Venomous Butterfly Publikationen – WIE ANARCHISTISCH IST DIE PLATTFORM?

Aufgrund großer Unterschiede zwischen der englischsprachigen und der deutschsprachigen Übersetzung, von denen es sowohl mehrere gibt, haben wir die Fassung auf die sich dieser Text bezieht selbst übersetzt. Es liegt also nicht an uns was die entschiedenen Differenzen zwischen den vielen Übersetzungen angeht. Wir hätten die gängige deutschsprachige Übersetzung verwenden können, was wir auch gerne getan hätten, denn es hätte uns viel Zeit erspart, welche auf der Nestor Makhno Info-Seite zu finden ist, aber einige Differenzen schienen uns jedoch zu groß zu sein.

Dieser Text ist ein weiterer, der sich einer noch längeren Reihe der sich kritisch mit dem 1926 von ‚Dielo Truda‘, sowie seinen zeitgenössischen Verteidigerinnen und Verteidiger – in der Regel bekannt als Plattformisten – Organisationsplattform der Allgemeinen Anarchistischen Union, auseinandersetzt und in Zukunft weiter damit auseinandersetzen wird, einreiht. Da der Text für sich selbst spricht, muss nicht viel gesagt werden, da wir auch die Kritik am Plattformismus teilen, als der Versuch den Anarchismus, unter anderem, zu bolschewisieren, außer bei Stellen wie „Die Revolution darf sich nicht mehr um die Produktionsmittel drehen, sondern muss als eine Umgestaltung des gesamten Lebens verstanden werden, bei der die Arbeit als definierbarer Lebensbereich nicht mehr existiert. Daher ist auch die Arbeitsmoral, die die Plattform durchdringt, antiquiert. Diese Arbeitsmoral wird auch dadurch deutlich, dass sie die Klasseneinteilung in „die Arbeiterklasse“ und „die nicht arbeitende Klasse“ vornehmen. Mir scheint, dass es aus anarchistischer Sicht viel sinnvoller wäre, von der herrschenden Klasse und der ausgebeuteten und enteigneten Klasse oder Klassen zu sprechen.“

Selbstverständlich muss sich die soziale Revolution mit der Frage der Produktionsmittel auseinandersetzen und die Lohnarbeit existiert absolut als ein definierbarer Lebensbereich, dass Gegenteil zu behaupten wäre Toni Negri auf den Schoß zu fallen. Gerade weil der Kapitalismus das gesamte Leben aller Spezies auf diesen Planeten zu vernichten droht und sich eine klassenlose Gesellschaft mit solchen Fragen auseinandersetzen werden muss steht die Frage im Raum wie wird die menschliche Gemeinschaft ihre Bedürfnisse erschaffen.

Die Arbeitsmoral die die Plattform durchdringt hat andere Ursachen, als, wie man ahnen könnte, oder vermuten lässt, ein Fetisch der Arbeit selbst, also als einer menschlichen Tätigkeit die intrinsisch von der Lohnarbeit nicht zu trennen wäre. Es ist nicht uninteressant sich mit der etymologischen Vergangenheit des Begriffes der Arbeit auseinanderzusetzen, steht die Frage im Raum ob wir für menschliche Tätigkeiten die nicht der Perpetuierung des Kapitals dienen sollen, ob in der Maloche oder in der sogenannten Freizeit, die auch nicht außerhalb der Diktatur des Kapitals steht, andere Begriffe zu gebrauchen haben werden wenn der Moment es erfordert.

Soligruppe für den sozialen Krieg und Gefangene

Venomous Butterfly Publikationen

WIE ANARCHISTISCH IST DIE PLATTFORM?

Mit Auszügen aus der Plattform und der Makhno-Malatesta-Korrespondenz Anti-Copyright

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EINFÜHRUNG

Wenn diese [revolutionäre] Tendenz nun endgültig befreiend sein will und sich nicht mit der Ersetzung einer alten Macht durch eine neue Macht täuschen will, muss sie von der Selbstorganisation der Kämpfe der Ausgebeuteten ausgehen. Diese Selbstorganisation ist bereits im Gange und stellt an sich schon den interessantesten theoretischen Vorschlag dar, den die letzten Jahre des Kampfes geliefert haben. Es liegt an der anarchistischen revolutionären Minderheit, nicht erneut zu versuchen, diesem Prozess der selbstorganisierten Strukturierung Organisationsformen aufzuzwingen, die ihr fremd sind.

[…]

Die neue anarchistische „Partei“ wäre sicherlich nicht das, was die Probleme der sozialen Revolution lösen würde, sondern vielmehr die selbstorganisierten Ausgebeuteten, mit der Präsenz von Anarchistinnen und Anarchisten als Träger der im spezifischen Sinne klarsten konkreten Vorstellung von den Methoden und Möglichkeiten der Selbstorganisierung. Diese anarchistische Präsenz kann nur unter der Bedingung nützlich sein, dass sie nicht erwartet, von außen ein vorgegebenes Modell für die Interpretation der Realität aufzudrängen, ein Modell, das sich als solches nur durch eine verbale Definition als befreiend bezeichnen könnte. -Alfredo M. Bonanno

Man könnte mich fragen, warum ich ein Pamphlet mit Texten aus einer fast achtzig Jahre alten Debatte drucke. Der Grund ist einfach. In den letzten Jahren haben einige Anarchistinnen und Anarchisten aus Gründen, die ich nicht verstehe, wieder damit begonnen, die von der Gruppe Dielo Trouda herausgegebene „Organizational Platform of General Union of Anarchists (Project)“ (auch bekannt als „The Organizational Platform of Libertarian Communists“) als Grundlage für die aktuelle anarchistische Praxis zu propagieren. Obwohl die Texte und Briefe im faschistischen Italien nur langsam zu ihm gelangten, versuchte Malatesta dennoch eine gefährtenschaftliche kritische Debatte mit Nestor Makhno über die Plattform, und Malatestas Kritik an diesem Dokument und der darin vorgeschlagenen Organisationsstruktur gehört zu den besten.

Es besteht kein Zweifel daran, dass eine der drängendsten Fragen für Anarchistinnen und Anarchisten zu jeder Zeit die Frage ist, wie wir in der Welt auf eine Weise handeln können, die mit unseren Zielen übereinstimmt. So wie die ursprünglichen Initiatoren der Plattform aufrichtige Anarchistinnen und Anarchisten waren, die versuchten, mit dieser Frage zu ringen, gehe ich davon aus, dass dies auch für die meisten heutigen „Plattformisten“ gilt. Aber es hat schon etwas Nostalgisches, sich auf ein fast achtzig Jahre altes Dokument zu berufen, das aus einem bestimmten Kontext stammt, um Antworten auf diese Frage zu finden.

Die Plattform wurde 1926 von fünf Anarchisten verfasst, die an der russischen Revolution beteiligt gewesen waren. Die Frage, mit der sie sich auseinandersetzen wollten, war die mangelnde Effektivität der Anarchistinnen und Anarchisten in dieser Revolution und ganz allgemein. Bei der Lektüre des gesamten Dokuments stellt man fest, dass sich ein Großteil ihrer Analyse auf den spezifischen Kontext Russlands zur Zeit der Revolution bezieht – eine Zeit, in der 85 % der Bevölkerung des Landes noch aus Bauern bestand. Das allein würde schon die Relevanz des Dokuments für unsere heutige Situation einschränken. Darüber hinaus stellt das Festhalten an einer produktivistischen Ideologie jegliche Relevanz für die Gegenwart in Frage. Die Vorstellung, dass es bei einer sozialen Revolution darum geht, die gegenwärtigen Produktionsmittel zu beschlagnahmen und sie kommunistisch zu betreiben, erscheint heute einfach absurd. Die Revolution darf sich nicht mehr um die Produktionsmittel drehen, sondern muss als eine Umgestaltung des gesamten Lebens verstanden werden, bei der die Arbeit als definierbarer Lebensbereich nicht mehr existiert. Daher ist auch die Arbeitsmoral, die die Plattform durchdringt, antiquiert. Diese Arbeitsmoral wird auch dadurch deutlich, dass sie die Klasseneinteilung in „die Arbeiterklasse“ und „die nicht arbeitende Klasse“ vornehmen. Mir scheint, dass es aus anarchistischer Sicht viel sinnvoller wäre, von der herrschenden Klasse und der ausgebeuteten und enteigneten Klasse oder Klassen zu sprechen.

Aber ein zeitgenössischer Plattformist könnte argumentieren, dass die Relevanz der Plattform woanders liegt, nicht in ihren spezifischen Vorschlägen zu den Arbeiter- und Bauernkämpfen der damaligen Zeit, sondern in ihren allgemeinen Prinzipien. Gut, aber wie lauten diese allgemeinen Grundsätze dann? Um diese Prinzipien besser zu verstehen, ist es meiner Meinung nach aber auch wichtig, sich zu überlegen, wie die ursprünglichen Plattformisten das Problem der fehlenden anarchistischen Wirksamkeit und Relevanz sahen.

Bei der Lektüre der Einleitung der Plattform wird deutlich, dass die Verfasser das Versagen der Anarchistinnen und Anarchisten im Wesentlichen auf politischer Ebene sehen. Sie sahen das Problem darin, dass den Anarchistinnen und Anarchisten ein einheitliches Programm für den proletarischen Kampf fehlte, eine einheitliche Theorie und Praxis, um den Klassenkampf in Richtung eines libertären Kommunismus zu führen. Was die ursprünglichen Plattformisten nicht zu erkennen schienen, ist, dass sie mit dieser Fragestellung nicht der Logik der autoritären und etatistischen Revolutionäre entkommen. Sie stellen die Frage nach der revolutionären Wirksamkeit immer noch im Sinne einer Macht/Gegenmacht-Dynamik des Kampfes und nicht im Sinne der Zerstörung aller institutionellen Macht. Die von ihnen geforderte „Organisationsplattform der Allgemeinen Anarchistischen Union“ hat praktisch die Funktion einer revolutionären Partei, mit allem, was dazu gehört. Sie ist die Quelle des revolutionären Bewusstseins der Arbeiterinnen und Arbeiter sowie der Bäuerinnen und Bauern. Sie soll sie auf die soziale Revolution vorbereiten. Sie soll sie erziehen und eine Art von Führung bieten. Indem sie das Problem im Wesentlichen politisch betrachten, driften die Gefährtinnen und Gefährten von Dielo Trouda in eine leninistische Logik ab, nicht unbedingt im Sinne des Autoritarismus, aber mit Sicherheit im Sinne der Vorstellung von der speziellen Organisation als einem Bewusstsein außerhalb der Klasse.

Aus dieser politischen Sichtweise heraus erklären sich die ersten drei Organisationsprinzipien, die in der Plattform vorgeschlagen werden: 1) Einheit der Ideologie; 2) Einheitliche Taktik und kollektives Handeln; und 3) Kollektive Verantwortung. Damit Anarchistinnen und Anarchisten als eine Art politische Partei funktionieren können, sind diese Prinzipien absolut notwendig. Aber natürlich gelten diese drei Grundsätze für jede politische Partei, ob anarchistisch oder nicht. Deshalb wird auch ein vierter Grundsatz aufgenommen: der Föderalismus, d. h. die Notwendigkeit, dass die Union und die revolutionäre Gesellschaft nicht hierarchisch, dezentral und horizontal funktionieren. Aber die „Beschreibung“ dieses Punktes ist in Wirklichkeit eine Unzahl von Vorbehalten und Bedingungen zusammen mit Vorschlägen für „Sekretariate“, einen koordinierenden „ausführenden Komitee“ und „bestimmte organisatorische Pflichten“. Der Geruch von Bürokratie liegt in der Luft. Und das mag erklären, warum die meisten zeitgenössischen „Plattformisten“ auch eine strikte Einhaltung dieser Grundsätze ablehnen – was natürlich die Frage aufwirft, was in der Plattform sinnvoll ist.

Meiner Meinung nach liegt der Fehler der Verfasser der Plattform genau darin, dass sie das Problem als ein im Wesentlichen politisches Problem ansehen, das durch eine bestimmte Organisationsform gelöst werden kann, die von außerhalb der Kämpfe der Ausgebeuteten selbst kommt. Die Selbstorganisation, die aufständische Ausgebeutete und Enteignete im Laufe ihrer Kämpfe entwickeln, ist immer antipolitisch, und das sollte Anarchistinnen und Anarchisten, die keine Lust haben, die politische Macht zu ergreifen, ein Hinweis sein. Wenn wir als eine weitere politische Organisation mit einem vorgefassten Programm intervenieren, werden wir so wahrgenommen und beurteilt werden. Und das Beste, worauf jeder, der die wirkliche Befreiung der ausgebeuteten Klassen will, in diesem Fall hoffen könnte, wäre, dass Anarchistinnen und Anarchisten zusammen mit den Leninisten, Syndikalisten und anderen Möchtegern-“Anführern der proletarischen Massen“ von der Bühne gelacht werden. Die wirkliche Frage für uns muss über jede politische Frage hinausgehen. Sie dreht sich um eine sehr reale Spannung. Wir selbst gehören zu den Ausgebeuteten und Enteigneten. Unsere Beteiligung am Klassenkampf gegen die herrschende Ordnung liegt in unserem eigenen Interesse. Aber wir haben auch bestimmte Analysen und theoretische Vorstellungen von dem, womit wir es zu tun haben, und bestimmte Wünsche und Träume, wie wir leben wollen. Die Frage ist also, wie wir unsere eigenen Kämpfe führen können, in denen diese Ideen, Wünsche und Träume eine wichtige Rolle spielen, so dass sie sich mit den Kämpfen anderer ausgebeuteter und enteigneter Menschen verflechten und die Ausbreitung der selbstorganisierten Revolte fördern. Die Selbstorganisierung hat ihre eigenen Prinzipien: 1) Autonomie von allen repräsentativen Organisationen (einschließlich Parteien, Gewerkschaften/Syndikate und dergleichen); 2) direkte Aktion; 3) nicht-hierarchische, horizontale Beziehungen; 4) das Individuum als Grundeinheit der Organisation; und 5) Praktikabilität (es geht um die Organisation der für den Kampf notwendigen Aufgaben und Aktivitäten). Die anarchistische Intervention in den selbstorganisierten Kampf würde genau darin bestehen, all diese Eigenschaften zu fördern, alle Rekuperanten – Partei- und Gewerkschafts/Syndikats-Schergen und andere Politiker, unabhängig von ihrer Ideologie – zu entlarven und aktiv zu entmutigen, die Bewegung zur permanenten Konfliktualität mit dem Feind und zu einer Praxis des Angriffs zu ermutigen (was die Verweigerung von Verhandlungen und Kompromissen mit den Herrschenden bedeutet); mit anderen Worten, die Ausbreitung der selbstorganisierten Revolte nicht nur quantitativ, sondern vor allem qualitativ zu fördern, hin zur totalen Wiederaneignung jedes Aspekts des Lebens. Und das ist ein grundlegend antipolitisches Projekt, bei dem die ausgebeutete Klasse sich selbst als Klasse aufhebt, so wie wir uns als Anarchistinnen und Anarchisten aufheben, in dem Sinne, dass wir uns als selbstbestimmte Individuen wiederfinden, die ihr Leben gemeinsam in freier Assoziation mit anderen selbstbestimmten Individuen gestalten.

EINIGE AUSZÜGE AUS DER ORGANISATIONSPLATTFORM DER ALLGEMEINEN ANARCHISTISCHEN UNION

(eine vollständige Version der „Plattform“ findest du unter http://struggle.ws/platform.html oder in den meisten anarchistischen Buchläden)

Einleitung

Es ist sehr bezeichnend, dass die anarchistische Bewegung trotz der Stärke und des unbestreitbar positiven Charakters der libertären Ideen und trotz der Unverblümtheit und Integrität der anarchistischen Positionen in der Auseinandersetzung mit der sozialen Revolution und schließlich trotz des Heldentums und der unzähligen Opfer, die die Anarchisten im Kampf für den libertären Kommunismus auf sich genommen haben, trotz allem schwach bleibt und in der Geschichte der Kämpfe der Arbeiterklasse sehr oft als kleines Ereignis, als Episode und nicht als wichtiger Faktor erscheint.

Dieser Widerspruch zwischen der positiven und unbestreitbaren Substanz der libertären Ideen und dem erbärmlichen Zustand, in dem die anarchistische Bewegung dahinvegetiert, hat eine Reihe von Ursachen, von denen die wichtigste das Fehlen organisatorischer Prinzipien und Praktiken in der anarchistischen Bewegung ist.

In allen Ländern wird die anarchistische Bewegung von mehreren lokalen Organisationen repräsentiert, die widersprüchliche Theorien und Praktiken vertreten, keine Zukunftsperspektiven und keine Kontinuität in der militanten Arbeit haben und immer wieder verschwinden, ohne die geringste Spur zu hinterlassen.

Insgesamt lässt sich ein solcher Zustand des revolutionären Anarchismus nur als „chronische allgemeine Desorganisation“ beschreiben. Wie das Gelbfieber hat sich diese Krankheit der Desorganisation in den Organismus der Anarchisten und Anarchistinnen eingeschlichen und ihn seit Dutzenden von Jahren erschüttert.

Es steht jedoch außer Zweifel, dass diese Desorganisation auf einige Mängel in der Theorie zurückzuführen ist: vor allem auf eine falsche Auslegung des Prinzips der Individualität im Anarchismus: Diese Theorie wird allzu oft mit der Abwesenheit jeglicher Verantwortung verwechselt. Die Liebhaber der Behauptung des „Selbst“, die nur dem persönlichen Vergnügen dienen, klammern sich hartnäckig an den chaotischen Zustand der anarchistischen Bewegung und verweisen zu ihrer Verteidigung auf die unveränderlichen Prinzipien des Anarchismus und seine Lehrer.

Aber die unveränderlichen Prinzipien und Lehrer haben genau das Gegenteil bewiesen.

Zerstreuung und Zersplitterung sind ruinös: Ein enger Zusammenschluss ist ein Zeichen von Leben und Entwicklung. Diese Laxheit des sozialen Kampfes gilt sowohl für Klassen als auch für Organisationen.

Der Anarchismus ist weder eine schöne Utopie noch eine abstrakte philosophische Idee, er ist eine soziale Bewegung der arbeitenden Massen. Deshalb muss er seine Kräfte in einer Organisation bündeln und ständig agitieren, wie es die Realität und die Strategie des Klassenkampfes verlangen.

„Wir sind überzeugt“, sagte Kropotkin, „dass die Bildung einer anarchistischen Organisation in Russland der gemeinsamen revolutionären Aufgabe keineswegs schadet, sondern im Gegenteil in höchstem Maße wünschenswert und nützlich ist.“ (Vorwort zu Die Pariser Kommune von Bakunin, Ausgabe 1892.)

Bakunin hat sich auch nie gegen das Konzept einer allgemeinen anarchistischen Organisation gewehrt. Im Gegenteil, seine Bestrebungen in Bezug auf Organisationen sowie seine Tätigkeit in der Ersten Internationale geben uns allen Grund, ihn als aktiven Parteigänger einer solchen Organisation zu betrachten.

Im Allgemeinen kämpften praktisch alle aktiven anarchistischen Militanten gegen jede verstreute Aktivität und wünschten sich eine anarchistische Bewegung, die durch die Einheit von Zielen und Mitteln zusammengeschweißt ist.

Während der russischen Revolution von 1917 wurde das Bedürfnis nach einer allgemeinen Organisation am stärksten und dringendsten empfunden. Während dieser Revolution zeigte die libertäre Bewegung den größten Grad an Sektionalismus und Verwirrung. Das Fehlen einer allgemeinen Organisation führte viele aktive anarchistische Militante in die Reihen der Bolschewiki. Dieses Fehlen ist auch die Ursache dafür, dass viele andere heutige Militante passiv bleiben und ihre oft beträchtlichen Kräfte nicht nutzen können.

Wir brauchen dringend eine Organisation, die die Mehrheit der Anarchisten und Anarchistinnen versammelt und im Anarchismus eine allgemeine und taktische politische Linie festlegt, die der gesamten Bewegung als Leitfaden dient.

Es ist an der Zeit, dass der Anarchismus den Sumpf der Unorganisiertheit verlässt, dem endlosen Schwanken in den wichtigsten taktischen und theoretischen Fragen ein Ende setzt, entschlossen auf ein klar erkanntes Ziel zusteuert und eine organisierte kollektive Praxis betreibt.

Es reicht jedoch nicht aus, die Notwendigkeit einer solchen Organisation festzustellen: Es ist auch notwendig, die Methode zu ihrer Gründung festzulegen.

Wir lehnen die Idee, eine Organisation nach dem Rezept der „Synthese“ zu gründen, d. h. die Vertreter verschiedener anarchistischer Strömungen zu vereinen, als theoretisch und praktisch ungeeignet ab. Eine solche Organisation mit heterogenen theoretischen und praktischen Elementen wäre nur eine mechanische Vollversammlung von Individuen, von denen jedes eine andere Auffassung von allen Fragen der anarchistischen Bewegung hat, eine Vollversammlung, die sich unweigerlich auflösen würde, wenn sie auf die Realität trifft.

Die anarchosyndikalistische Methode löst das Problem der anarchistischen Organisation nicht, da sie diesem Problem keine Priorität einräumt, sondern nur daran interessiert ist, in das Industrieproletariat einzudringen und dort an Stärke zu gewinnen.

Doch ohne eine allgemeine anarchistische Organisation kann in diesem Bereich nicht viel erreicht werden, auch nicht, um Fuß zu fassen.

Die einzige Methode, die zur Lösung des Problems der allgemeinen Organisation führt, ist unserer Meinung nach die Zusammenführung aktiver anarchistischer Militanten zu einer Basis von präzisen Positionen: theoretisch, taktisch und organisatorisch, d.h. die mehr oder weniger perfekte Basis eines homogenen Programms.

Die Ausarbeitung eines solchen Programms ist eine der wichtigsten Aufgaben, die den Anarchisten und Anarchistinnen durch den sozialen Kampf der letzten Jahre auferlegt wurde. Dieser Aufgabe widmet die Gruppe der russischen Anarchisten im Exil einen wichtigen Teil ihrer Bemühungen. Die unten veröffentlichte Organisationsplattform stellt die Umrisse, das Gerüst eines solchen Programms dar. Sie soll der erste Schritt sein, um die libertären Kräfte in einem einzigen, aktiven und kampffähigen revolutionären Kollektiv zu vereinen: der Allgemeinen Union der Anarchisten.

Wir zweifeln nicht daran, dass die vorliegende Plattform Lücken aufweist. Sie hat Lücken, wie alle neuen, praktischen Schritte, die von Bedeutung sind. Es ist möglich, dass bestimmte wichtige Positionen ausgelassen wurden, dass andere unzureichend behandelt werden oder dass wieder andere zu detailliert sind oder sich wiederholen. All das ist möglich, aber nicht von entscheidender Bedeutung. Wichtig ist, dass der Grundstein für eine allgemeine Organisation gelegt wird, und dieses Ziel wird mit der vorliegenden Plattform zu einem gewissen Grad erreicht.

Es ist die Aufgabe des gesamten Kollektivs, der Allgemeinen Anarchistischen Union, sie zu erweitern, ihr später Tiefe zu verleihen und sie zu einer definitiven Plattform für die gesamte anarchistische Bewegung zu machen. Auch auf einer anderen Ebene haben wir Zweifel. Wir rechnen damit, dass einige Vertreter des selbsternannten Individualismus und des chaotischen Anarchismus uns mit Schaum vor dem Mund angreifen und uns beschuldigen werden, gegen anarchistische Prinzipien zu verstoßen. Wir wissen jedoch, dass die individualistischen und chaotischen Elemente unter dem Titel „anarchistische Prinzipien“ politische Gleichgültigkeit, Nachlässigkeit und Abwesenheit jeglicher Verantwortung verstehen, die in unserer Bewegung zu fast unheilbaren Spaltungen geführt haben und gegen die wir mit all unserer Energie und Leidenschaft ankämpfen. Deshalb können wir die Angriffe aus diesem Lager getrost ignorieren. Wir setzen unsere Hoffnung auf andere Militante: auf diejenigen, die dem Anarchismus treu bleiben, die die Tragödie der anarchistischen Bewegung erlebt und erlitten haben und die schmerzhaft nach einer Lösung suchen.

Außerdem setzen wir große Hoffnungen auf die jungen Anarchisten und Anarchistinnen, die im Atem der russischen Revolution geboren wurden und sich von Anfang an inmitten konstruktiver Probleme befinden und sicherlich die Verwirklichung positiver und organisatorischer Prinzipien im Anarchismus fordern werden.

Wir laden alle russischen Anarchisten, die in verschiedenen Ländern der Welt verstreut sind, und auch einzelne Militante ein, sich auf der Grundlage einer gemeinsamen organisatorischen Plattform zusammenzuschließen.

Diese Plattform soll das revolutionäre Rückgrat und der Sammelpunkt aller Militanten der russischen anarchistischen Bewegung sein! Sie soll die Grundlage für die Allgemeine Anarchistische Union bilden!

Es lebe die soziale Revolution der Arbeiter der Welt!

Die DIELO TROUDA GRUPPE Paris. 20.6.1926.

[…]

Organisatorischer Teil

Die oben dargelegten allgemeinen, konstruktiven Positionen bilden die organisatorische Plattform der revolutionären Kräfte des Anarchismus.

Diese Plattform, die eine eindeutige taktische und theoretische Ausrichtung enthält, scheint das Minimum zu sein, auf das sich alle militanten Kräfte der organisierten anarchistischen Bewegung dringend einigen müssen.

Ihre Aufgabe ist es, alle gesunden Elemente der anarchistischen Bewegung in einer allgemeinen Organisation zu bündeln, die ständig aktiv ist und agitiert: die Allgemeine Anarchistische Union. Die Kräfte aller anarchistischen Militanten sollten auf die Schaffung dieser Organisation ausgerichtet sein.

Die grundlegenden Organisationsprinzipien einer Allgemeinen Anarchistischen Union sollten wie folgt lauten:

1- Theoretische Einheit:

Die Theorie ist die Kraft, die die Aktivitäten von Personen und Organisationen auf einen bestimmten Weg und ein bestimmtes Ziel lenkt. Natürlich sollte sie allen Personen und Organisationen, die der Allgemeinen Union angehören, gemeinsam sein. Alle Aktivitäten der Allgemeinen Union, sowohl im Allgemeinen als auch in ihren Details, sollten in perfekter Übereinstimmung mit den theoretischen Prinzipien der Union stehen.

2. Die taktische Einheit oder die kollektive Methode der Aktion:

Ebenso sollten die taktischen Methoden der einzelnen Mitglieder und Gruppen innerhalb der Union einheitlich sein, d. h. sie sollten sowohl untereinander als auch mit der allgemeinen Theorie und Taktik der Union in strikter Übereinstimmung stehen.

Eine gemeinsame taktische Linie in der Bewegung ist von entscheidender Bedeutung für die Existenz der Organisation und der gesamten Bewegung: Sie beseitigt die verhängnisvolle Wirkung mehrerer gegensätzlicher Taktiken, bündelt alle Kräfte der Bewegung und gibt ihnen eine gemeinsame Richtung, die zu einem festen Ziel führt.

3. Kollektive Verantwortung:

Die Praxis, auf eigene Verantwortung zu handeln, sollte in den Reihen der anarchistischen Bewegung entschieden verurteilt und abgelehnt werden. Die Bereiche des revolutionären Lebens, sozial und politisch, sind vor allem von Natur aus zutiefst kollektiv. Die sozialrevolutionäre Tätigkeit in diesen Bereichen kann nicht auf der persönlichen Verantwortung einzelner militanter Personen beruhen.

Das Exekutivorgan der allgemeinen anarchistischen Bewegung, die Anarchistische Union, wendet sich entschieden gegen die Taktik des unverantwortlichen Individualismus und führt in ihren Reihen das Prinzip der kollektiven Verantwortung ein: Die gesamte Union ist für die politische und revolutionäre Tätigkeit jedes Mitglieds verantwortlich; ebenso ist jedes Mitglied für die politische und revolutionäre Tätigkeit der Union als Ganzes verantwortlich.

4. Föderalismus:

Der Anarchismus hat eine zentralisierte Organisation immer abgelehnt, sowohl im Bereich des sozialen Lebens der Massen als auch in seiner politischen Aktion. Das zentralisierte System beruht auf der Tötung des kritischen Geistes, der Initiative und der Unabhängigkeit jedes Individuums und auf der blinden Unterwerfung der Massen unter das „Zentrum“. Die natürlichen und unvermeidlichen Folgen dieses Systems sind die Versklavung und Mechanisierung des gesellschaftlichen Lebens und des Lebens der Organisation.

Gegen den Zentralismus hat der Anarchismus immer das Prinzip des Föderalismus vertreten und verteidigt, das die Unabhängigkeit und Initiative der Individuen und der Organisation mit dem Dienst an der gemeinsamen Sache in Einklang bringt.

Indem der Föderalismus die Idee der Unabhängigkeit und des hohen Maßes an Rechten jedes Individuums mit dem Dienst an den gesellschaftlichen Bedürfnissen und Notwendigkeiten in Einklang bringt, öffnet er die Türen für jede gesunde Entfaltung der Fähigkeiten jedes Individuums. In den Reihen der Anarchisten wurde das föderalistische Prinzip jedoch oft deformiert: Es wurde zu oft als das Recht verstanden, vor allem sein „Ich“ zu manifestieren, ohne die Verpflichtung, über die Pflichten gegenüber der Organisation Rechenschaft abzulegen.

Diese falsche Interpretation hat unsere Bewegung in der Vergangenheit desorganisiert. Es ist an der Zeit, ihr auf entschlossene und unumkehrbare Weise ein Ende zu setzen.

Föderation bedeutet die freie Übereinkunft von Individuen und Organisationen, kollektiv auf gemeinsame Ziele hinzuarbeiten. Eine solche Vereinbarung und die darauf basierende föderale Union werden jedoch nur dann zur Realität und nicht zur Fiktion oder Illusion, wenn alle Teilnehmer der Vereinbarung und der Union die übernommenen Pflichten vollständig erfüllen und sich an die gemeinsamen Entscheidungen halten. In einem sozialen Projekt, wie groß auch immer die föderalistische Grundlage sein mag, auf der es aufgebaut ist, kann es keine Beschlüsse ohne ihre Ausführung geben. In einer anarchistischen Organisation, die ausschließlich Verpflichtungen gegenüber den Arbeitern und ihrer sozialen Revolution übernimmt, ist das noch weniger zulässig.

Die föderalistische Art der anarchistischen Organisation erkennt zwar die Rechte jedes Mitglieds auf Unabhängigkeit, Meinungsfreiheit, individuelle Freiheit und Initiative an, verlangt aber auch, dass jedes Mitglied feste organisatorische Pflichten übernimmt, und verlangt die Ausführung der gemeinschaftlichen Beschlüsse.

Nur unter dieser Bedingung wird das föderalistische Prinzip lebendig und die anarchistische Organisation funktioniert richtig und steuert auf das definierte Ziel zu.

Die Idee der Allgemeinen Anarchistischen Union wirft das Problem auf, die Aktivitäten aller Kräfte der anarchistischen Bewegung zu koordinieren und zusammenzuführen.

Jede Organisation, die sich der Union anschließt, stellt eine wichtige Zelle des gemeinsamen Organismus dar. Jede Zelle sollte ihr eigenes Sekretariat haben, das die politische und technische Arbeit der Organisation ausführt und theoretisch leitet.

Um die Aktivitäten aller der Union angeschlossenen Organisationen zu koordinieren, wird ein besonderes Organ geschaffen: das Exekutivkomitee der Union. Das Komitee hat folgende Aufgaben: die Ausführung der Beschlüsse der Union, mit denen es betraut ist; die theoretische und organisatorische Ausrichtung der Tätigkeit der einzelnen Organisationen im Einklang mit den theoretischen Positionen und der allgemeinen taktischen Linie der Union; die Überwachung des allgemeinen Zustands der Bewegung; die Aufrechterhaltung der Arbeits- und Organisationsbeziehungen zwischen allen Organisationen der Union und mit anderen Organisationen.

Die Rechte, Verantwortlichkeiten und praktischen Aufgaben des Komitees werden vom Kongress der Union festgelegt. Die Allgemeine Anarchistische Union hat ein konkretes und bestimmtes Ziel. Im Namen des Erfolgs der sozialen Revolution muss sie vor allem die revolutionärsten und kritischsten Elemente unter den Arbeitern sowie den Bauern anziehen und aufnehmen. Als antiautoritäre Organisation, die die Abschaffung der Klassengesellschaft anstrebt, stützt sich die Allgemeine Anarchistische Union gleichermaßen auf die beiden grundlegenden Klassen der Gesellschaft: die Arbeiter und die Bauern. Sie legt den gleichen Schwerpunkt auf die Arbeit zur Emanzipation dieser beiden Klassen.

Was die Gewerkschaften der Arbeiter und die revolutionären Organisationen in den Städten angeht, so muss die Allgemeine Anarchistische Union ihre ganze Kraft darauf verwenden, ihre Vorreiterin und theoretische Anführerin zu werden.

Die gleichen Aufgaben übernimmt sie auch für die ausgebeuteten Bauernmassen. Als Basis, die die gleiche Rolle wie die revolutionären Arbeiter spielt, strebt die Union ein Netzwerk revolutionärer ökonomischer Bauernorganisationen an, außerdem eine spezifische Bauerngewerkschaft, die auf antiautoritären Prinzipien beruht. Aus der Masse des werktätigen Volkes geboren, muss die Allgemeine Union an allen Manifestationen ihres Lebens teilnehmen und ihnen bei jeder Gelegenheit den Geist der Organisation, der Beharrlichkeit und der Offensive vermitteln. Nur so kann sie ihre Aufgabe, ihre theoretische und historische Mission in der sozialen Revolution der Arbeit erfüllen und die organisierte Avantgarde ihres Emanzipationsprozesses werden.

Nestor Makhno, Ida Mett, Piotr Archinov, Valevsky, Linsky 1926

Ein Projekt der anarchistischen Organisation

Kürzlich stieß ich zufällig auf eine französische Broschüre (in Italien kann die nichtfaschistische Presse heute [1927] bekanntlich nicht frei zirkulieren) mit dem Titel „Organisationsplattform der Allgemeinen Anarchistischen Union (Entwurf)“.

Dabei handelt es sich um ein Projekt für eine anarchistische Organisation, das unter dem Namen einer „Gruppe russischer Anarchisten im Ausland“ veröffentlicht wurde und sich vor allem an russische Gefährten zu richten scheint. Es befasst sich jedoch mit Fragen, die für alle Anarchisten gleichermaßen von Interesse sind, und die Sprache, in der es verfasst ist, macht deutlich, dass es die Unterstützung von Gefährten weltweit sucht. In jedem Fall lohnt es sich, für die Russen wie für alle anderen zu prüfen, ob der vorgelegte Vorschlag mit den anarchistischen Prinzipien übereinstimmt und ob seine Umsetzung wirklich der Sache des Anarchismus dienen würde.

Die Absichten der Gefährten sind ausgezeichnet. Sie beklagen zu Recht, dass Anarchisten bisher keinen Einfluss auf das politische und gesellschaftliche Geschehen hatten, der dem theoretischen und praktischen Wert ihrer Lehren, ihrer Zahl, ihrem Mut und ihrem Aufopferungswillen entspricht – und glauben, dass der Hauptgrund für dieses relative Versagen das Fehlen einer großen, ernsthaften und aktiven Organisation ist.

Und bis jetzt konnte ich dem mehr oder weniger zustimmen.

Organisation, die in der Praxis nur Kooperation und Solidarität bedeutet, ist eine natürliche Bedingung, die für das Funktionieren der Gesellschaft notwendig ist; und sie ist eine unvermeidbare Tatsache, die jeden betrifft, ob in der menschlichen Gesellschaft im Allgemeinen oder in jeder Gruppierung von Menschen, die ein gemeinsames Ziel verbindet.

Da der Mensch nicht isoliert leben kann, ja nicht wirklich Mensch werden und seine moralischen und materiellen Bedürfnisse befriedigen kann, wenn er nicht Teil der Gesellschaft ist und mit seinen Mitmenschen zusammenarbeitet, ist es unvermeidlich, dass diejenigen, die nicht über die Mittel oder ein ausreichend entwickeltes Bewusstsein verfügen, um sich frei mit denjenigen zu organisieren, mit denen sie gemeinsame Interessen und Gefühle teilen, sich den Organisationen anderer unterwerfen müssen, die in der Regel die herrschende Klasse oder Gruppe bilden und deren Ziel es ist, die Arbeit der anderen zu ihrem eigenen Vorteil auszubeuten. Und die jahrhundertelange Unterdrückung der Massen durch eine kleine Zahl von Privilegierten war immer das Ergebnis der Unfähigkeit der größeren Zahl von Individuen, sich mit anderen Arbeitern über die Produktion und den Genuss von Rechten und Leistungen zu einigen und sich gegen diejenigen zu wehren, die sie ausbeuten und unterdrücken wollen.

Der Anarchismus entstand als Antwort auf diesen Zustand. Sein Grundprinzip ist die freie Organisation, die nach der freien Vereinbarung ihrer Mitglieder ohne jegliche Autorität gegründet und geführt wird, d.h. ohne dass jemand das Recht hat, anderen seinen Willen aufzuzwingen. Es liegt daher auf der Hand, dass Anarchisten versuchen sollten, dieses Prinzip, auf dem ihrer Meinung nach die gesamte menschliche Gesellschaft basieren sollte, auch auf ihr persönliches und politisches Leben anzuwenden.

Nach bestimmten Polemiken zu urteilen, scheint es Anarchisten zu geben, die jede Form der Organisation verschmähen; aber in Wirklichkeit geht es in den vielen, zu vielen Diskussionen zu diesem Thema, selbst wenn sie durch sprachliche Fragen verdunkelt oder durch persönliche Probleme vergiftet werden, um die Mittel und nicht um das eigentliche Prinzip der Organisation. So kommt es, dass die Gefährten, die sich am organisationsfeindlichsten anhören, genau wie der Rest von uns etwas organisieren wollen, und das oft viel effektiver. Das Problem, ich wiederhole, ist einzig und allein eine Frage der Mittel.

Deshalb kann ich die Initiative, die unsere russischen Gefährten ergriffen haben, nur mit Sympathie betrachten, denn ich bin überzeugt, dass eine allgemeinere, „geeintere“ und dauerhaftere Organisation als alle anderen, die bisher von Anarchisten gegründet wurden – auch wenn sie es nicht geschafft hat, alle Fehler und Schwächen auszumerzen, die in einer Bewegung wie der unseren vielleicht unvermeidlich sind -, die inmitten des Unverständnisses und sogar der Feindseligkeit der Mehrheit kämpft – wäre es zweifellos ein wichtiges Element der Stärke und des Erfolgs, ein mächtiges Mittel, um Unterstützung für unsere Ideen zu gewinnen.

Ich glaube, dass es vor allem und dringend notwendig ist, dass Anarchisten so viel und so gut wie möglich zusammenkommen und sich organisieren, um die Richtung zu beeinflussen, die die Masse der Menschen in ihrem Kampf für Veränderung und Emanzipation einschlägt.

Die wichtigste Kraft für den sozialen Wandel ist heute die Arbeiterbewegung (Syndikalismus) und von ihrer Richtung werden der Verlauf der Ereignisse und die Ziele der nächsten Revolution weitgehend abhängen. Durch die Organisationen, die zur Verteidigung ihrer Interessen gegründet werden, entwickeln die Arbeiter ein Bewusstsein für die Unterdrückung, unter der sie leiden, und den Antagonismus, der sie von den Bossen trennt. Als Folge davon beginnen sie, nach einem besseren Leben zu streben, gewöhnen sich an den kollektiven Kampf und die Solidarität und erkämpfen die Verbesserungen, die innerhalb des kapitalistischen und staatlichen Systems möglich sind. Wenn der Konflikt dann über einen Kompromiss hinausgeht, folgt die Revolution oder die Reaktion. Anarchisten müssen den Nutzen und die Bedeutung des Syndikalismus anerkennen; sie müssen ihre Entwicklung unterstützen und sie zu einem der Hebel in ihrer Aktion machen, indem sie alles dafür tun, dass sie durch die Zusammenarbeit mit anderen fortschrittlichen Kräften den Weg zu einer sozialen Revolution ebnet, die das Klassensystem beendet und zu vollständiger Freiheit, Gleichheit, Frieden und Solidarität für alle führt.

Es wäre jedoch ein großer und fataler Fehler zu glauben, dass die Arbeiterbewegung aus eigenem Antrieb und aufgrund ihres Wesens eine solche Revolution herbeiführen kann und soll, wie es viele tun. Im Gegenteil: Alle Bewegungen, die sich auf materielle und unmittelbare Interessen stützen (und nichts anderes kann eine große Arbeiterbewegung tun), neigen, wenn ihnen der Ansporn, der Antrieb und die gemeinsame Anstrengung von Menschen mit Ideen fehlt, unweigerlich dazu, sich den Umständen anzupassen, sie fördern den Geist des Konservatismus und die Angst vor Veränderungen bei denjenigen, die es schaffen, bessere Arbeitsbedingungen zu erreichen, und enden oft damit, dass sie neue und privilegierte Klassen schaffen und dazu dienen, das System, das wir zerstören wollen, zu erhalten und zu konsolidieren.

Daher besteht ein dringender Bedarf an spezifisch anarchistischen Organisationen, die sowohl innerhalb als auch außerhalb der Gewerkschaften für die Verwirklichung des Anarchismus kämpfen und versuchen, alle Keime der Degeneration und der Reaktion auszurotten.

Es liegt jedoch auf der Hand, dass anarchistische Organisationen, um ihre Ziele zu erreichen, in ihrem Aufbau und ihrer Funktionsweise mit den Grundsätzen des Anarchismus in Einklang stehen müssen, d.h. sie müssen es verstehen, die freie Aktion des Individuums mit der Notwendigkeit und der Freude an der Zusammenarbeit zu verbinden, die dazu dient, das Bewusstsein und die Initiative ihrer Mitglieder zu entwickeln und ein Mittel zur Bildung für das Umfeld, in dem sie tätig sind, und zur moralischen und materiellen Vorbereitung auf die von uns gewünschte Zukunft zu sein.

Erfüllt das zur Diskussion stehende Projekt diese Anforderungen?

Mir scheint, dass es das nicht tut. Anstatt in den Anarchisten den Wunsch nach mehr Organisation zu wecken, scheint es bewusst darauf ausgelegt zu sein, das Vorurteil derjenigen Gefährten zu verstärken, die glauben, dass sich zu organisieren bedeutet, sich Anführern zu unterwerfen und einem autoritären, zentralisierenden Gremium anzugehören, das jeden Versuch einer freien Initiative erstickt. Und tatsächlich enthält es genau die Vorschläge, die einige angesichts der offensichtlichen Wahrheiten und trotz unserer Proteste allen Anarchisten, die als Organisatoren bezeichnet werden, zuschreiben wollen. Lasst uns das Projekt untersuchen.

Zunächst einmal scheint es mir ein Fehler zu sein – und auf jeden Fall unmöglich zu verwirklichen – zu glauben, dass alle Anarchisten in einer „Allgemeinen Union“ zusammengefasst werden können – das heißt, in den Worten des Projekts, in einem „einzigen“ aktiven revolutionären Kollektiv.

Wir Anarchisten können alle sagen, dass wir zur selben Partei gehören, wenn wir mit dem Wort „Partei“ alle meinen, die „auf derselben Seite“ stehen, d.h. die dieselben allgemeinen Bestrebungen teilen und die auf die eine oder andere Weise für dieselben Ziele gegen gemeinsame Gegner und Feinde kämpfen. Das bedeutet aber nicht, dass es möglich – oder sogar wünschenswert – ist, uns alle in einer bestimmten Vereinigung zu versammeln. Es gibt zu viele Unterschiede im Umfeld und in den Kampfbedingungen, zu viele verschiedene Möglichkeiten der Aktion und auch zu viele unterschiedliche Temperamente und persönliche Unverträglichkeiten, als dass eine „Allgemeine Union“, wenn sie ernst genommen wird, nicht zu einem Hindernis für die individuellen Aktivitäten und vielleicht auch zu einem Grund für noch mehr internen Streit werden könnte, anstatt die Bemühungen aller zu koordinieren und zu überprüfen.

Wie könnte man zum Beispiel auf die gleiche Weise und mit der gleichen Gruppe einen öffentlichen Verein organisieren, der für Propaganda und Agitation gegründet wurde, und einen Geheimbund, der durch die politischen Bedingungen des Landes, in dem er tätig ist, gezwungen ist, seine Pläne, Methoden und Mitglieder vor dem Feind zu verbergen? Wie könnten die „Pädagogen“, die glauben, dass Propaganda und Vorbild für die allmähliche Umgestaltung des Individuums und damit der Gesellschaft ausreichen, dieselbe Taktik anwenden wie die „Revolutionäre“, die von der Notwendigkeit überzeugt sind, einen durch Gewalt aufrechterhaltenen Status quo mit Gewalt zu zerstören und angesichts der Gewalt der Unterdrücker die notwendigen Bedingungen für die freie Verbreitung der Propaganda und die praktische Anwendung der eroberten Ideale zu schaffen? Und wie kann man Menschen zusammenhalten, die sich aus bestimmten Gründen nicht verstehen und respektieren und niemals gleichermaßen gute und nützliche Militante für den Anarchismus sein können?

Außerdem erklären selbst die Autoren des Projekts („Plattform“) die Idee, eine Organisation zu gründen, die die Vertreter der verschiedenen Tendenzen im Anarchismus zusammenbringt, für „untauglich“. Eine solche Organisation, so sagen sie, „wir lehnen die Idee, eine Organisation nach dem Rezept der „Synthese“ zu gründen, d. h. die Vertreter verschiedener anarchistischer Strömungen zu vereinen, als theoretisch und praktisch ungeeignet ab. Eine solche Organisation mit heterogenen theoretischen und praktischen Elementen wäre nur eine mechanische Vollversammlung von Individuen, von denen jedes eine andere Auffassung von allen Fragen der anarchistischen Bewegung hat, eine Vollversammlung, die sich unweigerlich auflösen würde, wenn sie auf die Realität trifft.“

Das ist in Ordnung. Aber wenn sie die Existenz verschiedener Tendenzen anerkennen, müssen sie ihnen das Recht lassen, sich auf ihre eigene Weise zu organisieren und auf die Art und Weise für die Anarchie zu arbeiten, die ihnen am besten erscheint. Oder werden sie das Recht beanspruchen, alle, die ihr Programm nicht akzeptieren, aus dem Anarchismus zu vertreiben, zu „exkommunizieren“? Sicherlich sagen sie, dass sie alle „gesunden Elemente“ der libertären Bewegung in einer einzigen Organisation „versammeln“ wollen; und natürlich werden sie dazu neigen, nur diejenigen als „gesund“ zu beurteilen, die so denken wie sie. Aber was werden sie mit den „nicht gesunden“ Elementen tun?

Natürlich gibt es unter denjenigen, die sich selbst als Anarchisten bezeichnen, wie in jeder menschlichen Gruppierung Elemente von unterschiedlichem Wert; und was noch schlimmer ist, es gibt einige, die im Namen des Anarchismus Ideen verbreiten, die sehr wenig mit Anarchismus zu tun haben. Aber wie lässt sich das Problem vermeiden? Die „anarchistische Wahrheit“ kann und darf nicht zum Monopol eines Individuums oder Komitees werden; sie darf auch nicht von den Entscheidungen realer oder fiktiver Mehrheiten abhängen. Alles, was notwendig – und ausreichend – ist, ist, dass jeder die größtmögliche Freiheit der Kritik hat und ausübt und dass jeder von uns seine eigenen Ideen beibehält und sich seine Gefährten selbst aussucht. Letztendlich werden die Fakten entscheiden, wer Recht hatte.

Lassen wir also die Idee beiseite, „alle“ Anarchisten in einer einzigen Organisation zu vereinen, und betrachten wir diese „Allgemeine Union“, die uns die Russen vorschlagen, als das, was sie wirklich ist – nämlich die Union einer bestimmten Fraktion von Anarchisten; und sehen wir uns an, ob die vorgeschlagene Organisationsmethode mit den anarchistischen Methoden und Grundsätzen übereinstimmt und ob sie dadurch zum Triumph des Anarchismus beitragen kann.

Noch einmal: Ich habe den Eindruck, dass sie es nicht kann.

Ich zweifle nicht an der Aufrichtigkeit der anarchistischen Vorschläge dieser russischen Gefährten. Sie wollen den anarchistischen Kommunismus herbeiführen und suchen nach Mitteln und Wegen, um dies so schnell wie möglich zu erreichen. Aber es reicht nicht aus, etwas zu wollen, man muss auch die geeigneten Mittel einsetzen; um an einen bestimmten Ort zu gelangen, muss man den richtigen Weg einschlagen oder irgendwo anders landen. Ihre typisch autoritäre Organisation, die weit davon entfernt ist, den Sieg des anarchistischen Kommunismus, den sie anstreben, herbeizuführen, könnte den anarchistischen Geist nur verfälschen und zu Konsequenzen führen, die ihren Absichten zuwiderlaufen.

Tatsächlich scheint ihre „Allgemeine Union“ aus so vielen Teilorganisationen mit „Sekretariaten“ zu bestehen, die die politische und technische Arbeit „ideologisch“ leiten; und um die Aktivitäten aller Mitgliedsorganisationen zu koordinieren, gibt es ein „Exekutivkomitee der Union“, dessen Aufgabe es ist, die Beschlüsse der Union auszuführen und das „ideologische und organisatorische Verhalten der Organisationen in Übereinstimmung mit der Ideologie und der allgemeinen Strategie der Union zu überwachen.“

Ist das anarchistisch? Meiner Meinung nach ist das eine Regierung und eine Kirche. Zwar gibt es keine Polizei oder Bajonette, keine gläubige Herde, die die diktierte „Ideologie“ akzeptiert; aber das bedeutet nur, dass ihre Regierung eine impotente und unmögliche Regierung und ihre Kirche ein Hort für Häresien und Schismen wäre. Der Geist, die Tendenz bleibt autoritär und die erzieherische Wirkung wäre weiterhin anti-anarchistisch.

Hör zu, wenn das nicht wahr ist.

„Das Exekutivorgan der allgemeinen anarchistischen Bewegung, die Anarchistische Union, wendet sich entschieden gegen die Taktik des unverantwortlichen Individualismus und führt in ihren Reihen das Prinzip der kollektiven Verantwortung ein: Die gesamte Union ist für die politische und revolutionäre Tätigkeit jedes Mitglieds verantwortlich; ebenso ist jedes Mitglied für die politische und revolutionäre Tätigkeit der Union als Ganzes verantwortlich.“

Und im Anschluss daran, was die absolute Verneinung jeglicher individueller Unabhängigkeit und Freiheit der Initiative und Aktion ist, bezeichnen sich die Befürworter, die sich daran erinnern, dass sie Anarchisten sind, als Föderalisten und donnern gegen die Zentralisierung, deren „unvermeidlichen Folgen“, wie sie sagen, „die Versklavung und Mechanisierung des gesellschaftlichen Lebens und des Lebens der Organisation.“

Aber wenn die Union für das verantwortlich ist, was jedes Mitglied tut, wie kann sie dann ihren einzelnen Mitgliedern und den verschiedenen Gruppen die Freiheit lassen, das gemeinsame Programm so anzuwenden, wie sie es für richtig halten? Wie kann man für eine Aktion verantwortlich sein, wenn man nicht die Mittel hat, sie zu verhindern? Deshalb müsste die Union und in ihrem Namen der Exekutivausschuss die Aktionen der einzelnen Mitglieder überwachen und ihnen befehlen, was sie zu tun und zu lassen haben; und da eine nachträgliche Missbilligung eine zuvor übernommene Verantwortung nicht wiedergutmachen kann, könnte niemand etwas tun, bevor er nicht die Erlaubnis des Komitees eingeholt hat. Und andererseits: Kann ein Individuum die Verantwortung für die Aktionen eines Kollektivs übernehmen, bevor es weiß, was es tun wird, und wenn es nicht verhindern kann, dass es das tut, was es missbilligt?

Außerdem sagen die Autoren des Projekts, dass es die „Union“ ist, die Vorschläge macht und Entscheidungen trifft. Aber wenn sie sich auf die Wünsche der Union beziehen, meinen sie dann vielleicht auch die Wünsche aller Mitglieder? Wenn ja, müsste die Union, damit sie funktionieren kann, in allen Fragen immer die gleiche Meinung haben. Wenn es also normal ist, dass sich alle über die allgemeinen und grundlegenden Prinzipien einig sind, weil sie sonst nicht vereint sind und bleiben, kann nicht davon ausgegangen werden, dass alle denkenden Menschen immer der gleichen Meinung darüber sind, was unter den verschiedenen Umständen zu tun ist, und über die Wahl der Personen, die mit der Ausführung und Leitung betraut werden sollen.

In Wirklichkeit – so geht es aus dem Text des Projekts selbst hervor – kann der Wille der Union nur der Wille der Mehrheit sein, der durch Kongresse zum Ausdruck kommt, die das „Exekutivkomitee“ ernennen und kontrollieren und über alle wichtigen Fragen entscheiden. Natürlich würden die Kongresse aus Vertretern bestehen, die von der Mehrheit der Mitgliedsgruppen gewählt werden, und diese Vertreter würden, wie immer, mit der Mehrheit der Stimmen entscheiden, was zu tun ist. Im besten Fall würden die Entscheidungen also von der Mehrheit einer Mehrheit getroffen werden, und diese könnte, vor allem wenn es mehr als zwei gegensätzliche Meinungen gibt, leicht nur eine Minderheit darstellen.

Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die Kongresse der Anarchisten unter den Bedingungen, unter denen sie leben und kämpfen, noch weniger wirklich repräsentativ sind als die bourgeoisen Parlamente. Und ihre Kontrolle über die Exekutivorgane, wenn diese autoritäre Befugnisse haben, ist selten opportun und effektiv. In der Praxis nehmen an den Kongressen der Anarchisten teil, wer will und kann, wer genug Geld hat und wer nicht durch polizeiliche Maßnahmen daran gehindert wurde. Es sind genauso viele anwesend, die nur sich selbst oder eine kleine Anzahl von Freunden vertreten, wie diejenigen, die wirklich die Meinungen und Wünsche eines großen Kollektivs vertreten. Und wenn keine Vorkehrungen gegen mögliche Verräter und Spione getroffen werden – und genau diese Vorkehrungen sind notwendig – ist es unmöglich, die Vertreter und den Wert ihres Mandats ernsthaft zu überprüfen.

In jedem Fall läuft das alles auf ein reines Mehrheitssystem, auf reinen Parlamentarismus hinaus.

Es ist bekannt, dass Anarchisten weder die Mehrheitsregierung („Demokratie“) noch die Regierung durch einige wenige („Aristokratie“, „Oligarchie“ oder Diktatur einer Klasse oder Partei) noch die eines Individuums („Autokratie“, „Monarchie“ oder persönliche Diktatur) akzeptieren.

Tausendfach haben Anarchisten die sogenannte Mehrheitsregierung kritisiert, die in der Praxis ohnehin immer zur Herrschaft einer kleinen Minderheit führt.

Müssen wir das alles noch einmal für unsere russischen Gefährten wiederholen?

Anarchisten sind sich darüber im Klaren, dass es dort, wo das Leben gemeinsam gelebt wird, für die Minderheit oft notwendig ist, die Meinung der Mehrheit zu akzeptieren. Wenn es offensichtlich notwendig oder nützlich ist, etwas zu tun, und wenn es die Zustimmung aller erfordert, sollten die Wenigen das Bedürfnis haben, sich den Wünschen der Vielen anzupassen. Und in der Regel ist es im Interesse eines friedlichen Zusammenlebens und unter gleichberechtigten Bedingungen notwendig, dass alle von einem Geist der Eintracht, der Toleranz und des Kompromisses beseelt sind. Aber eine solche Anpassung auf der einen Seite durch eine Gruppe muss auf Gegenseitigkeit und Freiwilligkeit beruhen und aus dem Bewusstsein der Notwendigkeit und des guten Willens erwachsen, um zu verhindern, dass der Ablauf der sozialen Angelegenheiten durch Eigensinn gelähmt wird. Sie kann nicht als Prinzip und gesetzliche Norm aufgezwungen werden. Dies ist ein Ideal, das im täglichen Leben vielleicht nur schwer in seiner Gesamtheit zu erreichen ist, aber es ist eine Tatsache, dass in jeder menschlichen Gruppierung die Anarchie umso näher ist, wenn die Übereinkunft zwischen Mehrheit und Minderheit frei und spontan und frei von jeder Auferlegung ist, die nicht aus der natürlichen Ordnung der Dinge stammt.

Wenn Anarchisten also das Recht der Mehrheit ablehnen, die menschliche Gesellschaft im Allgemeinen zu regieren – in der die Individuen dennoch gezwungen sind, bestimmte Einschränkungen zu akzeptieren, da sie sich nicht isolieren können, ohne auf die Bedingungen des menschlichen Lebens zu verzichten – und wenn sie wollen, dass alles durch die freie Zustimmung aller geschieht, wie ist es dann möglich, dass sie die Idee der Regierung durch die Mehrheit in ihren im Wesentlichen freien und freiwilligen Vereinigungen übernehmen und anfangen zu erklären, dass Anarchisten sich den Entscheidungen der Mehrheit unterwerfen sollten, bevor sie überhaupt gehört haben, wie diese aussehen könnten?

Es ist verständlich, dass Nicht-Anarchisten die Anarchie, definiert als eine freie Organisation ohne die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit oder umgekehrt, für eine unrealisierbare Utopie halten oder für eine, die nur in ferner Zukunft realisierbar ist; aber es ist unvorstellbar, dass jemand, der sich zu anarchistischen Ideen bekennt und die Anarchie verwirklichen oder sich ihrer Verwirklichung zumindest ernsthaft nähern will – und zwar lieber heute als morgen – die Grundprinzipien des Anarchismus verleugnen sollte, wenn er vorschlägt, für ihren Sieg zu kämpfen. Meiner Meinung nach muss eine anarchistische Organisation auf einer ganz anderen Grundlage gegründet werden als die, die diese russischen Gefährten vorschlagen.

Volle Autonomie, volle Unabhängigkeit und damit volle Verantwortung der Individuen und Gruppen; freie Absprache zwischen denen, die es für sinnvoll halten, sich für ein gemeinsames Ziel zusammenzuschließen; moralische Verpflichtung, eingegangene Verpflichtungen einzuhalten und nichts zu tun, was dem angenommenen Programm widerspricht. Auf dieser Grundlage sollten die praktischen Strukturen und die richtigen Werkzeuge aufgebaut und entwickelt werden, um die Organisation mit Leben zu erfüllen. Dann die Gruppen, die Föderationen von Gruppen, die Föderationen von Föderationen, die Versammlungen, die Kongresse, die Komitees für Korrespondenz und so weiter. Aber all das muss frei geschehen, so dass das Denken und die Initiative der Individuen nicht behindert werden, und mit dem einzigen Ziel, die Bemühungen, die isoliert entweder unmöglich oder unwirksam wären, effektiver zu machen. Die Kongresse einer anarchistischen Organisation leiden zwar als Vertretungsorgane unter all den oben genannten Mängeln, sind aber frei von jeglichem Autoritarismus, denn sie legen keine Gesetze fest und zwingen den anderen nicht ihre eigenen Beschlüsse auf. Sie dienen dazu, die persönlichen Beziehungen zwischen den aktivsten Gefährten aufrechtzuerhalten und zu vertiefen, programmatische Studien über Mittel und Wege zur Durchführung von Aktionen zu koordinieren und zu fördern, alle mit der Situation in den verschiedenen Regionen und den dort am dringendsten notwendigen Aktionen vertraut zu machen, die verschiedenen unter den Anarchisten vorhandenen Meinungen zu formulieren und daraus eine Art Statistik zu erstellen – und ihre Beschlüsse sind keine verbindlichen Regeln, sondern Anregungen, Empfehlungen, Vorschläge, die allen Beteiligten unterbreitet werden, und werden nur für diejenigen verbindlich und durchsetzbar, die sie akzeptieren, und zwar so lange, wie sie sie akzeptieren.

Die von ihnen benannten Verwaltungsorgane – Korrespondenzkommission usw. – haben keine Exekutivbefugnisse, keine Weisungsbefugnis, es sei denn, sie handeln im Namen derjenigen, die um solche Initiativen bitten und sie genehmigen, und sie haben keine Befugnis, ihre eigenen Ansichten durchzusetzen – die sie zwar als Gruppen von Gefährten aufrechterhalten und propagieren können, aber nicht als offizielle Meinung der Organisation darstellen können. Sie veröffentlichen die Beschlüsse der Kongresse und die Meinungen und Vorschläge, die Gruppen und Individuen ihnen übermitteln, und sie dienen – für diejenigen, die einen solchen Dienst benötigen – dazu, die Beziehungen zwischen den Gruppen und die Zusammenarbeit zwischen denjenigen zu erleichtern, die den verschiedenen Initiativen zustimmen. Es steht jedem frei, mit wem er korrespondieren möchte, oder die Dienste anderer Komitees in Anspruch zu nehmen, die von speziellen Gruppen ernannt werden. In einer anarchistischen Organisation können die einzelnen Mitglieder jede Meinung äußern und jede Taktik anwenden, die nicht im Widerspruch zu den anerkannten Grundsätzen steht und die den Aktivitäten anderer nicht schadet. In jedem Fall bleibt eine Organisation so lange bestehen, wie die Gründe für einen Zusammenschluss größer sind als die Gründe für einen Dissens. Wenn das nicht mehr der Fall ist, wird die Organisation aufgelöst und macht Platz für andere, homogenere Gruppen.

Natürlich hängt die Dauer und Beständigkeit einer Organisation davon ab, wie erfolgreich sie in dem langen Kampf ist, den wir führen müssen, und es ist natürlich, dass jede Institution instinktiv danach strebt, unbegrenzt zu bestehen. Aber die Dauer einer libertären Organisation muss die Folge der geistigen Verbundenheit ihrer Mitglieder und der Anpassungsfähigkeit ihrer Verfassung an die ständigen Veränderungen der Umstände sein. Wenn sie nicht mehr in der Lage ist, eine nützliche Aufgabe zu erfüllen, ist es besser, wenn sie stirbt.

Die russischen Gefährten werden vielleicht feststellen, dass eine Organisation wie die, die ich vorschlage und die denjenigen ähnelt, die zu verschiedenen Zeiten mehr oder weniger zufriedenstellend existiert haben, nicht sehr effizient ist.

Das verstehe ich. Diese Gefährten sind vom Erfolg der Bolschewiki in ihrem Land besessen und würden wie die Bolschewiki gerne die Anarchisten in einer Art disziplinierter Armee versammeln, die unter der ideologischen und praktischen Leitung einiger weniger Anführer fest zum Angriff auf die bestehenden Regime marschieren und nach einem materiellen Sieg den Aufbau einer neuen Gesellschaft leiten würde. Und vielleicht ist es wahr, dass unter einem solchen System, wenn es möglich wäre, dass Anarchisten sich daran beteiligen würden, und wenn die Anführer Männer mit Vorstellungskraft wären, unsere materielle Effektivität größer sein würde. Aber mit welchen Ergebnissen? Würde das, was dem Sozialismus und dem Kommunismus in Russland passiert ist, nicht auch dem Anarchismus passieren?

Diese Gefährten sind genauso wie wir auf den Erfolg aus. Aber um zu leben und erfolgreich zu sein, müssen wir nicht die Gründe für unser Leben verwerfen und den Charakter des kommenden Sieges ändern.

Wir wollen kämpfen und siegen, aber als Anarchisten – für die Anarchie.

Errico Malatesta Il Risveglio (Genf), Oktober 1927

Über die ‚Plattform‘

Lieber Gefährte Malatesta,

ich habe deine Antwort auf das Projekt für eine „Organisationsplattform der Allgemeinen Anarchistischen Union“ gelesen, das von der Gruppe russischer Anarchisten im Ausland veröffentlicht wurde.

Ich habe den Eindruck, dass du entweder das Projekt für die „Plattform“ falsch verstanden hast oder dass deine Weigerung, die kollektive Verantwortung in der revolutionären Aktion und die Richtungsfunktion, die die anarchistischen Kräfte übernehmen müssen, anzuerkennen, aus einer tiefen Überzeugung über den Anarchismus herrührt, die dich dazu bringt, dieses Prinzip der Verantwortung zu missachten.

Dennoch ist es ein grundlegendes Prinzip, das jeden von uns in seinem Verständnis der anarchistischen Idee, in seiner Entschlossenheit, zu den Massen vorzudringen, und in seinem Opfergeist leitet. Nur dank ihm kann ein Mensch den revolutionären Weg wählen und andere ignorieren. Ohne ihn hätte kein Revolutionär die nötige Kraft, den Willen oder die Intelligenz, um den Anblick des sozialen Elends zu ertragen, geschweige denn dagegen zu kämpfen. Durch die Inspiration der kollektiven Verantwortung haben die Revolutionäre aller Epochen und Schulen ihre Kräfte vereint; darauf gründeten sie ihre Hoffnung, dass ihre partiellen Revolten – Revolten, die den Unterdrückten den Weg eröffneten – nicht vergeblich waren, dass die Ausgebeuteten ihre Bestrebungen verstehen, ihnen die der Zeit angemessenen Anwendungen entnehmen und sie nutzen würden, um neue Wege zu ihrer Emanzipation zu finden.

Du selbst, lieber Malatesta, erkennst die individuelle Verantwortung des anarchistischen Revolutionärs an. Mehr noch, du hast sie während deines ganzen Lebens als Militanter unterstützt. Zumindest habe ich deine Schriften über den Anarchismus so verstanden. Aber du leugnest die Notwendigkeit und den Nutzen der kollektiven Verantwortung für die Tendenzen und Aktionen der anarchistischen Bewegung als Ganzes. Die kollektive Verantwortung beunruhigt dich, also lehnst du sie ab.

Für mich, der ich mir angewöhnt habe, mich mit den Realitäten unserer Bewegung auseinanderzusetzen, ist deine Leugnung der kollektiven Verantwortung nicht nur unbegründet, sondern auch gefährlich für die soziale Revolution, in der du gut daran tust, die Erfahrung zu berücksichtigen, wenn es darum geht, eine entscheidende Schlacht gegen all unsere Feinde auf einmal zu schlagen. Meine Erfahrung mit den revolutionären Schlachten der Vergangenheit führt mich zu der Überzeugung, dass man unabhängig von der Reihenfolge der revolutionären Ereignisse ernsthafte Anweisungen geben muss, sowohl ideologische als auch taktische. Das bedeutet, dass nur ein kollektiver, gesunder und dem Anarchismus ergebener Geist die Erfordernisse des Augenblicks durch einen kollektiv verantwortlichen Willen zum Ausdruck bringen kann. Niemand von uns hat das Recht, sich vor dieser Verantwortung zu drücken. Im Gegenteil: Wenn es bisher in den Reihen der Anarchisten übersehen wurde, muss es jetzt für uns kommunistische Anarchisten zu einem Bestandteil unseres theoretischen und praktischen Programms werden.

Nur der kollektive Geist seiner Militanten und ihre kollektive Verantwortung werden es dem modernen Anarchismus ermöglichen, die historisch falsche Vorstellung aus seinen Kreisen zu verbannen, dass der Anarchismus weder ideologisch noch in der Praxis ein Wegweiser für die Masse der Arbeiter in einer revolutionären Periode sein kann und daher keine Gesamtverantwortung tragen kann.

Ich werde in diesem Brief nicht auf die anderen Teile deines Artikels gegen das „Plattform“-Projekt eingehen, wie zum Beispiel auf den Teil, in dem du „eine Kirche und eine Behörde ohne Polizei“ siehst. Ich möchte nur meine Überraschung darüber zum Ausdruck bringen, dass du ein solches Argument im Laufe deiner Kritik benutzt. Ich habe viel darüber nachgedacht und kann deine Meinung nicht akzeptieren.

Nein, du hast nicht recht. Und weil ich mit deiner Widerlegung nicht einverstanden bin, weil du Argumente verwendest, die zu oberflächlich sind, glaube ich, dass ich das Recht habe, dich zu fragen:

1. Sollte der Anarchismus eine gewisse Verantwortung im Kampf der Arbeiter gegen ihre Unterdrücker, den Kapitalismus und seinen Diener, den Staat, übernehmen?

Wenn nein, kannst du sagen, warum? Wenn ja, müssen Anarchisten darauf hinarbeiten, dass ihre Bewegung auf der gleichen Grundlage wie die bestehende Gesellschaftsordnung Einfluss nehmen kann?

2. Kann der Anarchismus in dem Zustand der Desorganisation, in dem er sich derzeit befindet, ideologischen und praktischen Einfluss auf die sozialen Angelegenheiten und den Kampf der Arbeiterklasse ausüben?

3. Welches sind die Mittel, die der Anarchismus außerhalb der Revolution einsetzen sollte, und über welche Mittel kann er verfügen, um seine konstruktiven Konzepte zu beweisen und zu bekräftigen?

4. Braucht der Anarchismus seine eigenen ständigen Organisationen, die untereinander durch die Einheit von Ziel und Aktion eng verbunden sind, um seine Ziele zu erreichen?

5. Was meinen Anarchisten mit „einzurichtenden Institutionen“, um die freie Entwicklung der Gesellschaft zu gewährleisten?

6. Kann der Anarchismus in der kommunistischen Gesellschaft, die er sich vorstellt, ohne soziale Institutionen auskommen? Wenn ja, mit welchen Mitteln? Wenn nein, welche sollte er anerkennen und nutzen und mit welchen Namen sie ins Leben rufen? Sollen Anarchisten eine führende, also verantwortungsvolle Funktion übernehmen, oder sollen sie sich darauf beschränken, unverantwortliche Hilfskräfte zu sein?

Deine Antwort, lieber Malatesta, wäre für mich aus zwei Gründen von großer Bedeutung. Sie würde mir helfen, deine Sicht der Dinge in Bezug auf die Organisation der Anarchisten und der Bewegung im Allgemeinen besser zu verstehen. Und – seien wir ehrlich – deine Meinung wird von den meisten Anarchisten und Sympathisanten sofort und ohne jede Diskussion als die eines erfahrenen Militanten akzeptiert, der seinem libertären Ideal sein ganzes Leben lang fest treu geblieben ist. Es hängt also bis zu einem gewissen Grad von deiner Haltung ab, ob eine umfassende Untersuchung der dringenden Fragen, die diese Epoche für unsere Bewegung aufwirft, in Angriff genommen wird und ob ihre Entwicklung dadurch verlangsamt wird oder einen neuen Sprung nach vorne macht. Wenn wir in der Stagnation der Vergangenheit und Gegenwart verharren, wird unsere Bewegung nichts gewinnen. Im Gegenteil, es ist wichtig, dass sie angesichts der Ereignisse, die vor uns liegen, alle Möglichkeiten hat, ihre Aufgaben zu erfüllen.

Ich lege großen Wert auf deine Antwort.

1928 mit revolutionären Grüßen Nestor Makhno

Malatesta’s Antwort an Nestor Makhno

Lieber Gefährte

ich habe endlich den Brief gesehen, den du mir vor mehr als einem Jahr geschickt hast. Darin ging es um meine Kritik an dem Projekt zur Organisation einer Allgemeinen Anarchistischen Union, das von einer Gruppe russischer Anarchisten im Ausland veröffentlicht wurde und in unserer Bewegung unter dem Namen „Plattform“ bekannt ist.

Da du meine Situation kennst, wirst du sicher verstehen, warum ich nicht geantwortet habe. Ich kann mich nicht so an den Diskussionen über die Fragen beteiligen, die uns am meisten interessieren, weil die Zensur mich daran hindert, die als subversiv geltenden Publikationen oder die Briefe, die sich mit politischen und sozialen Themen befassen, zu erhalten, und nur nach langen Abständen und durch einen glücklichen Zufall höre ich das sterbende Echo dessen, was die Gefährten sagen und tun. So wusste ich zwar, dass die „Plattform“ und meine Kritik daran breit diskutiert worden war, aber ich wusste wenig oder gar nichts darüber, was gesagt worden war; und dein Brief ist das erste schriftliche Dokument zu diesem Thema, das ich zu Gesicht bekommen habe.

Wenn wir frei korrespondieren könnten, würde ich dich bitten, bevor wir in die Diskussion eintreten, deine Ansichten zu erläutern, die mir, vielleicht aufgrund einer unvollkommenen Übersetzung des Russischen ins Französische, zum Teil etwas unklar erscheinen. Aber da die Dinge so sind, wie sie sind, werde ich auf das antworten, was ich verstanden habe, und hoffe, dass ich dann deine Antwort sehen kann.

Du bist überrascht, dass ich das Prinzip der kollektiven Verantwortung nicht akzeptiere, das du für ein grundlegendes Prinzip hältst, das die Revolutionäre der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft leitet und leiten muss.

Ich für meinen Teil frage mich, was dieser Begriff der kollektiven Verantwortung aus dem Munde eines Anarchisten überhaupt bedeuten kann.

Ich weiß, dass das Militär die Angewohnheit hat, rebellische Soldaten oder Soldaten, die sich im Angesicht des Feindes schlecht verhalten haben, durch wahlloses Schießen zu dezimieren. Ich weiß, dass die Armeechefs keine Skrupel haben, Dörfer oder Städte zu zerstören und die gesamte Bevölkerung, einschließlich der Kinder, zu massakrieren, weil jemand versucht hat, sich gegen eine Invasion zu wehren. Ich weiß, dass die Regierungen im Laufe der Jahrhunderte auf verschiedene Weise mit dem System der kollektiven Verantwortung gedroht und es angewandt haben, um die Aufständischen zu bremsen, Steuern zu verlangen usw.

Und ich verstehe, dass dies ein wirksames Mittel zur Einschüchterung und Unterdrückung sein kann.

Aber wie können Menschen, die für Freiheit und Gerechtigkeit kämpfen, von kollektiver Verantwortung sprechen, wenn es ihnen nur um moralische Verantwortung gehen kann, egal ob materielle Sanktionen folgen oder nicht?!!!

Wenn zum Beispiel in einem Konflikt mit einer bewaffneten feindlichen Macht der Mann neben mir als Feigling auftritt, kann er mir und allen anderen Schaden zufügen, aber die Schande kann nur er sein, weil ihm der Mut fehlt, die Rolle, die er auf sich genommen hat, durchzuhalten. Wenn in einer Verschwörung ein Mitverschwörer seine Gefährten verrät und diese im Gefängnis landen, sind dann die Verratenen selbst für den Verrat verantwortlich?

In der „Plattform“ heißt es: „Die gesamte Union ist für die politische und revolutionäre Tätigkeit jedes Mitglieds verantwortlich; ebenso ist jedes Mitglied für die politische und revolutionäre Tätigkeit der Union als Ganzes verantwortlich.“

Lässt sich das mit den Prinzipien der Autonomie und der freien Initiative vereinbaren, zu denen sich Anarchisten bekennen? Ich antwortete damals: „Aber wenn die Union für das verantwortlich ist, was jedes Mitglied tut, wie kann sie dann ihren einzelnen Mitgliedern und den verschiedenen Gruppen die Freiheit lassen, das gemeinsame Programm so anzuwenden, wie sie es für richtig halten? Wie kann man für eine Aktion verantwortlich sein, wenn man nicht die Mittel hat, sie zu verhindern? Deshalb müsste die Union und in ihrem Namen der Exekutivausschuss die Aktionen der einzelnen Mitglieder überwachen und ihnen befehlen, was sie zu tun und zu lassen haben; und da eine nachträgliche Missbilligung eine zuvor übernommene Verantwortung nicht wiedergutmachen kann, könnte niemand etwas tun, bevor er nicht die Erlaubnis des Komitees eingeholt hat. Und andererseits: Kann ein Individuum die Verantwortung für die Aktionen eines Kollektivs übernehmen, bevor es weiß, was es tun wird, und wenn es nicht verhindern kann, dass es das tut, was es missbilligt?“

Natürlich akzeptiere und unterstütze ich die Ansicht, dass jeder, der sich mit anderen für ein gemeinsames Ziel zusammentut und zusammenarbeitet, das Bedürfnis haben muss, seine Aktionen mit denen seiner Mitstreiter abzustimmen und nichts zu tun, was der Arbeit der anderen und damit der gemeinsamen Sache schadet; und die getroffenen Vereinbarungen einzuhalten – es sei denn, er möchte die Assoziation aufrichtig verlassen, wenn aufkommende Meinungsverschiedenheiten oder veränderte Umstände oder Konflikte über die bevorzugten Methoden eine Zusammenarbeit unmöglich oder unangemessen machen. Genauso wie ich behaupte, dass diejenigen, die diese Pflicht nicht fühlen und praktizieren, aus der Assoziation herausgeworfen werden sollten.

Wenn du von kollektiver Verantwortung sprichst, meinst du vielleicht genau das Einvernehmen und die Solidarität, die zwischen den Mitgliedern einer Assoziation bestehen müssen. Und wenn das so ist, dann ist dein Ausdruck meiner Meinung nach ein falscher Sprachgebrauch, aber im Grunde wäre das nur eine unwichtige Frage der Formulierung und man würde sich schnell einigen.

Die wirklich wichtige Frage, die du in deinem Brief aufwirfst, betrifft die Funktion („le role“) der Anarchisten in der sozialen Bewegung und die Art und Weise, wie sie diese ausüben wollen. Das ist eine Frage der Grundlagen, der raison d’etre des Anarchismus, und man muss sich darüber im Klaren sein, was man meint.

Du fragst, ob Anarchisten (in der revolutionären Bewegung und der kommunistischen Organisation der Gesellschaft) eine richtungsweisende und damit verantwortliche Rolle übernehmen oder sich darauf beschränken sollen, unverantwortliche Hilfskräfte zu sein.

Deine Frage lässt mich ratlos zurück, weil es ihr an Präzision fehlt. Es ist möglich, durch Ratschläge und Beispiele zu lenken und es den Menschen zu überlassen, sich unsere Methoden und Lösungen zu eigen zu machen, wenn diese besser sind als die von anderen vorgeschlagenen und durchgeführten. Es ist aber auch möglich, zu lenken, indem man das Kommando übernimmt, d.h. indem man eine Regierung wird und seine eigenen Ideen und Interessen mit polizeilichen Methoden durchsetzt. Auf welche Weise würdest du lenken wollen?

Wir sind Anarchisten, weil wir glauben, dass die Regierung (jede Regierung) ein Übel ist und dass es ohne Freiheit nicht möglich ist, Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit zu erlangen. Deshalb können wir keine Regierung anstreben und müssen alles tun, um andere – Klassen, Parteien oder Individuen – daran zu hindern, die Macht zu übernehmen und zu Regierungen zu werden. Die Verantwortung der Anführer, ein Begriff, mit dem du, wie mir scheint, garantieren willst, dass die Öffentlichkeit vor ihren Missbräuchen und Fehlern geschützt wird, bedeutet für mich nichts. Diejenigen, die an der Macht sind, sind nur dann wirklich verantwortlich, wenn sie mit einer Revolution konfrontiert werden, und eine Revolution können wir nicht jeden Tag machen, und in der Regel wird sie erst gemacht, wenn die Regierung schon alles Böse getan hat, was sie kann.

Du wirst verstehen, dass ich keineswegs der Meinung bin, dass Anarchisten sich damit zufrieden geben sollten, einfache Hilfskräfte anderer Revolutionäre zu sein, die, da sie keine Anarchisten sind, natürlich danach streben, die Regierung zu werden.

Im Gegenteil, ich glaube, dass wir Anarchisten, die von der Gültigkeit unseres Programms überzeugt sind, danach streben müssen, einen überwältigenden Einfluss zu gewinnen, um die Bewegung zur Verwirklichung unserer Ideale zu bewegen. Aber dieser Einfluss muss gewonnen werden, indem wir mehr und besser als andere tun, und er ist nur dann nützlich, wenn er auf diese Weise gewonnen wird.

Heute müssen wir unsere Ideen vertiefen, weiterentwickeln und verbreiten und unsere Kräfte in einer gemeinsamen Aktion koordinieren. Wir müssen innerhalb der Arbeiterbewegung handeln, um zu verhindern, dass sie sich auf das ausschließliche Streben nach kleinen, mit dem kapitalistischen System kompatiblen Verbesserungen beschränkt und dadurch korrumpiert wird; und wir müssen so handeln, dass sie dazu beiträgt, eine vollständige gesellschaftliche Transformation vorzubereiten. Wir müssen mit den unorganisierten und vielleicht unorganisierbaren Massen zusammenarbeiten, um den Geist der Revolte und den Wunsch und die Hoffnung auf ein freies und glückliches Leben zu wecken. Wir müssen alle Bewegungen initiieren und unterstützen, die darauf abzielen, die Kräfte des Staates und des Kapitalismus zu schwächen und das geistige Niveau und die materiellen Bedingungen der Arbeiter zu verbessern. Kurz gesagt, wir müssen uns moralisch und materiell auf den revolutionären Akt vorbereiten, der den Weg in die Zukunft öffnet.

Und dann, in der Revolution, müssen wir uns energisch (wenn möglich früher und effektiver als die anderen) am wesentlichen materiellen Kampf beteiligen und ihn bis zur äußersten Grenze vorantreiben, um alle repressiven Kräfte des Staates zu zerstören. Wir müssen die Arbeiter ermutigen, sich die Produktionsmittel (Land, Bergwerke, Fabriken und Werkstätten, Transportmittel usw.) und die Lagerbestände an hergestellten Waren anzueignen; sie müssen sofort aus eigener Kraft eine gerechte Verteilung von Konsumgütern organisieren und gleichzeitig Produkte für die Versorgung des Handels zwischen den Gemeinden und Regionen sowie für die Fortsetzung und Intensivierung der Produktion und aller für die Allgemeinheit nützlichen Dienstleistungen liefern. Wir müssen die Aktionen der Assoziationen der Arbeiter, der Genossenschaften, der freiwilligen Gruppen auf jede erdenkliche Weise und je nach den örtlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten fördern, um das Entstehen neuer autoritärer Mächte, neuer Regierungen zu verhindern, ihnen notfalls mit Gewalt entgegenzutreten, sie aber vor allem nutzlos zu machen. Und dort, wo wir keinen ausreichenden Konsens im Volk finden und die Wiedererrichtung des Staates mit seinen autoritären Institutionen und Zwangsorganen nicht verhindern können, müssen wir uns weigern, an ihm teilzunehmen oder ihn anzuerkennen, indem wir uns gegen seine Zumutungen auflehnen und volle Autonomie für uns und alle dissidenten Minderheiten fordern. Mit anderen Worten: Wir müssen in einem tatsächlichen oder potenziellen Zustand der Rebellion bleiben und, wenn wir schon in der Gegenwart nicht gewinnen können, so müssen wir uns zumindest auf die Zukunft vorbereiten. Ist es das, was auch du mit der Rolle meinst, die Anarchisten bei der Vorbereitung und Durchführung der Revolution übernehmen sollten?

Nach dem, was ich über dich und deine Arbeit weiß, bin ich geneigt zu glauben, dass du das tust.

Aber wenn ich sehe, dass es in der Union, die du unterstützt, ein Exekutivkomitee gibt, das die Assoziation ideologisch und organisatorisch leitet, beschleicht mich der Zweifel, dass auch du in der allgemeinen Bewegung ein zentrales Organ sehen möchtest, das in autoritärer Weise das theoretische und praktische Programm der Revolution vorgibt.

Wenn das so ist, sind wir weit voneinander entfernt.

Deine Organisation oder deine Leitungsorgane können aus Anarchisten bestehen, aber sie würden nichts anderes als eine Regierung werden. In der festen Überzeugung, dass sie für den Sieg der Revolution notwendig sind, würden sie vorrangig dafür sorgen, dass sie gut genug aufgestellt und stark genug sind, um ihren Willen durchzusetzen. Sie würden also bewaffnete Korps zur materiellen Verteidigung und eine Bürokratie zur Ausführung ihrer Befehle schaffen und dabei die Volksbewegung lähmen und die Revolution töten.

Das ist es, was meiner Meinung nach mit den Bolschewiki passiert ist.

Das ist es. Ich glaube, das Wichtigste ist nicht der Sieg unserer Pläne, unserer Projekte, unserer Utopien, die auf jeden Fall die Bestätigung durch die Erfahrung brauchen und durch die Erfahrung modifiziert, weiterentwickelt und an die realen moralischen und materiellen Bedingungen der Zeit und des Ortes angepasst werden können. Das Wichtigste ist, dass die Menschen, Männer und Frauen, die schafähnlichen Instinkte und Gewohnheiten verlieren, die ihnen Tausende von Jahren der Sklaverei eingeimpft haben, und lernen, frei zu denken und zu handeln. Und diesem großen Werk der moralischen Befreiung müssen sich Anarchisten besonders widmen.

Ich danke dir für die Aufmerksamkeit, die du meinem Brief geschenkt hast, und in der Hoffnung, weiter von dir zu hören, sende ich dir meine herzlichen Grüße.

Risveglio (Genf), Dezember 1929

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passiert am 27.03.24