Prozessbericht vom 12.09.2023 (Widerstand während Demo gegen die Räumung einer wohnungslosen Person)
Prozessbericht vom 12.09.2023 zum Berufungsvefahren wegen Vorwurfs des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte am 26.11.2020
Am 26.11.2020, also zu Beginn des zweiten Corona-Winters sollte eine Person geräumt werden, die sich unter den Balkonen der Rigaer Straße 92 eingerichtet hatte, um dort den Winter wenigstens etwas geschützt vor der Witterung zu verbringen. Anwohner*innen hatten zu einer Kundgebung aufgerufen um dies zu verhindern oder wenigstens das menschenverachtende Vorgehen des Bezirksamtes öffentlich zu machen. Das Bezirksamt hatte (und hat) keine wirkliche Alternative für wohnungslose Menschen, besonders nicht, wenn sich die Welt (und damit auch Berlin) in einer Pandemie befindet. Die Abstandsvorschriften oder gesundheitlich notwendige Maßnahmen konnten in den Notunterkünften nicht eingehalten werden, diese waren teilweise überfüllt, teilweise wollten Menschen sie auch nicht nutzen aus Angst vor Ansteckung und haben das Leben und Schlafen auf der Straße vorgezogen.
Der Ort vor der Rigaer Straße 92 hat auch den Vorteil, dass es eine aufmerksame und größtenteils solidarische Nachbarschaft gibt, so dass Menschen, die auf der Straße übernachten, sich nicht vor Angriffen fürchten müssen. Inzwischen sind die Nischen unter den Balkonen vergittert, damit keine Menschen mehr auf die Idee kommen, diese Orte als witterungsgeschützte Schlafplätze zu nutzen.
Die Kundgebung begann um 6 Uhr morgens, da die Räumung so früh angekündigt worden war. Es gab Musik und Redebeiträge. Irgendwann, gegen 6:20 Uhr, wollten die Bullen dann die Versammlungsleiter finden und haben sich beschwert, dass es eine vermummte Person (es war Coronazeit und es gab zu dieser Zeit teilweise Maskenpflicht) auf der Versammlung gäbe. Sie drangen in die Versammlung ein, weshalb sich viele Menschen in Sicherheit brachten.
Mehrere Personen wurde nach ihren Personalien gefragt, was in einer Versammlung (welche zu diesem Zeitpunkt weder aufgelöst noch beendet war) verboten ist. Auch wenn der Bereich (immer noch) als „kriminalitätsbelasteter Ort“ eingestuft ist, sind Personalienkontrollen in einer Versammlung nicht erlaubt, da dies gegen das Versammlungsgesetz verstößt.
Eine Person, die nicht sofort ihre Personalien angeben wollte, wurde auf die andere Straßenseite getragen, dann noch mal etwas weiter in die übliche Einfahrt (Rigaer 15), wo die Bullen immer mit ihrem Auto stehen, um die R94 zu überwachen.
Ein Bulle eröffnete der Person dann, dass gegen sie der Vorwurf des Widerstands bestände, weil sie sich schlaff gemacht hätte und ihr Wegtragen daher sehr schwierig gewesen sei. Es folgten noch das Verfrachten zur Wache mit ED-Behandlung (angeordnet von PHK Pohl).
Der Strafbefehl kam dann auch nach ein paar Monaten.
Bei dem Hauptverhandlungstermin vor dem Amtsgericht Tiergarten sagten beide Bullen, die sich beim Tragen nicht sonderlich geschickt angestellt hatten, übereinstimmend aus, dass die Beschuldigte die Hacken in den Boden gestemmt hätte, um den Abtransport zu erschweren. Dies hatte der eine Bulle erst einen Monat nach der Kundgebung in seinen Tätigkeitsbericht geschrieben, vorher war davon keine Rede. Wahrscheinlich hatten sich die Bullen in der Zeit zwischen angeblichem Tattag und Bericht schreiben kundig gemacht und festgestellt, dass nur das bloße Muskeln locken machen (oder auch anspannen) nicht für eine Verurteilung wegen Widerstand ausreicht.
Die Staatsanwältin forderte, die selbe Strafe wie im Strafbefehl, allerdings „auf Bewährung“. Der Richter Daniel jedoch fand die Angeklagte so schlimm, dass er sie zu noch mehr und höheren Tagessätzen verurteilte. Dass die Personalienüberprüfung während einer Versammlung stattgefunden hatte, fand er nicht erheblich, da dies keine Rückschluss auf die Rechtsmäßigkeit der Diensthandlung zulassen würde. Auch fand er es unwahrscheinlich, dass es ein Polizeivideo gab. Daher lehnte er auch die Herbeiziehung dieses Videos ab.
Im Berufungsverfahren ordnete der Richter der Angeklagten eine Pflichtverteidigung bei (ohne dass dies von der Angeklagten beantragt worden war). Wieso er dies tat, obwohl es nicht um ein „Verbrechen“ ging und das zu erwartende Strafmaß weit unter der Grenze lag, die dies erforderlich macht, ist Spekulation. Eine These ist, dass der Richter die sich selber verteidigende Angeklagte dadurch „zähmen“ wollte, da der Richter in der ersten Instanz mit verschiedenen Anträgen (u.a. ein Befangenheitsantrag) konfrontiert war.
Die Verteidigerin organisierte das Polizeivideo, das es vom angeblichen Tathergang wirklich gab. Auf diesem Video ist zu hören, dass die Polizei von einer Versammlung aus ging und beim Abtransport der Angeklagten war kein Widerstand zu sehen.
Zum Hauptverhandlungstag in der Berufungsinstanz kam dann kein einziger Zeuge. Der Richter hatte sowieso nur die beiden Bullenzeugen geladen, die schon in der ersten Instanz ausgesagt hatten, und einen davon wieder abgeladen (wahrscheinlich hatte der Urlaub). Der verbliebene Zeuge meldete sich auch nicht, vielleicht ist die Ladung auf dem Dienstweg ja „verloren“ gegangen? Der Richter war sich jedenfalls nicht sicher, ob die Ladung den Bullen wirklich erreicht hatte.
Immerhin wurde das Polizeivideo öffentlich (per Beamer) im Verhandlungssaal gezeigt. Die Qualität war jedoch so schlecht, dass Bild und Ton für das solidarische Publikum nur zu erahnen war.
So war Zeit für „Verständigungsgespräche“ und ein Austausch zwischen Richter, Staatsanwältin, Verteidigerin und Angeklagter zur Rechtsauffassung. Dabei sagte der Richter, dass er das Urteil des Bundesverfassungsgericht (entgegen der üblichen Rechtsauffassung) sehr eng auslegt und denkt, dass eine Personalienkontrolle während einer Versammlung schon mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Art. 8 GG bzw. Versammlungsgesetz in Einklang zu bringen ist. Im Allgemeinen herrscht eher die Auffassung, dass während eine Versammlung keine polizeilichen Maßnahmen stattfinden dürfen. Zuerst muss entweder die teilnehmende Person von der Versammlung ausgeschlossen werden oder die Versammlung muss aufgelöst oder beendet werden. Beides ist am 26.11.2020 nicht geschehen.
Ohne Zeugenvernehmung wollte der Richter die Angeklagte nicht frei sprechen. Bei einem weiteren Verhandlungstag mit Zeugen hätten also bewiesen werden müssen, dass die Bullen abgesprochen lügen, was vielleicht sogar möglich gewesen wäre, da auf dem Video keine entsprechende (genauer: überhaupt keine) Widerstandshandlung zu sehen war. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass dies vom Gericht so anerkannt wird ist bei deutschen Gerichten relativ gering. Es hätte also wahrscheinlich noch Revision und das Bundesverfassungsgericht folgen müssen.
Staatsanwaltschaft und Richter waren aber mit eine Einstellung auf Kosten des Staates einverstanden. Daher gab es kein Urteil, sondern „nur“ eine Einstellung. Und mehr Zeit für Aktionen.
passiert am 12.09.2023