Schattenseite der Online-Käufe: Amazon-Fahrer sind ohne Pause 25 Wochen auf Tour

Die weiße Sattelzugmaschine kommt aus Polen. Der blaue Auflieger mit dem weißen, dem Lächeln eines zufriedenen Kunden nachgezeichneten Logo des US-Online-Händlers Amazon aus Krefeld. Der Fahrer selbst stammt aus der Ukraine. Zur Zeit der Sowjetunion war der ausgemergelte Mittfünfziger Soldat in Afghanistan, wie er auf Bildern zeigt. Jetzt trägt er eine heruntergekommene Jogginghose und freut sich über einen Apfel und eine Schokowaffel. Vor rund vier Wochen war er das letzte Mal in seiner Heimat. Seither ist er im Auftrag von Amazon auf Tour. Als er am 15. Oktober auf der A1 in eine Schwerpunktkontrolle des Bundesamtes für Güterverkehr (BAG) gerät, ist transportrechtlich zunächst alles im grünen Bereich.

Drei nationale Touren darf ein gebietsfremder Lkw im Anschluss an eine grenzüberschreitende Tour im Rahmen der Kabotage in Deutschland fahren, dann muss er das Land mit der nächsten Ladung wieder verlassen. Für den Online-Giganten, der allein mit seiner Plattform Amazon Web Services (AWS) im dritten Quartal 2020 die Erlöse um 29 Prozent auf 11,6 Milliarden Dollar steigerte, sollte die Digitalisierung der Touren innerhalb seines europäischen Netzwerkes grundsätzlich kein Problem sein.

Seit April hat das BAG nun auf Anweisung des Bundesverkehrsministeriums insgesamt zehn Schwerpunktkontrollen durchgeführt. Zuletzt am 26. und 27. Oktober wurden 723 Lkw an 33 Stellen auf Kabotage überprüft. 139 haben Kabotage durchgeführt, 46 dieser Beförderungen waren illegal. Das ist, allein auf die Kontrolle der natürlich immer gezielt aus dem fließenden Verkehr gezogenen ausländischen Fahrzeuge, ein gutes Drittel. Deutschland macht somit endlich Ernst bei der Bekämpfung des ungleichen Wettbewerbs. Auch wenn die kontrollierten Fahrzeuge am Ende nur einen Bruchteil des täglichen Lkw-Verkehrs ausmachen und die Bußgelder im Gesamtumsatz der Unternehmen aus der Portokasse gezahlt werden können.

Auf Nachfrage sind die Ergebnisse der BAG-Straßenkontrolle der Pressestelle von Amazon Deutschland in München noch nicht bekannt. „Amazon arbeitet mit einer Vielzahl von Logistikpartnern zusammen, um Pakete zu den Kunden zu bringen“, heißt es. „Unsere Partner sind verpflichtet, sich an die geltenden Gesetze und den Verhaltenskodex für Amazon-Lieferanten zu halten, der den Schwerpunkt auf faire Löhne, Sozialleistungen, angemessene Arbeitszeiten und Vergütung legt.“

Fahrer warten das ganze Wochenende

Doch daran herrschen allein bei einem Ortsbesuch des Amazon-Logistikzentrums in Dortmund an einem Sonntag erhebliche Zweifel. Knapp 40 Lastzüge vornehmlich aus Litauen und Lettland warten dort auf Einlass in das eingezäunte Gelände, eine Versorgung für die Fahrer, die hier zum Teil das ganze Wochenende warten, gibt es nicht. Die Fahrer verpflegen sich am Lkw oder im leeren Auflieger, die gewaschene Wäsche trocknet unter der geöffneten Motorhaube. Mindestens fünf der angesprochenen Fahrer sind vier Wochen europaweit auf Tour, einer sogar seit zwei Monaten.

Doch bei der Kontrolle ebenjener regelmäßigen wöchentlichen Ruhezeit kommen die aktuell 220 Straßenkontrolleure des BAG einfach nicht nach. Seit September 2017, als das Verbot im deutschen Fahrpersonalrecht in Kraft trat, wurden hierzulande im Mittel im Jahr rund 850 Verstöße festgestellt und sanktioniert. Zum Vergleich: Rund 600 osteuropäische Lkw stehen an einem Wochenende rund um das Walldorfer Kreuz. Da es spätestens seit dem 20. August 2020 mit Inkrafttreten des ersten Teiles des EU-Mobiltätspaketes europaweit verboten ist, die regelmäßige wöchentliche Ruhezeit von mindestens 45 Stunden im Lkw zu verbringen, entsprechen auch diese Trucker-Camps vor den elf Amazon-Festungen wohl eher nicht dem Verhaltenskodex.

An der belgischen Transitstrecke der E 40 zwischen Aachen und Lüttich wurde erst Anfang November ein Amazon-Sattelzug mit einer Zugmaschine aus Litauen und einem Fahrer aus Usbekistan kontrolliert. Der Fahrer war 25 Wochen am Stück auf Tour. In der politischen Kommunikation aus Brüssel war immer die Rede davon, dass die osteuropäischen Fahrer spätestens am Ende der dritten Woche in die Heimat zurückkehren müssen.

46 Beförderungen waren illegal

Doch das BAG weiß nicht, welcher Transport nach dieser Fahrt geplant ist. Und so unterstützen die Experten aus dem Bereich der Betriebskontrolle die Straßenkontrolleure und sammeln Daten für einen baldigen Hausbesuch. Denn ein weiterer Lastzug von Amazon war laut BAG 28 Mal zwischen den elf deutschen Logistikzentren gependelt. Ein klarer Verstoß.

Wir sehen mehr Kunden als jemals zuvor, die frühzeitig Geschenke einkaufen.

Amazon-Chef Jeff Bezos

Doch diese Rückkehrpflicht hat sich mittlerweile als reines Rückkehrrecht entpuppt. Insbesondere Fahrer aus der ehemaligen Sowjetunion, die für lettische und litauische Speditionen in Westeuropa unterwegs sind, zeigen bei Kontrollen ein Formblatt, mit dem sie bestätigen, dass sie die neuen Regeln verstanden haben und gleichzeitig unterschreiben, dass sie, nun ja, „freiwillig“ darauf verzichten. Das Formblatt ist nicht rechtskräftig, der Verzicht im Einzelfall leider schon.

Der Mindestlohn wird umgangen

Die im Mobilitätspaket als „Lex specialis“ beschlossene Entsenderichtlinie, nach der für osteuropäische Lkw-Fahrer auf Touren innerhalb von Deutschland mindestens der deutsche Mindestlohn von derzeit 9,35 Euro pro Stunde gilt, tritt zwar erst im Februar 2022 in Kraft – doch gilt er schon jetzt. Allerdings wird er von vielen osteuropäischen Frachtführern durch das umstrittene Lohn-Spesen-Modell umgangen.

Das zeigt sich in Dortmund im Gespräch mit zwei Lkw-Fahrern aus Weißrussland, die für eine litauische Spedition jeweils vier Wochen im Auftrag von Amazon europaweit unterwegs sind, bevor sie vier Wochen frei haben – in der Heimat. Für die vier Wochen auf Tour bekommen sie 2000 Euro netto, basierend auf dem litauischen Grundlohn von rund 740 Euro, auf die der Arbeitgeber die Sozialversicherung bezahlt. Der Rest sind Spesen. Sind die Fahrer diese vier Wochen im Urlaub, bekommen sie gar keinen Lohn. Und verdienen dennoch im Mittel pro Monat rund 700 Euro mehr, als sie als Fahrer in Weißrussland bekommen würden.

Solange der deutsche Zoll bei Kontrollen osteuropäischer Lkw einen Teil dieser Spesen weiterhin auf den deutschen Mindestlohn anrechnet, wird sich an dieser Ausbeutung nichts ändern. Auch nicht in der nahenden Weihnachtszeit. Im dritten Quartal kletterte der Umsatz von Amazon gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 37 Prozent auf 96,1 Milliarden Dollar (82,3 Milliarden Euro), wie das Unternehmen Ende Oktober in Seattle mitteilte.

Der Gewinn verdreifachte sich sogar auf den bisherigen Rekordwert von 6,3 Milliarden Dollar. „Wir sehen mehr Kunden als jemals zuvor, die frühzeitig Geschenke einkaufen“, freut sich Amazon-Chef Jeff Bezos auf das „beispiellose“ Weihnachtsgeschäft. Der Verhaltenskodex für Amazon-Lieferanten legt dabei den Schwerpunkt „auf faire Löhne, Sozialleistungen, angemessene Arbeitszeiten und Vergütung“. Vielen osteuropäischen Fahrern dürfte er ein bitteres Lächeln entlocken.

Quelle: https://plus.tagesspiegel.de/wirtschaft/schattenseite-der-online-kaeufe-amazon-fahrer-sind-ohne-pause-25-wochen-auf-tour-80582.html