genossenschaftliche Beziehungen

Genossenschaften sind eine der wichtigsten Organisationsformen sozialistischer Bewegungen – und darin auch für Anarchist*innen. In ihnen soll Solidarität praktisch erzeugt werden – in dem Menschen sich gegenseitig unterstützen, eine Gemeinschaft bilden und anhand ihrer kollektiven Interessen Projekte voranbringen.
Im Unterschied zu Freundeskreisen oder Bezugsgruppen, müssen sich Angehörige von Genossenschaften nicht persönlich tiefer kennen oder miteinander befreundet sein. Auf diese Weise können viele Menschen über-persönlich zusammenarbeiten und gemeinsam mehr erreichen. In Genossenschaftsorganisationen bestehen unterschiedliche Professionalisierungsgrade und verschieden umfangreiche Regelsysteme. Je nach Umfang und Dauer des Vorhabens, sowie der Anzahl der Mitglieder kann es sehr viel oder sehr wenig zu organisieren und zu regeln geben.
Genossenschaften kann es in Hinblick auf Produktion (Kollektivbetriebe, Solidarische Landwirtschaften, Co-Working-Räume , Selbsthilfewerkstätten etc.), Konsum (Lebensmittelkooperativen, Umsonstläden), Wohnen (Wohnungsgenossenschaften, Hausprojekte), Geldverleih (Banken, zinsloser Verleih unter Freund*innen), Freizeit (Sport, Wandern, Kulturabende etc.), Bildung (selbstorganisierte Schulen, Volkshochschulen usw.) oder Gesundheit geben. Viele historisch entstandene Genossenschaften sind zwar noch formal basisdemokratisch und gemeinsam organisiert, funktionieren in ihrer Praxis inzwischen aber doch sehr wie andere Unternehmen – nur mit etwas sozialerem Anstrich.
Bezeichnenderweise wird unsichtbar gemacht, dass die Entstehung von Genossenschaften durchaus von libertär-sozialistischen Gedanken stark beeinflusst war. Für Deutschland werden im entsprechenden wikipedia-Artikel Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen genannt, welche um 1850 das Genossenschaftskonzept wahrscheinlich aus England importierten und hierzulande beachtlich groß machten. Dies mag das Verdienst dieser beiden Herren sein, die jedoch sozialreformerisch eingestellt waren. Dagegen können Idee und Modell der Genossenschaften auch als anarchistischer Ansatz zur grundlegenden Gesellschaftstransformation verstanden und ausgerichtet werden.
Um ihren mutualistischen Charakter im Sinne des Anarchismus aufrecht zu erhalten, muss zur bloßen Struktur daher noch etwas hinzukommen. Erstens das erwähnte Selbstverständnis mit Genossenschaften die Gesellschaft in eine libertär-sozialistische Richtung zu transformieren – und sich danach entsprechend auszurichten. Zweitens muss damit eine bestimmte Beziehungsform etabliert und gepflegt werden. Diese kann einfach als „genossenschaftliche Beziehung“ bezeichnet werden.
Schnell ist die Assoziation mit den „Parteigenoss*innen“ in sozialistischen Parteien da. In gewisser Weise ist diese Bezeichnung weit ehrlicher, als jenes zur Hülle gewordene „Liebe Freund*innen“, das die Grüne Partei hoffähig gemacht hat – aber (nicht gegendert) ebenso von der AfD verwendet wird. Dennoch klingt die Bezeichnung „Genoss*innen“ angestaubt, nach überalterten Sozialdemokrat*innen oder folkloristischer DDR-Nostalgie. Die englische Bezeichnung „comrade“ oder die spanische Bezeichnung „compañer@“ ist zwar äquivalent, hat in deutscher Sprache als „Kamerad*in“ aber doch einen allzu militärischen Klang.
Worin bestehen genossenschaftliche Beziehungen genauer? Es lohnt sich dabei eher die mutualistische Organisation der „Genossenschaft“ zu betrachten, als an jener der politischen Parteien. Eine Art Mitgliedschaft gibt es allerdings in beiden Ausprägungen. Dies bedeutet, dass Gruppierungen, in denen genossenschaftliche Beziehungen entstehen können, nicht allein auf einer Haltung der Beteiligten beruhen können. Vielmehr bedarf es einer Diskussion darüber, wer Mitglied ist und wer nicht. Dies scheint völlig banal zu sein. Meiner Beobachtung nach, lässt sich aber in zahlreichen selbstorganisierten Gruppen kaum mehr feststellen, wer sich wie zu ihnen assoziiert.
So langweilig es klingt: Mit der Mitgliedschaft sind Rechte und Pflichten verbunden. Das bedeutet, es gibt Erwartungen von der Gruppe an ihre Mitglieder, während diese sich auf die Leistungen ihrer Gruppe verlassen können. Auf anderer Ebene könnte man es auch so formulieren, dass es ein Geben und Nehmen im Rahmen genossenschaftlicher Beziehungen gibt. Und es ist gerade diese Art des Austauschs, welche das Potenzial hat, verbindliche, dauerhafte und solidarische Beziehungen zu stiften.
Wenn wir genossenschaftliche Beziehungen abseits von konkreten Genossenschaftsorganisationen im engeren Sinne denken und sie auf selbstorganisierte Gruppen generell anwenden bedeutet das zunächst: Wir sind von der oftmals selbst auferlegten Last befreit, mit allen Menschen befreundet zu sein, mit denen wir zusammenarbeiten möchten. Nicht jedes Detail muss im Rahmen genossenschaftlicher Beziehungen mit jeder Person ausdiskutiert werden – was zählt, ist der gemeinsame Grundkonsens (der gerne ein größter gemeinsamer Teiler sein darf und immer weiter entwickelt und neu verhandelt werden muss).
Zweitens bedeutet dies, uns darüber zu verständigen, was Einzelne von Gruppen erwarten und was Gruppen Einzelnen im Rahmen ihrer Funktionsweise und Aufgabe geben können. Oftmals überfrachten Einzelne Gruppen unausgesprochen mit ihren Bedürfnissen und Ansprüchen. Häufig erwarten sie zu unrecht, dass diese vollständig erfüllt werden müssten oder überhaupt im Rahmen der Gruppe, die sie adressieren, erfüllt werden könnten. Teilweise kleiden sie ihre persönlichen Bedürfnisse in die Sprache der Gruppe und versuchen deren Mechanismen für ihre Erfüllung zu nutzen. Dies ist schlecht, denn der Zweck der Gruppe wird mit dieser leider verbreiteten Konsumhaltung von Einzelnen ausgehöhlt.
Umgekehrt stellen Gruppen – beziehungsweise dominierende Personen in ihnen – häufig Erwartungen an Einzelne, welche diese nur bedingt oder gar nicht erfüllen können. Die Erwartungen an alle Gruppenmitglieder müssen daher – abgestuft nach ihren jeweiligen Fähigkeiten und Möglichkeiten – so klar wie möglich formuliert und transparent gemacht werden.
Drittens führt die Erfahrung von solidarischem Verhalten untereinander und von genossenschaftlichen Beziehungen miteinander, zu einer Bestärkung, welche sich nicht aus Freundschaften oder romantischen Beziehungen ergeben. Meiner Wahrnehmung nach werden die damit verbundenen Erfahrungen in einer Gesellschaft von hochgradig individualisierten und psychisch-emotional angespannten Personen, viel zu selten gemacht. Dies ist ein großes Problem, denn gering ausgeprägte genossenschaftliche Beziehungen sind zugleich Ausdruck und Ursache für die Schwäche von emanzipatorischen sozialen Bewegungen.
Wer sich darauf einlassen will, genossenschatliche Beziehungen zu stiften und zu pflegen, sollte meines Erachtens unter anderem folgende Punkte bedenken:
– Wer ist Mitglied einer Gruppe und welche Grade der Mitgliedschaft schweben uns vor (dies kann genauso informell gelten, es braucht keine Ausweise oder Vereinsmeierei dafür)?
– Welche Erwartungen werden von der Gruppe an die Einzelnen gestellt und wie werden diese transparent gemacht?
– Welche Erwartungen können Einzelne legitimerweise an die Gruppe richten und welche Mechanismen gibt es, damit sie diese offen und ehrlich formulieren können?
– Wie können genossenschaftliche Beziehungen im Rahmen der Organisation bewusst eingegangen und gepflegt werden?
– Wie können genossenschaftliche Beziehungen zwischen Einzelnen gefördert und bestärkt werden?