protokolliert wurden, obwohl sie nach Auffassung der Kommission vor dem Hintergrund der Ereignisse durchaus einen Sachzusammenhang mit dem Neukölln-Komplex haben“.

Auch wenn keine Erkenntnisse anfielen, die zum konkreten Nachweis von Straftaten geführt hätten, ist angesichts des Reports von Leichsenring und Diemer zu vermuten, dass in den weiteren 99 Prozent der Daten aus G-10-Maßnahmen noch viele Informationen zur rechten Anschlagsserie schlummern, die bis heute nicht bekannt sind.

Aus Sicht der Kommission gibt es beim Verfassungsschutz eine „strukturelle Schwachstelle“. Das Personal reicht nicht, um die Abhörprotokolle angemessen auszuwerten. Und die interne Kontrolle der Auswertung ist ebenfalls ungenügend. Leichsenring und Diemer votieren nun für einen Kraftakt: eine „Personalaufstockung“ beim Verfassungsschutz – und „sämtliches G-10-Rohmaterial“ zum Neukölln-Komplex nochmal zu prüfen.

Unterdessen haben mutmaßlich Linksextremisten in der Nacht zu Freitag den Wagen der Mutter von Sebastian T. in Brand gesteckt. Bei dem in Rudow geparkten Ford wurde eine Scheibe eingeschlagen und ein brennender Gegenstand hineingeworfen. Die Feuerwehr konnte jedoch schnell löschen. Sebastian T. nutzt den Wagen auch. Die Polizei schließt ein politisches Motiv nicht aus.

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passiert am 31.05.2021