Redebeitrag zur Internationalen Organisation für Migration (IOM) auf der Abolish-Frontex-Radtour am 22.06.2025 in Berlin

Wenige Häuser von uns entfernt betreibt die IOM das „Global Migration Data Analysis Centre“ (1). Ich werde später auf dieses Datenzentrum zurückkommen, doch zunächst ein paar Worte zur IOM selbst.

Auf ihrer Website empfängt die „International Organisation for Migration“ alle Besucher·innen mit den besten Absichten: Da ist die Rede von Leben retten, vulnerable Personen unterstützen und einer humanen, geordneten Migration zum Nutzen aller (2). Alles klingt humanitär, alles klingt gut. Doch das humanitäre Image der IOM ist nur Fassade.

Die IOM ist Teil des internationalen Systems der Migrationskontrolle und -abwehr. Sie handelt nicht im Interesse der direkt Betroffenen, sondern im Interesse ihrer Geldgeber – der Staaten des globalen Nordens, die sich ihre Dienste erkaufen. Anders als der UNHCR ist die IOM nicht auf ein Schutzmandat für Geflüchtete verpflichtet (3). Stattdessen begreift sie Migration vor allem als technische und logistische Herausforderung (4). Sie ist im Kern ein Logistikunternehmen zur Steuerung von Migration, was sie selbst als „Better Migration Management“ bezeichnet.

Doch was verbirgt sich hinter dieser schönen Formel?

„Freiwillige“ Rückkehr – ein zynisches Konstrukt
Seit etwa fünf Jahren führt die IOM im Auftrag der EU Programme zur sogenannten freiwilligen Rückkehr in Libyen durch (5). In der Praxis bedeutet das: Migrant·innen in den katastrophalen Internierungslagern Libyens können sich bei der IOM melden, die dann den Transport in ihre Herkunftsländer organisiert – oft über Transitlager wie im Niger. Von Freiwilligkeit zu sprechen, ist hier nichts als zynisch.

Doch solche Programme beschränken sich nicht auf Afrika. Auch in Berlin unterhält die IOM in der LEA am Friedrich-Krause-Ufer, der Berliner Ausländerbehörde, ein Büro zur „Beratung von Rückkehrwilligen“ (6) (ebenso in der ZAST Eisenhüttenstadt (7)). Auch hier trifft das Etikett „freiwillig“ oft nicht zu, denn die „Förderung“ setzt meist kurz vor einer drohenden Abschiebung an. Better Migration Management bedeutet hier: Förderung der nützlichen Migrant·innen, Rückkehr der irregulären. Die IOM agiert als Lückenfüller für fehlende Rückübernahmeabkommen (8) – effektiver als direkte Abschiebungen.

Grenzschutz als Datenprojekt: MIDAS
In mehreren afrikanischen Ländern beteiligt sich die IOM am MIDAS-Projekt („Migration Information and Data Analysis System“ (9)). Dabei stattet sie Grenzposten mit Überwachungstechnologien aus, um Migrationsbewegungen in Echtzeit zu verfolgen. Auch in Transitlagern werden systematisch Daten erhoben.

Das Datenzentrum in der Taubenstraße: Neutralität als Mythos
Und hier kommt das Global Migration Data Analysis Centre (1) in der Taubenstraße 20-22 ins Spiel. Auf den ersten Blick wirkt die Erhebung von Migrationsdaten neutral – nach dem Motto: „Man braucht ein realistisches Bild, um helfen zu können.“ Doch im Rahmen des Systems, für das die IOM arbeitet – also im Interesse ihrer europäischen Geldgeber –, ist diese Datenanalyse alles andere als neutral. Das von der IOM gezeichnete Bild von Migrationsströmen gilt als das offizielle Bild, auf dessen Grundlage die EU ihre Interventionsstrategien zur Migrationsabwehr plant. Das Datenzentrum ist damit Teil eines Dreiklangs: erfassen, steuern, blockieren (10).

Risse im System: Politische Umbrüche im Sahel
Doch dieses System der Migrationsblockade zeigt Risse. Seit 2021 kam es in der Sahelzone, dem Hauptoperationsgebiet von MIDAS, zu einer Serie von Militärputschen. Die Folge: Die französische Armee und die Bundeswehr wurden aus einem Land nach dem anderen vertrieben. Die neuen Militärregime haben sich von der EU und den USA ab- und Russland zugewandt (11).

Dieser Prozess ist widersprüchlich. In Niger hat die Junta das Antitransportgesetz aufgehoben, das zuvor den Transport von Migrant·innen durch die Sahara kriminalisierte. An den MIDAS-Grenzkontrollpunkten werden Migrant·innen nun durchgewunken. Doch am Ende landen sie in umso brutaleren Verhältnissen in Libyen oder Tunesien, Ländern, mit denen die EU weiter kooperiert und von wo sie entweder zurückgeschoben oder von der IOM zur „freiwilligen Rückkehr“ überredet werden (12).

Fazit: Die IOM als Stütze des unmenschlichen Systems
Ich komme zum Schluss: Das unmenschliche System, das zunehmend auf direkte Gewalt gegen Migrant·innen setzt, hat sich nur verschoben. Die IOM ist keine humanitäre Korrektur, sondern eine Agentur im Dienste ihrer Geldgeber. Sie macht das Migrationsregime nicht menschlicher, sondern erhält es effektiv aufrecht. Ohne die IOM würde dieses Regime an Legitimation verlieren – und wäre weniger funktionsfähig.
Die wahren Störfaktoren dieses Systems sind nicht Organisationen wie die IOM, sondern die Migrant·innen selbst, wenn sie trotz aller Barrieren durchkommen. Und vielleicht wir, wenn wir sie unterstützen und diesem System Sand ins Getriebe streuen.

(1) https://gmdac.iom.int/ und https://www.migrationdataportal.org/
(2) Z.B. Our work: Saving lives and protecting people on the move. https://www.iom.int/saving-lives-and-protecting-people-move
(3) Der UNHCR ist zum Schutz von Flüchtlingen durch Art. 2 und 35 der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 bzw. des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1967 mandatiert. https://de.wikipedia.org/wiki/Hoher_Fl%C3%BCchtlingskommissar_der_Vereinten_Nationen#Geschichte und https://de.wikipedia.org/wiki/Abkommen_%C3%BCber_die_Rechtsstellung_der_Fl%C3%BCchtlinge
(4) „Gemäß ihrer Satzung ist die IOM ausdrücklich ihren Mitgliedsstaaten verpflichtet und nicht den Migranten selbst; die Organisation hat kein formelles Mandat zum Schutz der Rechte von Migranten. … Die IOM hat kein ‚Schutzmandat‘. … Sie steht zur Verfügung, um unhinterfragt die Interessen der Staaten bei der Kontrolle der Migration zu fördern.” Zitat aus: Megan Bradley: IOM Unbound? Verpflichtungen und Rechenschaftspflicht der Internationalen Organisation für Migration in einer Ära der Expansion.“ Zitat aus: Megan Bradley: IOM Unbound? Obligations and Accountability of the International Organization for Migration in an Era of Expansion. https://www.cambridge.org/core/books/iom-unbound/who-and-what-is-iom-for-the-evolution-of-ioms-mandate-policies-and-obligations/76CAB60E8A00F27E23366D3407281360
(5) IOM: Mission Overview Libya https://libya.iom.int/sites/g/files/tmzbdl931/files/documents/2025-05/mission-overview-2025-iom-libya.pdf
(6) https://www.returningfromgermany.de/centres/internationale-organisation-fuer-migration-iom-berlin/
(7) https://germany.iom.int/sites/g/files/tmzbdl806/files/documents/Beratung%20Brandenburg_Flyer%202020_DE.pdf
(8) https://mediendienst-integration.de/artikel/welche-migrationsabkommen-deutschland-hat.html
(9) https://www.iom.int/sites/g/files/tmzbdl486/files/documents/2023-08/2023_midas-brochure-updated_en-1-161.pdf
(10) Younès Ahouga: The International Organisation for Migration and the Surveillance of the Displaced Populations of the Global South https://journals.openedition.org/remi/22700 „Die Internationale Organisation für Migration (IOM) setzt sich für die Nutzung von Daten ein, um die Lage der Vertriebenen im globalen Süden zu stabilisieren. In den 2010er Jahren entwickelte und verfeinerte sie drei digitale Technologien, die auf diese Bevölkerungsgruppen abzielen: die Displacement Tracking Matrix, das Grenzüberwachungssystem MIDAS und die mobile Anwendung MigApp. Dieser Artikel argumentiert, dass diese Technologien in einem Überwachungskonstrukt zusammenlaufen, das darauf abzielt, Vertriebene gemäß einer biopolitischen Rationalität und der technokratischen Produktion von Daten zu disziplinieren. Dieses Konstrukt grenzt kognitive und physische Räume ab, um Vertriebene und ihre Daten in fünf Überwachungsstufen zu erfassen und freizugeben: Beobachtung, Datenstandardisierung, Anwendung von Sicherheitsmechanismen, disziplinierende Erfassung, ermächtigende Erfassung.“
(11) Denis M. Tull: Wie weiter in der Sahelzone? Zielkonflikte und begrenzte Handlungsoptionen. https://www.swp-berlin.org/10.18449/2024A19/
(12) ”If we stay here we are going to die“ – Testimonies from refugees in Tunisia about their protest sit-in at the UNHCR in Tunis and its violent eviction. https://migration-control.info/en/blog/if-we-stay-here-we-are-going-to-die-testimonies-refugees-tunisia-protest-sit-in-unhcr-eviction/

Erstveröffentlichung: https://gegeneugrenzregime.noblogs.org/post/2025/07/24/die-internationale-organisation-fuer-migration-humanitaerer-kitt-des-unmenschlichen-systems/#more-1572

Karte border profiteers Berlin: https://abolishfrontex.org/border-profiteers-berlin/ https://umap.openstreetmap.de/de/map/wer-profitiert-und-hilft-beim-eu-grenzregime_68239#12/52.4531/13.3137

Initiative gegen das EU-Grenzregime: https://gegeneugrenzregime.noblogs.org/

passiert am 22.06.2025