Der neue §129 in Berlin zielt auf die rebellischen Strukturen
2020 – zahlreiche Hausdurchsuchungen u.a. in Frankfurt, Hamburg und Leipzig und Baden Württemberg, sind Anhaltspunkte dafür, dass die Repression im gesamten Bundesgebiet anzieht. Mit dem Generalbundesanwalt als zentralem Protagonisten hat der deutsche Staat die Inszenierung einer Hexenjagd begonnen. Unter Verwendung des gesamten Arsenals des Gesetzbuches arbeiten BKA, LKAs und Verfassungsschutz zusammen, um Vorwürfe der Bildung einer kriminellen (§129) und gar einer terroristischen Vereinigung im In- oder Ausland (§129a/b) wie Coronaschnelltests verteilen zu können.
Die dabei zu Tage tretende Kooperation mehrerer Staaten gibt es schon lange und überrascht an dieser Stelle nicht. Der §129 sowie dessen internationale Pendants sind zu wichtigen und mächtigen Waffen repressiver Operationen geworden. Sie dienen zum einen dazu, dem staatlichen Zugriff auf private Räume und Sphären einen „legalen“ Rahmen zu geben. Zum anderen sollen sie als strategisches Mittel Individuen der antagonistischen Bewegung angreifen, um sie von weiterer Vernetzung mit globalen autonomen Strukturen abzuhalten.
Zur Zeit sind uns in Deutschland – die §129a und §129 betreffend – Fälle in Frankfurt, Hamburg und Berlin bekannt. Dazu kommt der neueste Einsatz des §129 in Leipzig, wo die Festnahme und Verschleppung einer beschuldigten und mittlerweile in U-Haft befindlichen Person wie in einem Hollywoodstreifen inszeniert wurde. Zum Zwecke der Machtdemonstration führte die Polizei sie per Hubschrauber dem Haftrichter vor. Durch diesen propagandistischen Einsatz wurde die Mainstream-Presse gezielt mit reißerischen Bildern und Headlines versorgt, die sich allesamt darauf fokussieren, dass die Beschuldigte eine Frau ist. Die Inszenierung des Spektakels erinnert an die des Amokläufers von Halle. Dieser wurde, kurz nachdem er zwei Menschen getötet hatte, mit dem gleichen Medienrummel auf genau dem gleichen Transportweg verbracht. Mittels dieser Inszenierung bedient sich der deutsche Staat erneut der Hufeisentheorie und versucht die zwei komplett unterschiedlichen Fälle gleichzusetzen, letztendlich also Schläge für einen Nazi mit dem antisemitisch-motivierten Amoklauf mit zwei Toten. Das Narrativ zweier Extreme ist bewusste und gängige Strategie. Die darin enthaltene Botschaft eines Staates und seiner Bullen, die einerseits die einzige Gefahr für ihre Macht von links kommen sehen und andererseits bei jeder sich bietenden Möglichkeit von zwei sich annähernden Extremen sprechen, ist klar: Das Dogma von Law and Order soll versichern, dass der Staat allein das Monopol auf Gewaltausübung inne zu haben hat.
Der neue Fall eines §129 in Berlin
Am 16. September 2020 razzten das BKA und das Berliner LKA5 fünf Wohnungen in Berlin sowie die anarchistische Bibliothek Kalabal!k. Hinzu kommt, dass dem BKA die Demonstration ihrer internationalen Zusammenarbeit mit den griechischen Antiterror-Bullen gelang, indem sie zusammen zwei weitere Wohnungen in Athen hochnahmen. Bei den Durchsuchungen ging es u.a. darum, zusätzliche Erkenntnisse zu erlangen. Dass der Staat sich hier für Massenprozesse, Überfälle und vorübergehende Verschleppungen entscheidet, ist kein Zufall. Er ist sich in dieser währenden Periode der zunehmenden Angriffe von Oben auf die Gesellschaft bewusst. Und, dass diese zu einer sozialen Widerstandskraft und zu Erhebungen führen können, wie derzeit Ereignisse in anderen Teilen der Erde belegen. Ganze Gesellschaftsgruppen sehen sich mit Mietsteigerungen, Räumungen, Polizeigewalt, Rassismus, dem patriarchalen Rollback und generell Repression, weiterer Marginalisierung und sozialem Ausschluss konfrontiert. Es sind diese Bedingungen, die – manchmal – zur Radikalisierung und der Intensivierung des Kampfes gegen das barbarische System und für eine befreite Gesellschaft führen. Personengruppen wählen die Konfrontation, Individuen und Versammlungen steigern ihre Aktivitäten und aus Szene wird Bewegung.
Diese Momente sind es, denen der Staat vorbeugen will und so erklärt er jedem Widerstand den Krieg. Die Razzien in Berlin fanden nicht zufällig einen Monat vor der Räumung der Liebig34 statt. Der Staat hat, in Voraussicht sich anbahnenden Widerstands, diesen Moment gewählt um zu zeigen, dass er stark ist, dass seine Repression allgegenwärtig ist und wie verletzlich wir sind. Durch die Verwendung des Strukturermittlungsparagraphen 129, der schon aus einem simplen Anruf oder einem zufälligen Treffen einen Beweis für die Mitgliedschaft in einer erfundenen Gruppe macht, wird auf die Verbreitung von Angst und die Verhinderung weiterer Radikalisierung und Aktivierung gezielt.
Wie immer geht es um die Anwendung einer auf tiefen Einsichten beruhenden präventiven Strategie. Erkenntnisgewinnung über Menschen und ihre Beziehungen untereinander, das Ermitteln, Konstruieren und Heraufbeschwören von Strukturen unabhängig von ihrer tatsächlichen Existenz zielt auf die Isolierung und die Einschüchterung der gesamten Bewegung. Durch die Stigmatisierung Einzelner wird sich ein Effekt für die Übrigen erhofft. Der Staat ist sich der Kontinuität des Kampfes und der damit einhergehenden gegenseitigen Überlieferung von Erfahrungen, genauso wie der tatsächlich innerhalb rebellischer Strukturen erreichten Kompromisslosigkeit und politischen Konsequenz bewusst und versucht das Gegenteil zu beweisen: dass die politische Aktivität des Individuums ein Auslaufdatum hat. Dazu verschärft er einerseits die Gangart gegen gefestigte Teile der Strukturen und greift andererseits präventiv die neueren, oft jüngeren Strukturen an, um die Regeneration des Kampfes zu unterbrechen.
Im Fall der kürzlich offenbarten Ermittlungen unter dem Schirm des §129 gegen in Berlin und Athen seit langem verankerte Menschen zielt der Staat auf eine große Bandbreite unterschiedlicher Ausprägungen eines gemeinsamen Kampfes. Unter anderem, dabei aber nur vordergründig, geht es um die G20-Riots (im Berliner Fall um die Anschuldigung, die Elbchaussee-Zerstörung organisiert zu haben), einem Moment des kollektiven Widerstands gegen den Staat und das Kapital, den die Herrschenden nicht vergeben und vergessen werden. Eigentlich geht es jedoch darum, die Globalisierung des Kampfes zu hemmen, insbesondere die Verknüpfung verschiedener lokaler Kämpfe untereinander. Was neben unzähligen anderen Menschen auch die jetzt betroffenen Personen betrifft, hatte das LKA über Jahre seine Fälle vorzugsweise um die Rigaer Straße herum konstruiert und war daran gescheitert, einen herbeigeredeten Kern zu eliminieren. Das BKA baut nun auf diesen Ermittlungen auf, greift die selben rebellischen Strukturen aber mit einer anderen Strategie an. Hinter den Ermittlungen sehen wir den Versuch, die durch das LKA praktizierte Anerkennung ineinandergreifender Kämpfe in dieser Stadt zu beenden. Menschen, die Jahre währende Verfahren wegen Bagatellen wie einer Fahrraddemo ertragen mussten, nur weil diese im Kontext Rigaer stand, werden jetzt durch das BKA belästigt, welches in seinen 129er-Ermittlungen schwerstens darum bemüht ist, den Kontext zu verschleiern, in dem genau diese Menschen handeln und in der diese Aktionen stattfanden und -finden.
Teil jener staatlicher Bemühungen die politische Konsistenz seiner Gegner zu negieren – und darin wird die Widersprüchlichkeit im Staate sichtbar – ist die Entpolitisierung der Beschuldigungen. Einerseits existiert eine Rhetorik der politisch motivierten Kriminalität, andererseits die Behauptung nicht vorhandener politischer Motive. Menschen werden angeklagt, aus politischer Ideologie heraus Angriffe auf die Demokratie zu organisieren. Gleichzeitig jedoch ist die einzige mögliche Antwort die des Gesetzbuches. So wird das politische Motiv vom Staat gerne dazu genutzt, größere Tribunale zu veranstalten und härter Strafen zu verhängen, darüber hinaus jedoch kann von seinen Institutionen deren eigentliche Bedeutung nur geleugnet werden, um nicht ihre gesamte Existenz in Frage stellen zu müssen.
Die Konstruktion imaginärer Gruppen dient der Intensivierung der Verfolgung. Während einerseits der Kampf individualisiert wird, wie wir es z.B. bei der Erfindung nicht existierender Anführer der Rigaer94 sehen, wird gleichzeitig nicht gezögert, eine Kollektivschuld im Rahmen von Gruppen herzustellen, die von Grund auf nur zu Zwecken der Verfolgung erfunden werden. Indem von radikalen Einzelpersonen geredet wird, die nichts als die „Radikalisierung der guten Teile der Bewegung“ im Schilde führen, versuchen der Staat und seine Polizeien die Spaltung. Es handelt sich dabei um eine altbekannte Strategie, wahlweise zur Trennung in gute Demonstrant*innen, die eine Versammlung anmelden, und böse Demonstrant*innen, die sich für die Nicht- Anmeldung entscheiden; oder in gute Hausbesetzer*innen, die ihr Projekt legalisieren wollen und böse Hausbesetzer*innen, die sich für die illegale Verteidigung entscheiden. Auch die Extremismustheorie kommt in diesem Versuch der öffentlichen Delegitimierung der Angeklagten wieder zum Einsatz.
Nun, da unsere Analysen und Hypothesen bezüglich der „düsteren“ Motive des deutschen Staats ein Fass ohne Boden sein können, ist das Wichtigste für uns als Bewegung gegen die zunehmenden repressiven Kampagnen aufzustehen und darüber nachzudenken, wie wir als Kollektiv unsere Werte und Praxen im Geiste der Solidarität und gegenseitiger Hilfe verteidigen können. Denn für uns ist es von vorn herein klar, dass die Entscheidung zur Verbreiterung unserer Politik durch direkte und antiinstitutionelle Kämpfe zu immer mehr Repression führen kann. Der Staat und das Kapital verteidigen lediglich ihr Fortbestehen, wenn sie alles Feindliche unterdrücken. Aus diesem einfachen Grund war, ist und bleibt Repression immer ein Teil des Kampfes selbst. Auch deshalb ist unser Vorschlag und Angebot die Solidarität für Alle, die von Repression betroffen sind. Im Augenblick, wo der Staat seine Zähne zeigt und seine Klauen ausfährt, müssen wir gemeinsam dagegen halten. Indem wir die Repression, die Teile unserer rebellischen Strukturen trifft, kollektivieren, machen wir deutlich, dass wir durch die rachsüchtigen Taktiken des Staates nicht nur entschlossener werden, sondern verwirklichen gleichsam die Parole „Getroffen hat es Eine*n – gemeint sind wir alle“.
Es kann keine Lösung für uns darstellen, unsere Mitstreiter*innen zu isolieren oder auszuschließen. Je mehr der Kampf sozialisiert wird, um so größer wird die Interaktion und Verbindung von unterdrückten Menschen und sozialen Gruppen. Sobald der Staat Fälle konstruiert, Knäste bereithält und die Fesseln enger werden, wählen wir die Solidarität, um die Mauern zwischen uns einzureißen um an ihrer statt Brücken der Unterstützung, Solidarität und des Gegenangriffs zu errichten.