Interview mit Ermittler der „Soko Epaulette“

Vorwort: Die Reproduktion dieser Artikels auf einem linksradikalen Portal macht Sinn, weil er einige Einblick in die Ermittlungsmethoden der Polizei liefert.

„Der Knast in Sachsen hat die Remmos fertig gemacht“

Von Per Hinrichs
Chefreporter WELT AM SONNTAG

Mit dem Jahrhundertraub in Dresdens Grünem Gewölbe begann für eine Sonderkommission der sächsischen Polizei eine beispiellose Ermittlung. Ein Fahnder gibt erstmals Einblicke in ihre Arbeit – auch darüber, wie der Deal mit einem Berliner Clan zustande kam.
An einem Morgen, der ihn für die nächsten Jahre zum Jäger eines Schatzes macht, tritt Torsten Schmortte gegen sechs Uhr vor sein Haus in der Dresdner Neustadt, entsperrt einen Elektroroller und macht sich auf den Weg zur Arbeit. Sein Fahrrad wurde aus dem Hausflur gestohlen, zum dritten Mal in wenigen Monaten, also fährt Hauptkommissar Schmortte mit dem Roller zur Inspektion. Die Wetterdienste melden fünf Grad Außentemperatur. Als Schmortte den Roller vor dem Eingang der Kriminalpolizei abstellt, sind Türme, Spitzen und Kuppeln der Museen, Theaterhäuser und Kirchen in einen grauen Schleier gehüllt.

Es ist Montag, der 25. November 2019.

Schmortte, 36 Jahre alt und drahtig, leitet das Kommissariat für Wirtschaftskriminalität. Wenn er sonst um diese Zeit zur Arbeit kommt, ist es noch still auf den Fluren. Nun aber drängen sich dort Kollegen und reden über ein Thema, das wenig später die Schlagzeilen in Deutschland bestimmen wird. In der Nacht sind Unbekannte ins Grüne Gewölbe eingebrochen, das weltberühmte Museum im Dresdner Residenzschloss. Sie haben 21 Schmuckstücke mit 4300 Diamanten gestohlen und sind auf der Flucht.

Der Leiter der Inspektion bittet all seine leitenden Ermittler in einen Konferenzraum. Der damalige Chef der Staatsanwaltschaft Dresden sagt, die Identität der Sachsen sei geraubt worden. Der damalige Innenminister spricht später sogar von einem „Anschlag auf die kulturelle Identität aller Sachsen“.

So erinnert sich Torsten Schmortte an einen Tag, den er nicht mehr vergessen wird, wie er sagt. An diesem Morgen wird er Teil einer Sonderkommission, die mit einem noch nie da gewesenen Aufwand einen der spektakulärsten Einbruchdiebstähle der deutschen Geschichte aufklären soll. Ab sofort werden 40 Frauen und Männer, streng abgeschirmt vom üblichen Dienstbetrieb, in einem eigenen Gebäude zwei Jahre lang mehr als 1600 Hinweisen nachgehen, Tausende Spuren sichern, Dutzende Zeugen vernehmen, Zehntausende Blatt Akten anhäufen.

Schmortte sagt heute, dass er damals anscheinend einer der wenigen Sachsen gewesen ist, die „noch nie das Grüne Gewölbe besucht hatten“. Aber der Kriminalist in ihm war elektrisiert. Bislang hatte Schmortte Fälle gelöst, in denen es um Subventionsbetrug und Insolvenzverschleppung ging. Nun sollte er einen Juwelendiebstahl aufklären, der weltweit Schlagzeilen machte. „Scheitern war keine Option“, sagt Schmortte.

Er ist der erste leitende Ermittler, der nun öffentlich Einblicke in die Arbeit der Soko gibt, in die Suche nach den Tätern und den Kunstschätzen, in die Erfolge und Momente des Scheiterns. Dieser Fall, sagt Schmortte, habe die Polizei mit Tätern konfrontiert, die mit konventionellen Methoden nicht zu fassen gewesen seien. „Wir mussten völlig neu denken.“

Seit Januar vergangenen Jahres läuft vor dem Landgericht Dresden ein Prozess gegen sechs Tatverdächtige. Vier Angeklagte haben zugegeben, die Schmuckstücke gestohlen zu haben. Am 16. Mai, in gut zwei Wochen, soll das Urteil fallen. Doch zu Beginn der Ermittlungen war keineswegs ausgemacht, dass die Täter gefasst oder die geraubten Schmuckstücke wieder auftauchen würden.

1. Stolz und Fehlurteil
Das Grüne Gewölbe, ein barocker Sandsteinbau am Rande der Dresdner Altstadt, beherbergt ein Museum mit neun kleinen Räumen, das der sächsische Kurfürst und polnische König August der Starke einrichtete. Seit 1724 liegen dort Exponate aus, inzwischen sind es 3000, sie stammen aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert. Die Schmuckstücke tragen Namen wie „Bruststern des Polnischen Weißer-Adler-Ordens“ oder „Reiherstutz“ oder „Epaulette mit dem Sächsischen Weißen“.

Die Epaulette ist mit einem Diamanten von 50 Karat verziert. Es ist einer von Hunderten Diamanten und Brillanten, die den Museumsbesuchern aus Glasvitrinen entgegenfunkeln. Die Ausstellung ist eine der ältesten und wichtigsten Juwelensammlungen der Welt. Ihr Versicherungswert beträgt knapp 114 Millionen Euro. Der Philosoph Arthur Schopenhauer nannte das Grüne Gewölbe einen „Feenpalast“. Als es nach einer mehrjährigen Restaurierung 2006 wieder öffnete, kam Bundeskanzlerin Angela Merkel.

„Alle dachten, das Grüne Gewölbe sei so sicher wie Fort Knox“, sagt Sonderermittler Schmortte. „Wir waren so naiv.“

Im November 2019, am Morgen nach dem Einbruch, bespricht sich die Soko der Dresdner Kriminalpolizei. Alle Dezernatsleiter, Kommissariatsleiter und die besten Ermittler gehören ihr an. Mehrfach kommt die Frage auf, was die Diebe denn alles aus dem Museum gestohlen hätten. „Na, die Epaulette!“, sagt einer der Polizisten. Epaulette, der Begriff ist so einprägsam, dass die Ermittler ihre Sonderkommission so nennen.

Schmortte hat in Sokos gearbeitet, die „Rex“, „Eilzug“, „Insel“, „Schlossstraße“ oder „Eisenbahnstraße“ hießen. „Die Namen haben manchmal eher einen abstrakten Bezug zum Sachverhalt“, sagt er. Die „Soko Epaulette“ besteht aus mehreren Teams, die unterschiedliche Aufgaben haben. Eines kümmert sich vorerst um die Fahndung nach den Tätern, eines um die Auswertung der bisherigen Hinweise und Spuren. Schmortte leitet eine Einheit, die anfangs aus vier Mann besteht und die das Internet, die Telekommunikation und Daten überwachen soll. Sie legen Akten an, kümmern sich um die Funkzellenauswertung und versuchen, die Tathandys zu ermitteln. Schmortte wird seine Kollegen ab jetzt sieben Tage in der Woche sehen.

Schon wenige Stunden nach dem Raub wissen die Ermittler, dass es in der Tatnacht in Dresden zwei Vorfälle gegeben hat, die unmittelbar mit dem Einbruch zusammenhängen müssen. Da ist der Brand in einem kleinen Stromschaltraum unter einer Brücke; und ein Audi S6, der in einer Tiefgarage in Flammen aufgegangen ist. All das in fußläufiger Entfernung voneinander.

Manches haben Überwachungskameras gefilmt. Etwa, wie die Einbrecher über eine Mauer vor dem Museum kletterten. Andere Aufnahmen zeigen, wie sechs Tage vor dem Einbruch schon einmal Männer auf das Gelände des Grünen Gewölbes gekommen sind, mit einer Hydraulikschere ein Stück Fenstergitter herausschnitten und es mit Klebstoff provisorisch wieder einsetzten. Am Tag des Einbruchs konnten sie das Gitterstück in Sekundenschnelle abtrennen und ins Museum klettern. Dieses Stück Stahlgitter haben die Ermittler im Kofferraum des verkohlten Audis in der Tiefgarage gefunden. Sie glauben deshalb von Anfang an, dass die Täter nicht nur einen Fluchtwagen hatten, sondern mindestens zwei.

Alles in allem, sagt Schmortte, sei es ihnen so vorgekommen, als wüssten sie schon nach wenigen Tagen ziemlich viel. Und die Videos aus dem Grünen Gewölbe erwecken zu dieser Zeit noch den Eindruck, dass die Diebe so dreist vorgegangen sind, wie nur Anfänger es tun. Nicht jedenfalls wie Profis, die solche Coups lange und sorgfältig planen. Wie sonst sollte zu erklären sein, dass die Einbrecher sich nicht die Mühe machten, die Überwachungskameras zu verdecken? Und wie, dass ausgerechnet der Mann, der auf die Vitrinen einhackt, keine Stirnlampe trägt, um beide Hände benutzen zu können? Die Bilder der Überwachungskameras zeigen, dass er eine Stabtaschenlampe in der Hand hält.

2. Der Quereinsteiger und das falsche Taxi
„Wir gingen am Anfang in der Soko davon aus, dass die Ermittlungen nur wenige Wochen dauern würden“, sagt Schmortte. Er sitzt an einem ovalen Holztisch im Erdgeschoss eines Wohnhauses. Der Raum ist ausgelegt mit Nadelfilz, es gibt einen Einbauschrank und einen Fernseher. Der Bund Deutscher Kriminalbeamter hat dort seinen Sitz. Schmortte ist sächsischer Landesvorsitzender der Gewerkschaft.

Er ist spät zur Polizei gekommen, als Quereinsteiger. Er hat Multimediatechnik studiert, am Ende der Ausbildung merkte er, dass es nicht das Richtige für ihn war. Irgendwann kam ihm die Idee, dass er Verbrecher jagen will. Also bewarb er sich bei der Kriminalpolizei. Einstellungstest in Bielefeld, Oranienburg, Leipzig. Einstellungstest in Hann. Münden und Bremen.

In Bielefeld absolvierte Schmortte eine Prüfung, in der er in einem fiktiven Polizeibüro Mathematikaufgaben lösen sollte. Doch ständig klingelte das Telefon, zudem saß ihm eine Schauspielerin gegenüber, sie ahmte eine Kollegin nach und redete fortwährend auf ihn ein. Schmortte und die anderen Bewerber sollten zugleich rechnen, sich um das Telefon kümmern und um die aufgeregte Frau.

Schmortte sagt heute, er habe schnell das Gefühl gehabt, dass der Test kaum zu schaffen sei. Also habe er der Schauspielerin gesagt, er habe viel zu tun, und sie gebeten, ihm mit den Matheaufgaben zu helfen. Sie sei so perplex gewesen, dass sie schweigend die Hälfte seiner Aufgaben gelöst habe.

Schmortte bekam den Job angeboten, lehnte aber ab. Da er auch den Test in Leipzig bestanden hatte, entschied er sich für Leipzig. Er ist dort geboren, in Sachsen verwurzelt. Schmortte arbeitete sich zum Kommissariatsleiter hoch, schloss sich der Polizeigewerkschaft an, stieg auch dort auf.

Schon in den ersten Tagen nach dem Einbruch im November 2019 geht bei der „Soko Epaulette“ ein wichtiger Hinweis ein. Die Kollegen des Berliner Landeskriminalamts haben vor Kurzem den aufsehenerregenden Diebstahl einer riesigen Goldmünze aus dem Berliner Bode-Museum aufgeklärt. Zwei Mitglieder des in der Hauptstadt berüchtigten Clans der Remmos sind es demnach gewesen. Der Clan besteht nach Erkenntnissen der Polizei aus 13 Familien und insgesamt über 1000 Mitgliedern allein in Berlin. Auf das Konto einiger Remmos gehen spektakuläre Einbrüche, Raubüberfälle und Diebstähle.

Ab da, sagt Schmortte in dem kleinen Gewerkschaftsbüro, habe eine „wahnsinnig enge“ Zusammenarbeit begonnen. Wie er es sieht, ist sie einer der Gründe dafür, dass der Fall am Ende gelöst werden konnte. Die Berliner Kollegen hätten all ihre Informationen über die Remmos mit der Soko geteilt und die Sachsen im Schnellverfahren in die Welt der Clankriminalität eingeführt.

„Zunächst mussten wir verstehen, wie die Tat überhaupt abgelaufen war“, sagt Schmortte. Also lässt die „Soko Epaulette“ nach Spuren von Fasern und DNA suchen. Das ist aufwendig und dauert mehrere Wochen. Denn die Kriminaltechniker des LKA müssen dafür unter anderem an einer gemauerten Wand am Tatort, drei Meter hoch, jeden Quadratzentimeter abkleben. An jener Mauer, über die die Räuber auf das abgesperrte Gelände des Grünen Gewölbes geklettert sind. Zuerst untersuchen die Techniker alle Fasern, Reste von Kleidungsstücken etwa. Denn bei der Sicherung von DNA, etwa Haaren oder Hautschuppen, werden solche Fasern durch Chemikalien zerstört. Die DNA aber ist in der Regel das, was viel schneller dazu führt, einen Täter zu identifizieren.

Allerdings hält in diesem besonderen Fall die Sicherung der vielen Fasern die gesamten Ermittlungen auf. Die Soko entscheidet deshalb bald, die DNA-Spuren vorrangig zu sichern. Auch auf die Gefahr hin, Spuren zu vernichten, die ihnen später einen gerichtsfesten Beweis liefern könnten. Etwa wenn sie Textilreste mit Kleidungsstücken eines Tatverdächtigen vergleichen.

Zudem vernehmen die Kriminalisten Zeugen, überprüfen jede Kamera im Dresdner Stadtzentrum. An Tankstellen, an Kreuzungen, auf der Suche nach verdächtigen Fahrzeugen. Bald melden sich Menschen, die ein Taxi gesehen haben wollen, einen Mercedes, der angeblich auffällig schnell durch die Stadt gerast sei.

Tatsächlich können die Ermittler wenig später mithilfe von Kameraaufzeichnungen nachvollziehen, dass ein Mercedes von einer Tiefgarage in der Kötzschenbroder Straße, wo der Audi ausbrannte, in Richtung Elbepark fuhr und bald auf die Autobahn A13 nach Berlin. Dort verliert sich seine Spur.

Vier Wochen nach dem Raub ruft eine Passantin aus Berlin an. Ihr sei im Stadtteil Treptow, im Osten der Stadt, ein silberner Mercedes aufgefallen. Ein Fenster sei geöffnet. Die Beamten überprüfen das Kennzeichen und finden heraus, dass dieses Auto in Berlin die Kopie eines in Dresden zugelassenen Fahrzeugs ist. Gleicher Hersteller, gleiches Modell, gleiche Farbe. Und dazu ein gefälschtes Kennzeichen mit identischer Kennung. Diesen Trick hatten Terroristen der RAF in den Siebzigerjahren genutzt.

Die Berliner Polizei lässt den Mercedes abschleppen und auf einen Verwahrplatz der Polizei stellen.

Noch ist es bestenfalls eine Ahnung, dass dieses Auto ein wichtiges Beweismittel in diesem Kriminalfall werden wird. Doch am ersten Weihnachtstag 2019 brechen Unbekannte nachts in das Fahrzeug ein, bauen das Navigationsgerät aus und zünden den Wagen an. Das Feuer ist schnell gelöscht. Wer es gelegt hat, ist bis heute unklar. Spezialisten der Berliner Polizei untersuchen den Wagen und finden etwas: DNA-Spuren, die zu Abdul Majed Remmo und seinem Cousin Rabieh passen.

Der Verdacht liegt nahe, dass die Ermittler nun auch den zweiten Fluchtwagen aus der Tatnacht haben. Schmortte und seine Soko lassen das verrußte Auto nach Dresden transportieren. Sie hoffen, trotz der erschwerten Umstände noch irgendetwas Verwertbares aus dem Metallskelett zutage zu fördern. Tagelang untersuchen Kriminaltechniker alles, was von der Limousine noch übrig ist. Auch sie werden fündig. An einer Seite der Karosserie entdecken sie Reste einer elfenbeinfarbenen Plastikfolie. Ein Hinweis, dass der Wagen umfoliert wurde, also mit einer Folie beklebt, die ihn wie ein Taxi aussehen ließ. Er könnte also der Fluchtwagen gewesen sein, den Zeugen beschrieben haben.

„Das war eine gute Idee der Remmos“, sagt Schmortte an dem Holztisch des Gewerkschaftsraums. „Wer kontrolliert schon ein Taxi?“ Die Täter konnten sich sicherer davor fühlen, von der Polizei angehalten und kontrolliert zu werden, als in jedem anderen Auto.

Im Januar 2020 wird der Verdacht, dass es eine Verbindung zwischen der Tat und Berlin gibt, plausibler. Aber noch immer ist es nur ein Verdacht. Eine der entscheidenden Fragen ist, ob der Wagen zur Tatzeit tatsächlich in Dresden war. Und falls ja: Gibt es dann andere Steuergeräte oder Computer als das Navigationsgerät des Autos, die die Fahrdaten gespeichert haben könnten?

Schmortte erzählt, wie die Soko beim Hersteller angefragt hat, welche elektronischen Bauteile denn Fahrdaten sicherten. Die Antwort: Keiner der Bordrechner tue das.

Dann aber findet einer der Technikspezialisten der Dresdner Soko heraus, dass ein Bauteil, das für das Motormanagement zuständig ist, doch erfasst, wann der Motor gestartet und gestoppt wird. Dem Techniker gelingt schließlich, wozu sich Mercedes außerstande sieht: bestimmte Fahrdaten auszulesen. Die Ermittler können nun nachvollziehen, zu welcher Zeit das Auto wie viele Kilometer bewegt wurde. Sie können auch sehen, wie oft und um welche Uhrzeit es angehalten hat. So erfahren sie, dass der Wagen um den Zeitpunkt des Raubs herum über eine Strecke bewegt wurde, die der Entfernung zwischen Berlin und Dresden und wieder zurück entspricht.

Was die Daten allerdings nicht verraten, ist: ob das falsche Taxi in der Nacht auf den 25. November 2019 wirklich zwischen diesen beiden Städten hin- und hergefahren ist.

Da hat einer von Schmorttes Kollegen eine Idee. Er schlägt vor, die Kennzeichenlesegeräte der A13, die beide Städte verbindet, zu überprüfen. Diese Scanner, die wie Blitzer aussehen, lesen automatisch die Nummernschilder aller vorbeifahrenden Autos ein. Falls nötig, kann die Polizei in laufenden Ermittlungsverfahren darauf zugreifen. Wenn allerdings niemand beantragt, sie einzusehen, werden sie nach 24 Stunden aus Datenschutzgründen wieder gelöscht.

Der Zufall meint es gut mit Schmortte und den Sonderermittlern. Eine Polizeidirektion in Zwickau hat für Ermittlungen in einem anderen Fall beantragt, die gescannten Daten länger zu speichern.

Das verschafft den Dresdner Juwelenjägern die Möglichkeit, zu überprüfen, wer am Tag des Einbruchs ins Grüne Gewölbe auf der A13 unterwegs war. Und siehe da, sie finden den Audi S6, der später in einer Dresdner Tiefgarage verbrannt ist. Sie entdecken auch das falsche Taxi, den beklebten Mercedes. Als sie die Datensätze aus den Tagen vor dem Raub sichten, sehen sie außerdem, dass beide Autos schon einmal nach Dresden gefahren sind. Und zwar wenige Tage vor dem Einbruch. Wohl, als sie das Fenstergitter des Grünen Gewölbes für den Einbruch präparierten. Und um im sogenannten Pegelhaus, einer Stromleitstelle, die auch das Grüne Gewölbe versorgt, einen Molotowcocktail zu verstecken. Als der Verteilerkasten dann kurz vor dem Einbruch in Flammen aufging, fielen Straßenbeleuchtungen rund um das Museum und die Stromversorgung aus.

„Das war der erste Ermittlungserfolg“, sagt Schmortte.

Inzwischen ist es Februar 2020, seit dem Raub sind fast drei Monate vergangen. Kurz darauf, im März, ergibt die Auswertung der DNA-Spuren am Museum gleich mehrere Treffer. Es sieht so aus, als hätten die Täter von Dresden einen Fehler gemacht, der den Beamten nun hilft: Sie haben keine Handschuhe getragen.

Zwar haben sie in den Innenräumen des Gewölbes einen Feuerlöscher geleert, der Schaum hat die Struktur aller Spuren von DNA zerstört. Doch an der Mauer, die das Museum umgibt, haben die Forensiker Hautschuppen gesichert, die Übereinstimmungen mit der DNA von vier Männern aufweisen: Wissam, Bashir, Mohamed und Rabieh Remmo. Zudem deutet eine der Spuren auf einen weiteren Mittäter hin: Abdul Majed Remmo, dessen DNA die Ermittler auch in dem als Taxi getarnten Mercedes gefunden haben.

Wissam Remmo, 25, gehört zu den Familienmitgliedern des Berliner Clans, die die Polizei schon recht gut kennt. Gerade erst, im Februar 2020, hat ihn das Landgericht Berlin wegen des Diebstahls der 100 Kilogramm schweren Goldmünze „Maple Leaf“ aus dem Berliner Bode-Museum zu einer viereinhalbjährigen Strafe verurteilt. Die drei anderen Verdächtigen aus dem Clan gelten als geschickte Einbrecher, Diebe oder Intensivstraftäter.

3. Bauernschlaue Habibis
Vier Monate nach dem Einbruch scheint die Auflösung des Falles zum Greifen nahe zu sein. So jedenfalls klingt es, wenn Kommissar Schmortte davon erzählt. Und genau so, sagt er, sei es ihm damals auch vorgekommen. Aber ein Auto und der Nachweis einer DNA an einem Tatort reichen den Ermittlern der „Soko Epaulette“ nicht. Es reicht vor allem nicht für einen Haftbefehl. Noch halten sie für möglich, dass es andere Täter gegeben haben könnte als vier oder fünf der jungen Remmos.

Die Männer, nach denen Schmortte und die Kollegen der „Soko Epaulette“ suchten, haben mit ihrer Akribie und Ruchlosigkeit einerseits verblüfft, andererseits haben sie einfache Fehler gemacht. Schmortte drückt es so aus: mal Kreisklasse, mal Champions League, „bauernschlau und doof zugleich“.

Inzwischen hat die Soko gegen Wissam Remmo und mindestens drei seiner Cousins zumindest so stichhaltige Indizien an der Hand, dass die Dresdner Staatsanwaltschaft bei Gericht beantragt, die Handys der Tatverdächtigen abhören zu dürfen. Dafür ist Schmorttes Team zuständig. Er und die Kollegen hoffen auf den nächsten Fehler der mutmaßlichen Täter, möglichst einen entscheidenden.

Zum Beispiel, „dass die sich mal verquatschen am Telefon“, sagt Schmortte.

Im Frühjahr 2020 versucht die Soko, ein bisschen nachzuhelfen. Sie will Unruhe stiften. Also lässt sie Pressemitteilungen verschicken, die den Eindruck erwecken, dass die Polizei die Täter bald fassen würde. Die Meldungen sind nie falsch, aber so verfasst, dass die Erfolge der Polizei größer erscheinen, als sie in Wahrheit sind. Allerdings bewirken sie nichts. Die Ermittler hören nicht, dass einer der Verdächtigen am Telefon über den Einbruch spricht. Wie sich später herausstellt, treffen sich die verdächtigen Cousins an einem See oder anderen Orten, an denen sie sich unbeobachtet fühlen, wenn sie heikle Dinge zu besprechen haben. Wissam Remmo nutzt offenbar monatelang nicht einmal ein eigenes Telefon. Jedenfalls hören die Ermittler ihn nur dann, wenn er bei überwachten Gesprächen anderer zugegen ist und im Hintergrund spricht.

Die naheliegende Idee, Wohnungen und Autos zu verwanzen, verwirft die Soko schnell. Rechtlich schwierig, technisch kompliziert. Die Gesetze sehen hohe Hürden dafür vor. Üblicherweise genehmigen Gerichte solche Überwachungen nur in Verfahren, in denen es um Mord oder gegen die organisierte Kriminalität geht. Der Juwelenraub von Dresden dagegen ist, strafrechtlich gesehen, nur ein Einbruchdiebstahl. Es spielt für die juristische Bewertung keine Rolle, ob jemand einen Flachbildfernseher aus einer Wohnung stiehlt oder Juwelen im Versicherungswert von 114 Millionen Euro. Dazu kommt, dass die Remmos ihre Autos häufig wechseln oder in die Werkstatt bringen. Das heißt, die Techniker der Polizei müssten ständig die Überwachungstechnik einbauen und ausbauen.

Eben noch erschien der Jahrhundertfall aus Sicht der Ermittler als nahezu aufgeklärt, plötzlich wirkt er wie festgefahren. Sie können noch immer nicht sicher sein, wer die Täter sind. Sie haben auch nicht die geringste Ahnung, wo die Juwelen versteckt sein könnten. Sie versuchen es mit Durchsuchungen in Berliner Wohnungen, finden aber nichts von Belang.

Der Clan, sagt Ermittler Schmortte im Besprechungszimmer der Gewerkschaft, bunkere Diebesgut oder Waffen in Bankschließfächern oder in Kofferräumen von Autos, die auf unverdächtige Menschen zugelassen seien. „Und wir wissen nichts und kommen da gar nicht ran.“

Das Einzige, was sich im Frühjahr 2020, gut sechs Monate nach dem Raub, mit jedem abgehörten Telefonat zuverlässig verbessert, sind die Kenntnisse der Ermittler in Gangstersprech. „Wir haben uns morgens in unserem Abschnitt irgendwann nur noch mit ‚Salam, Habibi‘ oder ‚Wallah, was geht, Brudi?‘ begrüßt“, sagt Schmortte. Er und seine Kolleginnen und Kollegen der „Soko Epaulette“ müssen einsehen, dass ihre naheliegendsten Verdächtigen sehr vorsichtig und versiert sind. Sehr viel ausgebuffter, als der erste Eindruck von den Tatorten sie hatte glauben lassen.

Die Cousins tauschen untereinander regelmäßig zum Beispiel Pullover, Hosen und andere Kleidungsstücke aus. So entsteht das, was Forensiker Mischspuren nennen. Hautschuppen oder Haare mehrerer Menschen, die sich nicht mehr eindeutig einer Person zuordnen lassen und vor Gericht deshalb als Beweis nur bedingt brauchbar sind. Zudem wird der Clan mit jedem Strafverfahren schlauer.

Im Rückblick sagt Schmortte: „Sie studieren die Ermittlungsakten ganz genau, um unsere Methoden kennenzulernen und sie beim nächsten Mal zu unterlaufen.“

Und weil die Ermittler damals auch mit ihrem Versuch stecken bleiben, die Täter mithilfe von Handydaten zu finden, gehen ihnen allmählich die Ideen aus.

4. Die Wahrheit der Funkzellen
„Wir brauchten einen Sherlock-Holmes-Moment“, sagt Schmortte. Sein Team hat zwar schnell herausgefunden, dass zur Tatzeit nur zwei Handys an jenem Funkmast angemeldet waren, der die Altstadt versorgt. Ein weiteres Telefon loggte sich in der Funkzelle ein, in der die ausgebrannte Tiefgarage liegt. Die Beamten haben die Nummer einer Mobilfunkkarte herausgefunden und die Identitätsnummer der Handys. Allerdings hat ihnen das bisher nicht viel genutzt.

Noch heute glaubt Schmortte, dass die Täter ihre Handys „vor dem Einbruch das erste Mal eingeschaltet und danach wahrscheinlich gleich weggeworfen“ haben.

Auch die Mobilfunkkarten stellen die Ermittler vor Rätsel. Angeblich wurden sie in einem Handyladen in Bochum aktiviert. Dresdner Beamte waren hingefahren, um den Laden zu überprüfen. Aber das Geschäft hat mit den Karten offenkundig nichts zu tun. Es sieht so aus, als hätte jemand sie manipuliert und bei der Aktivierung eine falsche Händlerkennung angegeben.

Die Ermittler wagen deshalb einen Versuch. Sie tun einfach so, als stammten die Mobilfunkkärtchen aller drei zur Tatzeit verwendeten Handys aus derselben Charge desselben Mobilfunkanbieters. In diesem Fall müssten ihre Seriennummern einen Hinweis darauf geben können, wo sie gekauft wurden. In welcher Stadt, vielleicht sogar: in welchem Laden.

Schmortte und sein Team überprüfen daher Funkzellen in Berlin. Und stoßen tatsächlich auf drei Telefone in der Stadt, die zu den Kartennummern passen. Die Nutzer, das stellt sich schnell heraus, sind unverdächtig. Trotzdem schickt die Sonderkommission drei Teams in die Hauptstadt, um die Nutzer mithilfe von Handysignalen zu orten und zu befragen. Als die Polizisten wissen wollen, wo sie ihre Telefonkarten gekauft haben, nennen alle denselben Laden in der Hermannstraße in Neukölln. Die Gegend liegt im Revier der Remmos.

Im Herbst 2020 sind die Dresdner Sonderermittler sicher, genügend Beweise für eine Anklage zu haben. Sie planen die Verhaftung der Verdächtigen und die Durchsuchung von Wohnungen. Ihre Kollegen vom Berliner LKA weihen sie ein, den Einsatz wollen sie aber allein durchziehen. Sie haben Sorge, dass jemand aus der Polizei Informationen an den Clan durchstechen könnte.

Am frühen Morgen des 17. November rollt eine Kolonne aus Dutzenden Mannschaftswagen und Streifenwagen, insgesamt 1638 Beamte, auf der Autobahn in Richtung Berlin. Auch Spezialeinsatzkommandos mehrerer Bundesländer sind beteiligt. An den beiden Hauptorten der Razzia, in Kreuzberg und Neukölln, kreisen zwei Polizeihubschrauber in der Luft.

Schmortte sagt: „An dem Tag haben 30 bis 40 Beamte nur Handys überwacht und live mitgehört. Damit wir mitbekommen, wenn die sich untereinander warnen.“

Die Beamten nehmen Rabieh, Wissam und Bashir Remmo fest. Die Zwillingsbrüder Mohamed und Abdul Majed Remmo können fliehen, doch wenige Wochen später stellt die Polizei auch sie in Berliner Wohnungen. Am Ende sitzt Schmortte mit Mohamed Remmo in einem Gefangenentransporter, der sie beide nach Dresden bringt. Es ist das erste Mal, dass der Kommissar einem der Remmos persönlich begegnet. Bis zu diesem Tag kannte er nur ihre Stimmen von der Telefonüberwachung.

Schmortte sagt, sie hätten viel gesprochen, Mohamed Remmo sei in Plauderlaune gewesen. Nur über die Tat habe er nichts gesagt. „Er war mir nicht unsympathisch. Ich glaube nicht, dass er ein schlechter oder böser Mensch ist.“ Wie Schmortte es sieht, kann man den jungen Männern aus den Clans wenig Vorwürfe machen. Sie würden nur diese Welt kennen, in der sie aufwachsen. Eine Welt der Familienstrukturen und der Ehre.

Die Monate vergehen.

Am 2. September 2021, fast zwei Jahre nach dem Raub, erhebt die Staatsanwaltschaft Dresden schließlich Anklage gegen sechs verdächtige junge Männer aus der Großfamilie Remmo. Allerdings ist eine der wichtigsten Fragen noch offen: Wo ist der Schmuck?

5. Knast mit Wirkung
„Ich habe keine Hoffnung mehr gehabt“, sagt Schmortte in der Geschäftsstelle der Gewerkschaft. Die Juwelen sind auf dem Schwarzmarkt nicht annähernd so viel wert, wie es ihr Versicherungswert von 114 Millionen Euro suggeriert. Sie sind weltbekannt, das macht sie einerseits so kostbar. Da man sie schnell wiedererkennt, sind sie für Diebe als Ganzes nur für den Bruchteil ihres Wertes zu verkaufen.

Während im Herbst 2021 die Vorbereitungen auf den Gerichtsprozess beginnen, glaubt Kriminalhauptkommissar Schmortte deshalb, dass der Schmuck längst zerlegt und verkauft ist. Die Dresdner Soko hatte Juweliere bis nach Rotterdam überprüft. Der Clan der Remmos, sagt Schmortte, habe nämlich eigene Diamantenhändler. Es gebe eine regelrechte Schattenwirtschaft.

Heute, im April 2023, weiß Schmortte, dass er sich getäuscht hat. In gut zwei Wochen will das Landgericht über den spektakulären Fall sein Urteil fällen. Wie die Dinge im Moment stehen, wird es wohl keine Überraschungen geben.

Vier der Angeklagten haben gestanden, dass sie zu den Juwelenräubern von Dresden gehören.

„Das Verfahren gleicht einem Krimi, dessen Drehbuch ständig verändert wird“
Wissam Remmo hat dem Gericht zu erklären versucht, wie er zum Juwelendieb wurde. Noch vor einigen Jahren, sagt er, sei er ein Niemand gewesen. „Der Junge mit Migrationshintergrund, der nix hinbekommt.“ Als bekannt wurde, dass er am Raub der berühmten Riesengoldmünze aus dem Berliner Bode-Museum beteiligt war, habe sich alles verändert. „Plötzlich war ich der Meisterdieb.“ Neue Freunde, neue Bekannte, Kokain. Und da das Geld ihm durch die Hände floss und er sich eine normale Arbeit schwer vorstellen kann, habe er zugesagt, als Verwandte ihn fragten, ob er nicht bei einem Einbruch ins Grüne Gewölbe mitmachen wolle.

Wer diese Verwandten sind, sagt er nicht. Und wie die anderen Angeklagten sagt er auch nicht, wer ihnen half. Schmortte wird den Verdacht nicht los, dass es weitere Hintermänner und Planer gegeben habe, die den Diebstahl vorbereiteten.

Es kam deshalb einer Sensation gleich, als ein Anwalt der Großfamilie im vergangenen Dezember die Dresdner Sonderermittler in seine Kanzlei einlud. Um kurz vor Mitternacht führte er die Polizisten in ein Besprechungszimmer. Auf dem Tisch lag ein Großteil des gestohlenen Schmucks.

Torsten Schmortte sagt, dass die Erklärung wahrscheinlich ganz einfach sei. „Der Knast in Sachsen hat die fertiggemacht.“ Die jungen Männer hätten ausnahmsweise mal nicht in Berlin eingesessen, wo jeder sie kennt und ihnen mit Ehrfurcht begegnet. Sie saßen in Chemnitz, Dresden, Leipzig, Görlitz und Zwickau. Jeder in einem anderen Gefängnis, damit sie sich nicht treffen und absprechen können. Auf einmal nicht mehr ganz oben in der Hierarchie, sondern ganz unten.

Ein Knast im Osten. Juwelen, die sich offenbar nicht verkaufen ließen. Ein Gerichtsprozess, der aufgrund der Ermittlungsergebnisse für die Angeklagten schlecht lief. Das, glaubt Schmortte, seien die wesentlichen Gründe, warum die Remmos den Strafverfolgern einen Deal anboten. Die Juwelen gegen mildere Strafen für die Nachwuchsräuber.

Der Handel stieß auf Kritik, Politiker der Linken und der AfD bemängelten ihn, „Willkommen auf dem deutschen Justiz-Basar“, schrieb die „Bild“-Zeitung.

Schmortte sagt: Ohne diesen Deal „hätten wir die Juwelen nie wiedergesehen“. Allerdings hat er im Lauf der Ermittlungen die bedrohliche Macht des Clans selbst kennengelernt.

Schmortte erzählt davon, wie er und die Sonderermittler einmal einige Sportwagen der Remmos beschlagnahmten und nach Dresden überführten. Sie seien in einer Kolonne gefahren, mit Streifenwagen und zivilen Polizeiautos. Plötzlich habe eine Gruppe teurer Autos sie eingeholt. Darin hätten Männer gesessen, die die Polizisten filmten und fotografierten. „Da hatte ich schon ein unangenehmes Gefühl“, sagt Schmortte.

Er hat sich gefragt, wie weit diese Männer wohl gehen würden. Würden sie bei ihm, einem Polizisten, zu Hause auftauchen? An diesem Tag, sagt er, „habe ich meine Dienstwaffe mit nach Hause genommen“.