Der Hammer hing gleich hinter der Wohnungstür

Wer ist Lina E., die eine linksextremistische Gruppe angeleitet haben soll? Eine WELT-Recherche zeigt, wie sich die 25-Jährige radikalisierte. Zuletzt hinterließ sie kaum noch Spuren, verkleidete sich mit Perücke und Brille. Doch die Ermittler waren trickreich.   Artikel von Ibrahim Naber, Manuel Bewarder, Uwe Müller, Lennart Pfahler

Als Lina E. über die Stufen aus dem Polizeihubschrauber heraustritt, mit Sneakers, knallrot lackierten Fingernägeln und im Rock, da hat sie ihr einstiges Leben wohl schon längst hinter sich gelassen. Die Studentin, vor 25 Jahren in Kassel geboren, hatte sich einst von zu Hause aufgemacht, wie so viele andere Abiturienten jedes Jahr. Sie fing an zu studieren, zog nach Leipzig. Irgendwann radikalisierte sie sich, schlug einen neuen Weg ein.

Vor einer Woche schließlich verhafteten Polizisten E. in ihrer Wohnung. Am nächsten Tag brachten Beamte sie in dem tiefblauen Helikopter nach Karlsruhe, wo ein Ermittlungsrichter den Haftbefehl in Vollzug setzte.

Der Vorgang ist in vieler Hinsicht bemerkenswert. Seit dem Ende der Rote-Armee-Fraktion (RAF) hat der Generalbundesanwalt nur sehr selten Linksextremisten festnehmen lassen. Dann stehen hier erhebliche Vorwürfe im Raum: Lina E. gilt den Ermittlern als Mitglied einer linksextremistischen kriminellen Vereinigung, die den „bestehenden demokratischen Rechtsstaat“ ablehnt. Aus Ermittlerkreisen heißt es, man sehe die Gruppierung gar an der Schwelle zum Terrorismus. Ihnen wird besonders schwerer Landfriedensbruch vorgeworfen. Angriffe vor allem auf politische Gegner, also die radikale Rechte.

Knapp zehn Personen sollen zur Vereinigung zählen, sie kommen aus Sachsen, Thüringen und Berlin. Neun werden in diesem Verfahren als Beschuldigte geführt. Die Behörden bezeichnen sie als „aktive und polizeibekannte Linksextremisten“. Alle sind in der Vergangenheit mit politisch motivierten Straftaten aufgefallen bis auf Lina E. Doch nur sie wurde jetzt verhaftet; und soll laut Generalbundesanwalt sogar eine „herausgehobene Stellung“ eingenommen haben. Bei mehreren Überfällen gilt Lina E., die einen Kleinen Waffenschein besaß, als „Kommandoführerin“.

Recherchen von WELT zeigen, dass sich Lina E. offenbar über Jahre leise radikalisierte; und sich irgendwann ganz gezielt auf Angriffe vorbereitete. Sie führte ein Leben, das wenig Spuren hinterließ. Mit Akribie observierte sie mögliche Angriffsziele. Und selbst wenn man sie erwischte, machte sie weiter. Ihre Sicht auf die Dinge erfährt man zunächst nicht: Ihr Leipziger Anwalt wollte sich auf Anfrage nicht zu den Vorwürfen äußern.
Ihr Name taucht nur selten auf

Lina E. wohnt mitten im Leipziger Szenestadtteil Connewitz, in einem sanierten Altbau. Gleich an der Wohnungstür und neben ihrer Zimmertür fanden Beamten griffbereit Beutel in unterschiedlichen Farben. Darin: Mobiltelefone, Perücken, Hammer. Offiziell gemeldet war E. dort nicht, sie hat bei den Behörden eine Adresse in ihrer Geburtsstadt Kassel angegeben.

Für Ermittler ist das einer von vielen Hinweisen, dass sie sich klandestin bewegte. Die Miete zahlte im Wesentlichen die Mutter. Weder Strom noch Telefon wurden über Lina E. abgerechnet. Eine Telefonnummer hatte sie unter einem anderen Namen angemeldet. Sie tauchte ab.

Als sie im Jahr 2013 ihr Abitur in Kassel machte, war sie laut Mitschülern eine junge Frau, die kaum auffiel. Wer sie damals erlebte, spricht heute davon, dass Lina E. zwar vielleicht einen Hang zu radikal-linken Ansichten hatte aber sonst? Sie habe auf Frauenrechte gepocht, oft auf die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen hingewiesen. Einen Hang zur Antifa habe man bereits verspürt, sie sei auch auf Demos gewesen. Vor allem aber blieb hängen: ein nettes, witziges Mädchen aus geordneten Verhältnissen.

Zum Studieren zog sie weiter an die Martin-Luther-Universität in Halle an der Saale, in Leipzigs Nachbarstadt. Sie interessiert sich für den Rechtsextremismus, schrieb darüber später ihre Bachelorarbeit: „Eine besondere politische Einstellung habe ich nicht bemerkt“, erinnert sich ihr Professor.

Das Thema, das sich E. vorknöpfte, hat mit einem deutschen Trauma zu tun mit dem neonazistischen Terror des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU). Die drei NSU-Mitglieder hatten Anfang der 90er-Jahre ihre Freizeit in einem Club verbracht, in dem „akzeptierende“ Jugendarbeit praktiziert wurde das heißt, dass selbst rechtsextreme Ansichten geduldet wurden. Über ihre Bachelorarbeit schrieb Lina E. schließlich den Titel „Zum Umgang mit Neonazismus in der Jugendarbeit Der NSU im Jugendclub Winzerla“.

Im Jahr 2018 verließ sie womöglich die Universität, fällt dort jedenfalls erst einmal nicht mehr auf. Im Wintersemester 2019 schrieb sie sich für ein Masterstudium ein doch das erfolgt offenbar nur pro forma. Sie belegte ein obligatorisches Einführungsseminar, beteiligte sich aber kaum. „Im Nachhinein erklärt sich mir nun ihre Passivität und auch die unregelmäßige Teilnahme, die mich aufgrund der guten Bachelorarbeit überrascht hatten“, so ihr ehemaliger Professor.

Die Erfahrungen des Professors passen zu den Erkenntnissen, die Ermittler der Soko LinX beim Landeskriminalamt Sachsen im Laufe der Monate zusammengetragen haben. Die Gruppierung soll sich spätestens Anfang 2019 gegründet haben, spätestens im September des Jahres sei E. dazugestoßen.

Es sind verschiedene Attacken, die ihr bislang zur Last gelegt werden. Wie aber wurden diese Ziele ausgewählt?

Die Daten einiger der tatsächlichen und ausgespähten Opfer sind auf einer sogenannten 215er Liste enthalten, die selbst ernannte Antifaschisten unter der Überschrift „Die Täter des 11.01.2016“ ins Internet gestellt haben. Am Rande einer Legida-Demonstration, die im Zentrum Leipzigs stattfand, gelang es damals einer Horde schwarz bekleideter und vermummter Hooligans und Rechtsextremisten, in das im Süden gelegenen Connewitz „einzumarschieren“. Der Mob zerschlug Schaufenster, zündete Sprengsätze und demolierte Autos.

Die Polizei war schnell zur Stelle und kesselte die Gruppe ein, von jedem Einzelnen wurden Personalien festgehalten Personalien, die jetzt in der „215er Liste“ stehen. Im Sommer 2017 wurden erste Urteile gegen die an dem Gewaltexzess beteiligten Straftäter verhängt, lange Haftstrafen ohne Bewährung. Doch diese staatlichen Sanktionen zählen in der Welt von Lina E. und ihren Gesinnungsgenossen nicht. Vielleicht wollen sie selbst für die Bestrafung sorgen.

Im Oktober 2019 soll sie mit zehn bis 15 Personen einen Anschlag auf den Inhaber und Besucher einer Gaststätte in Eisenach verübt haben. Laut Bundesanwaltschaft war die Kneipe als Treffpunkt der rechten Szene ausgewählt worden. Die Räume wurden verwüstet, die Opfer mit Schlagstöcken oder Faustschlägen attackiert. E. soll dabei Reizgas versprüht haben. Auf ihr Kommando hin, so nehmen die Ermittler an, habe man sich zurückgezogen.

Sie wurde erwischt und machte weiter

Nur wenige Wochen danach der nächste Vorfall: Zuerst wurde Lina E. in Leipzig erwischt, als sie in einem Baumarkt Hämmer stahl. E. soll dem Sicherheitsmann dann in den Bauch gestoßen haben, schließlich habe sie sich losgerissen. Sie rannte weg, rief um Hilfe wegen einer angeblichen Belästigung und wurde geschnappt. Stoppen konnte sie dies offenbar nicht. Bereits am folgenden Tag schritt ihre Gruppe offenbar zur Tat: Erneut soll der Betreiber der Gaststätte das Ziel gewesen sein.

Laut Bundesanwaltschaft verfolgten sie ihn und schlugen auf ihn und seine Begleiter mit Schlagstöcken, Hammer, Stangen und Radschlüssel ein. Die Opfer mussten vom Notarzt versorgt werden. Kurz nach der Tat wurde E. mit ihren Kumpanen nach einer kurzen Verfolgung durch mehrere Streifenwagen gestellt. Sie und die anderen wurden kurzzeitig festgenommen. Von nun an hatten die Ermittler die Gruppe genauer im Blick.

Am Auto eines Beteiligten wurde schließlich Technik angebracht, um heimlich den Standort zu ermitteln und Gespräche im Fahrzeug aufzeichnen zu können. Die Observation der radikalen Linken war angelaufen.

Es dauerte ein paar Monate, bis Lina E. erneut aufgefallen sein soll. Im Juni 2020 hätten sie in Leipzig ein mögliches Opfer ausgespäht: einen rechtsextremen Kampfsportler; „zur Vorbereitung eines Anschlags“, wie der Generalbundesanwalt ihnen vorwirft. Erneut habe man akribisch Gewohnheiten des möglichen Opfers nachvollzogen, seinen Wohnort ausgekundschaftet. E. habe dabei Perücke getragen, ihre Schuhe gewechselt, um nicht aufzufallen. Sie besaß auch verschiedene Brillen. Man fand bei ihr zudem einen als gestohlen gemeldeten Personalausweis einer anderen Frau, in deren Rolle Lina E. mit ein wenig Verkleidungskunst schlüpfen konnte.

Schließlich reisten Vertraute aus Berlin nach Leipzig zur „Tatvorbereitung“, wie die Ermittler annahmen. Unter ihnen ein Kampfsportler, womöglich, weil man mit Gegenwehr des Ausgespähten rechnete. So weit ließen es die Sicherheitsbehörden aber nicht kommen sie schritten ein, durchsuchten auch die Wohnung von E. Im Anschluss tauchte einer aus der Gruppe, mittlerweile ein Beschuldigter, unter.

Die Ermittler stehen jetzt vor der Aufgabe, die schwerwiegenden Vorwürfe zu untermauern. Die Szene, vor allem die in Leipzig, ist aufgeschreckt. Viele bekunden ihre Solidarität. Die Ermittler überrascht das nicht: Sie halten die Beschuldigten für gut bekannt und vernetzt. Gerade dies habe auch ihre Gefahr ausgemacht: Sie seien in der Lage, schnell auch auswärtige Unterstützer zu mobilisieren. Und vor Gewalt habe niemand zurückgeschreckt: Sie hätten es darauf angelegt, „potentiell lebensbedrohliche (Kopf-)Verletzungen herbeizuführen“, haben Ermittler schriftlich festgehalten.

https://www.welt.de/politik/deutschland/plus220025984/Lina-E-Details-der-Ermittlungen-zeigen-Brutalitaet-der-Gruppe.html

passiert am 13.11.20