Fall Lina E.: Die Studentin im Visier

Eine linke Aktivistin sitzt seit Monaten im Gefängnis, weil die Ermittler sie für eine Terroristin halten. Doch die Zweifel daran wachsenVon Christian Fuchs

Vier Stunden bevor sie verhaftet wird, sitzt Lina E. am 5. November 2020 in einer blauen Adidas-Jacke vor ihrem Laptop im Wohnzimmer ihrer Leipziger WG. Kurz vor halb elf, erzählen Kommilitonen später, loggt sie sich im Seminar „Reflexive Sozialpädagogik“ der Universität Halle ein. Die 26-Jährige studiert im Master Erziehungswissenschaften. Freunde berichten, dass sie nach dem Studium in der Jugendhilfe arbeiten will – als Sozialarbeiterin für den Staat.

Das Online-Seminar ist noch nicht lange zu Ende, als vermummte Beamte des Landeskriminalamts Lina E. festnehmen. Am Tag darauf wird sie in einem Polizeihubschrauber nach Karlsruhe geflogen, wo sie dem Haftrichter beim Bundesgerichtshof vorgeführt wird. Die Studentin soll Anführerin einer linksextremen Zelle sein und sich zusammen mit zehn weiteren Personen zu einer kriminellen Vereinigung zusammengeschlossen haben. Sie soll also den Staat angegriffen haben, für den sie bald arbeiten wollte.

Der Tatvorwurf nach Paragraf 129 ist einer der härtesten im Strafgesetzbuch. Mitglieder der Hells Angels, von Drogenhändler-Banden oder Neonazi-Kameradschaften wurden als kriminelle Vereinigungen verurteilt. Der Generalbundesanwalt übernimmt die Ermittlungen, wenn Täter „staatsgefährdende Delikte“ begangen haben. Und genau das wirft der Haftbefehl Lina E. vor: Von ihrer Gruppe sei eine „besondere Gefährlichkeit“ ausgegangen; sie habe die bestehende rechtsstaatliche Ordnung angegriffen. Ihre Straftaten seien im „Grenzbereich“ zum Terrorismus anzusiedeln.

Als Lina E. aus dem Polizei-Helikopter in Karlsruhe steigt, ist das ein seltener Anblick. Man kennt ähnliche Fotos von IS-Kämpfern oder dem Mörder von Walter Lübcke. Lange schon wurde dem Generalbundesanwalt keine mutmaßlich linksextreme Frau mehr vorgeführt. Das letzte Mal vor 20 Jahren, die Verdächtige gehörte zu den Revolutionären Zellen. Linksextreme Frauen: Im kollektiven Gedächtnis sind vor allem Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin haften geblieben.

Das Bild ist stark, die historischen Parallelen sind rasch gezogen. Nicht nur die ZEIT berichtet über die „Frau unter Vermummten“. Hier agierten „Linksextremisten fast wie die RAF“, schreibt der Tagesspiegel. Lina E. sei die „Chef-Chaotin im Mini-Rock“ (Bild). Doch stimmt das alles?

Die ZEIT hat vier Monate lang recherchiert, hat interne Unterlagen, Mails und ihre Aktivitäten an der Universität ausgewertet sowie Gespräche mit Ministerien, Staatsanwaltschaften und dem Bundesamt für Verfassungsschutz geführt. Hinzu kamen Gespräche mit den Anwälten von Lina E. sowie mit einer engen Freundin und ihrem Arbeitgeber. Diese Recherchen zeichnen das Bild einer jungen Frau, die offenbar ein anderes Leben führte, als es die Ermittler im Haftbefehl suggerieren.

Ende 2019 gründete die sächsische Regierung eine neue Polizei-Einheit, die Soko Linx. Die 20 Beamten sollten linksextreme Straftaten in Leipzig zurückdrängen. Kurz zuvor war die Prokuristin einer Immobilienfirma überfallen worden, mutmaßlich von autonomen Gentrifizierungskritikern. Linke Gewalt ist ein Thema in der Stadt: Es gab Angriffe auf Polizisten am Rand von Demonstrationen, brennende Autos auf dem Hof eines Digitalunternehmens, das einen mutmaßlich Rechtsextremen angestellt hatte, oder zerstörte Fensterscheiben einer Kneipe, deren Besitzer eine Frau sexuell missbraucht haben soll. Für keine dieser Taten wurde bislang jemand verurteilt.

Die Soko Linx ermittelt mit Hochdruck – aber bisher mit überschaubarem Erfolg. Allein 335 Ermittlungsverfahren hatte die Sonderkommission im ersten Halbjahr 2020 eröffnet, jedoch nur drei Beschuldigte gefunden. Der Morgen des 14. Dezember 2019 war darum eine seltene Ausnahme für die Linx-Ermittler: In Eisenach erwischten Polizisten sieben junge Leute, kurz nachdem sie mutmaßlich vier Rechtsextreme mit Stangen, Schlagstöcken, einem Hammer und Reizgas überfallen haben sollen. Einige aus der Gruppe stammten aus Leipzig, unter ihnen: Lina E.

Es folgen monatelange Ermittlungen, die Soko Linx wird 2020 um fünf Beamte aufgestockt. Lina E. und die mutmaßlichen Mitglieder der „Gruppe E“ werden observiert, Autos mit Peilsendern verfolgt, Gespräche abgehört und Konten überwacht. Am Ende sind sich die Ermittler sicher, dass E. an zwei Überfällen auf Eisenacher Neonazis beteiligt war und einen rechtsextremen Kampfsportler in Leipzig ausgespäht hat. Außerdem werfen sie ihr vor, zwei Hämmer (38 Euro) im Baumarkt geklaut zu haben. Personen aus der „Gruppe E“ sollen zudem einen weiteren Mann schwer verletzt haben. Es gibt bisher keine Beweise, dass Lina E. an dieser Tat beteiligt war. Bei den Angriffen in Eisenach erlitten die Opfer Platzwunden am Kopf, Prellungen sowie Augenreizungen durch ein Reizstoffsprühgerät, das Lina E. bedient haben soll. Schwerer noch als der Tatverdacht der gefährlichen Körperverletzung und des Landfriedensbruchs wiegt ein anderer Vorwurf. Die Soko Linx geht davon aus, dass die einzige Frau in der Gruppe – nämlich Lina E. – die Anführerin gewesen sein muss. Sie habe eine „herausgehobene Stellung“ innegehabt und „führte das Kommando“, heißt es in einer Mitteilung des Generalbundesanwalts.

Wie radikal ist Lina E.?

Inzwischen zweifeln auch einige Ermittler an der Chefinnen-These. Die Anwälte von Lina E., Erkan Zünbül und Björn Elberling, werden in ihrer Kritik deutlich: „Am Tatort ist genau eine Frau aufgefallen, unsere Mandantin. Sie wird festgenommen und zur Anführerin gemacht.“ Sie werde als Kommandoführerin präsentiert, ohne Begründung, dabei sei sie nicht einmal vorbestraft. Ihre Führungsrolle werde von der Soko Linx nur konstruiert, sagen die Anwälte und weisen auch andere Vorwürfe zurück: So fänden sich in den Ermittlungsakten keine Hinweise auf das Bestehen einer festen Gruppe mit hohem Organisationsgrad. Außerdem bezweifeln sie die Zuständigkeit der Bundesanwaltschaft für derartige Überfälle in der Provinz, da diese Behörde doch nur bei schweren, staatsgefährdenden Delikten bundesweiter Tragweite ermittle. „Das LKA Sachsen hat dem Generalbundesanwalt ein schönes Buffet präsentiert. Nachdem dieser nun den Fall an sich gezogen hat, muss er feststellen, dass es nur Fast Food gibt“, sagt Anwalt Zünbül.

Die Ermittler in Sachsen hingegen glauben, dass Lina E. planvoll vorgegangen sei. Bei den Überfällen in Eisenach habe sie das Fluchtfahrzeug besorgt und dafür Nummernschilder gestohlen. Bei ihrer Festnahme sei ein als gestohlen gemeldeter Personalausweis gefunden worden, „bei dem der Name und das Geburtsdatum der früheren Inhaberin in auffälliger Weise den eigenen Daten der Beschuldigten ähneln“, heißt es im Haftbefehl.

Das sächsische LKA überprüft weitere Fälle, die auf die „Gruppe E“ zurückgehen könnten. In verschiedenen Medien tauchten Verdächtigungen auf, welche Taten Lina E. noch zugerechnet werden könnten: die Sachbeschädigung des Burschenschaftsdenkmals in Eisenach 2019. Der Angriff auf einen Aktivisten der rechtsextremen Identitären Bewegung in Leipzig 2019. Der Angriff auf die Mitarbeiterin der Immobilienfirma in Leipzig. Es gibt jedoch bislang keine Beweise, dass sie an den Taten beteiligt war.

Die entscheidende Frage lautet: Wie radikal ist Lina E.? War oder ist sie auf dem Weg, im politischen Untergrund zur Staatsfeindin zu werden?

E. stammt aus Kassel. „Sie hatte eine enge familiäre Bindung“, sagt eine Freundin. In der Schule bleibt sie unscheinbar. Als Jugendliche geht sie demonstrieren, interessiert sich für Frauenrechte und kritisiert die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen, erinnern sich Bekannte in der Welt. Der NSU-Mord in Kassel könnte sie als Jugendliche politisiert haben, sagt ein Freund der Lokalzeitung LVZ. Gleich nach dem Abitur, mit 18, zieht sie nach Leipzig. Sie verliebt sich in den 27-jährigen Johann G., der sich „Hate Cops“ auf die Handknochen hat tätowieren lassen. Er soll schon als Jugendlicher mehrere Straftaten, dabei eine gefährliche Körperverletzung, begangen haben. Das geht aus einem internen Papier des Verfassungsschutzes hervor, das die ZEIT einsehen konnte. Weil Johann G. vor sechs Jahren am Rande einer Legida-Demo Personen verprügelt hatte, wurde er zu mehr als einem Jahr Gefängnis verurteilt. Nach seiner Entlassung soll er sich an Überfällen der „Gruppe E“ beteiligt haben. Der Verfassungsschutz geht davon aus, dass G. bei der Radikalisierung von Lina E. „einen erheblichen Beitrag geleistet hat“. Aktuell wird er von der Polizei gesucht, Johann G. ist untergetaucht.

Lina E. lebt bis zur Festnahme in einer WG in einem Altbau im Stadtteil Connewitz, umgeben von veganen Lokalen. Im Oktober 2018 schließt sie den Bachelor in Erziehungswissenschaften ab, mit einer Arbeit über den Umgang mit Neonazis in der Jugendarbeit, am Beispiel des Clubs, in dem sich die späteren NSU-Terroristen radikalisierten. Bevor sie im Master weiterstudierte, entschied sie sich, ein Jahr lang praktisch zu arbeiten, und betreute Kinder in einer stationären Einrichtung.

In einem schwarzen Pullover und in Doc-Martens-Stiefeln sitzt eine Frau Mitte 20 in einem Büro im Leipziger Stadtteil Connewitz, nur wenige Minuten von Linas Wohnung entfernt. Für diesen Text möchte sie Katja heißen. Sie ist im vergangenen Jahr eine enge Freundin von Lina geworden. Viele Abende hätten sie gemeinsam gekocht und Rotwein getrunken. Lina schaute Herr der Ringe und kletterte in der Freizeit. Noch vor ein paar Monaten habe Katja mit ihr zu lauter Popmusik der US-Sängerin Miley Cyrus durch die Wohnung getanzt. Lina lache immer viel und sei ein lebensfroher Mensch, „ein witziges Mädchen“.

Gerechtigkeit sei Lina wichtig gewesen, sie sei eine kritische Denkerin. „Sie ist eher der Typ Antifaschistin by heart“, sagt Katja, der eine merkliche Radikalisierung ihrer Freundin nicht aufgefallen sei. Nur selten hätten sie über Politik gesprochen. Und wenn, dann ging es um die prekären Arbeitsbedingungen in der Jugendhilfe. Einmal diskutierten sie über das „doppelte Mandat“ von Sozialarbeitern – also über den Konflikt, zwischen dem Wohl eines Kindes und den Wünschen des Jugendamts. Lina sagte „Sieh das mal nicht so eng“ und argumentierte im Sinne der Behörde. „Sie ist nicht kritisch gegenüber der Demokratie eingestellt und will auch den Staat nicht abschaffen“, sagt die Freundin. „Ihr Denken ist nicht radikal.“

„Sie war nett, offen und aufgeschlossen“

Auch an ihrer Universität in Halle fiel sie nicht mit extremen Einstellungen auf. Eine ihrer Dozentinnen erinnert sich, dass sie „keine über die akademische Positionierung hinausgehende Haltung“ erkannt habe. Das bestätigen mehrere Lehrkräfte. Lina E. hat 17 Lehrveranstaltungen in einem Jahr besucht. Sie schreibt sich für Kurse über Rehabilitationspädagogik und Polyamorie ein, liest Texte von Judith Butler, diskutiert in Seminaren zu Feminiziden, Gewalt gegen Frauen. In einem Jahr schreibt sie fünf Hausarbeiten. „Im Master fordern wir sehr viel von unseren Studierenden“, sagt ihr Professor. Lina E. schließt fast alle Kurse mit Bestnote ab, ihr Durchschnitt: 1,4. Aufgrund ihrer guten Bachelorarbeit hatte der Professor Lina E. eine Stelle als studentische Hilfskraft angeboten, „allerdings ohne sie näher zu kennen“.

Neben dem Studium jobbte sie. Im September unterschreibt sie einen Vertrag in einer Sporthalle in Leipzig. „Sie war nett, offen und aufgeschlossen“, sagt der Besitzer. Zwei Monate lang arbeitet sie in dem Minijob, sie begrüßt die Gäste, brüht Kaffee und gibt am Tresen Sportschuhe aus. Bis zu ihrer Festnahme.

Die Ermittler werfen ihr vor, klandestin aus dem Untergrund heraus agiert zu haben. Von den Gesprächspartnern kann das keiner bestätigen. Sowohl an der Hochschule als auch beim Arbeitgeber und beim Vermieter war sie mit ihrem bürgerlichen Namen bekannt, stets gab sie ihre WG-Adresse an. Auch ihr vermeintlich konspiratives Vorgehen hatte wohl meist profane Gründe. Miete und Strom bezahlte sie nicht selbst, sondern das übernahmen ihre Eltern, um die Tochter zu unterstützen. Prepaid-SIM-Karten nutzte Lina E., weil sie billiger waren als ein Handyvertrag, sagen Freunde. Ihr „Waffenschein“ war eine Erlaubnis, Reizstoffwaffen zu besitzen, und stammte noch aus Kasseler Tagen, sagen die Anwälte. Mehr als 600.000 Menschen haben so einen Schein in Deutschland, unter ihnen sind besonders viele Frauen. Und Millionen nutzen den verschlüsselten Messengerdienst Signal – auch das führt die Polizei als Indiz an.

Was bleibt, sind eine blonde Perücke, Sonnenbrillen, ein gestohlener Personalausweis und 4000 Euro Bargeld, die bei Lina E. gefunden wurden. Rätselhaft tatsächlich, auch ihre Anwälte bleiben eine überzeugende Erklärung schuldig. Theoretisch kann man das Geld und die Utensilien für illegale Taten nutzen. Aber reicht das aus, um Lina E. als Terroristin abzustempeln?

Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, kennt den Fall. Seine Behörde hatte den Ermittlern Erkenntnisse über die linke Szene geliefert. Man beobachte, dass linke Gewalt brutaler sowie organisierter werde und sich auch häufiger gegen Menschen richte. „Die Gewalt geht vor allem von kleinen klandestinen Gruppen aus, die sich von ihrem linksextremen Umfeld abgeschottet haben“, sagt Haldenwang der ZEIT. In den letzten zwei Jahren habe man versuchte Tötungsdelikte „im einstelligen Bereich“ registriert. Derzeit sehe man die Schwelle zum linken Terrorismus noch nicht überschritten.

Warum ermittelt das LKA Sachsen aber gegen Lina E. mit dem großen Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung? Der Generalbundesanwalt argumentiert, dass ihrer Gruppe „angesichts ihres Organisationsgrades und der Art ihrer Taten eine besondere Gefährlichkeit beizumessen“ sei. Helena Zimmermann von der „Solidaritätsgruppe für Lina“ sieht es anders: „Die Ermittlungen nach Paragraf 129 sind ein Konstrukt und dienen vor allem dazu, die antifaschistische Szene auszuleuchten und einzuschüchtern.“ Der Polizei gehe es in erster Linie darum, Linke auszuforschen, sagt sie, auch wenn sich die Vorwürfe später als haltlos erweisen.

Die Polizei widerspricht dieser These. Doch fällt auf, wie oft solche Ermittlungen ins Leere laufen. Seit 2010 gab es nach Angaben der Staatsanwaltschaft Dresden fünf 129er-Verfahren gegen linke Gruppen. Zwischen 2013 und 2016 suchte die sächsische Justiz unter linken Fußballfans in Leipzig nach kriminellen Strukturen. Trotz vieler Observationen und der Aufzeichnung Zehntausender Telefongespräche wurde nichts gefunden. Gegen mehrere Hundert Personen, die abgehört wurden, bestand nicht mal ein Anfangsverdacht. Außerdem wurde drei Jahre lang gegen 14 Leipziger ermittelt, die eine kriminelle Vereinigung für Angriffe auf die rechte Szene gebildet haben sollen. Auch diese Ermittlungen wurden aus Mangel an Beweisen eingestellt. Es wurde in Sachsen im letzten Jahrzehnt kein einziger Beschuldigter wegen der Mitgliedschaft in einer linksextremen kriminellen Vereinigung verurteilt. Vielleicht wird der Fall Lina E. zum nächsten Beispiel dafür. Bis zur Entscheidung sitzt die Studentin in Untersuchungshaft in der JVA Chemnitz. Dort verbüßt auch die Rechtsterroristin Beate Zschäpe ihre Haft.

An Lina E.s Geburtstag vor ein paar Wochen ließen ein paar Freunde vor dem Gefängnis als Gruß Leuchtraketen steigen. Auch Beamte des LKA waren vor Ort, erzählen die Polizisten später. Sie wollten herausfinden, wer zu den mutmaßlichen Unterstützern von Lina E. gehört.

Mitarbeit: Anne Hähnig, Edgar Lopez

idk8h

passiert am 25.03.2021