Unser kläglich scheiternder Umgang mit sexualisierter Gewalt

Kontext: Auf dem Medium Instagram wurde vor einigen Wochen von einer Betroffenen (Jo) über einen sexualisierten Übergriff berichtet. Der Übergriff fand während einer lesbischen Datingshow „Princess Charming“ statt. Die Täterin (Wiki, in lesbischen Kreisen auch bekannt als „Consentqueen“) gibt die Tat in einem Video zu. Wochen später wiederruft Wiki ihr Geständnis, veröffentlich angebliches Rohmaterial, was ihre Unschuld bestätigen sollte. Was ich generell von einer solchen Show oder dem Sender RTL halte sei hier mal ganz hinten angestellt, weil es den Rahmen der Thematik sprengen würde.

Das erste und grade sehr öffentliche Fallbeispiel: Die Instagram-Blase um wikiriot. Man möge meinen Wiki und ihre Follower verstünden mehr vom Umgang mit Vorwürfen von sexualisierter Gewalt als die oberflächlichen Parolen.
Wiki gibt im Namen der Accountability ihre Tat zu. Jetzt wiederruft sie ihr Geständnis und veröffentlicht „Rohmaterial“ dass die als übergriffig empfundene Situation zeigen und ihre Unschuld beweisen soll.
Ich sehe die Forderung „immer solidarisch mit Betroffenen zu sein“ und das geschah: Viele solidarisiereten sich öffentlich mit Jo, entscheiden sich von Wiki zu distanzieren. Klasse oder?
Ich finde: völlig oberflächlich! Ihr habt euren „Teil der Arbeit“ NICHT mit einem bloßen „Ich glaube dir“ oder einem „Ich höre zu“ getan.
Uns groß solidarisch und feministisch auf die Jacke schreiben, weil wir einen 3-Wort-Satz sprechen finde ich fatal.
Vorallem wenn wir den Betroffenen gar nicht wirklich glauben… oder nicht bereit sind diese über 3 Worte hinaus zu supporten.
Aus Hilflosigkeit und Sprachlosigkeit heraus greifen nach Veröffentlichung der Vorwürfe alle Wiki an. Wie sie es wagen kann nicht mal eine Hose in ihrem gefilmten Geständnis zu tragen. Die Enttäuschung sitzt tief. Mit Tätern wollen wir nichts am Hut haben. Canceln ist angesagt.

Ich persönlich finde die Veröffentlichung des Bildmaterials von Wiki übergriffig und problematisch dies gleich mit dem Zusatz zu tun, dass man die Kommentarspalte über die Feiertage nicht bedienen würde. Eine Blumenwiese, die Wiki da präsentiert, wäre Victimblaming ein Bienchen.
Für mich ein ziemlicher Schlag ins Gesicht.
Ich versteh vielleicht nicht ausreichend welcher Druck da hinter Wiki steht oder welche Überlegungen es im Vorhinein gab.
Wenn grad kein Raum für Aufklärung da ist, sollte man vielleicht noch 5 Tage warten, bevor man sowas ins Internet ballert. Aber das ist nur mein Gefühl und ich weiß wie schnell auch ich mal unüberlegt handel.

Wir sehen 25min Bildmaterial. 2 Situationen aus je 2 Perspektiven. Wir sehen also 12 min. Ich persönlich finde das sehr wenig und auch verstörend und fragwürdig.
In diesem Beitrag möchte ich aber eigentlich meinen Ärger über angeblich gekonnten Umgang nachgehen und nicht (nur) meine Meinung vertreten. @kindakiri schreibt z.B unter wikis Video; kiri hätte schon gedacht, Wiki zu verlieren. Das Internet ist grausam und Kiri hätte Wiki privat ja auch unterstützt.
Jo wird trotzdem geglaubt, dass es für sie als übergriffig empfunden wurde.
Ich versteh nur Bahnhof! Echt jetzt? Wenige Stunden nach Veröffentlichung des Rohmaterials wieder große Liebe und Solidarität mit wiki.
Was für eine Achterbahn der Gefühle!
Aber grade eine wikiriot sollte doch fähig zu transparenter Aufarbeitung sein?
Ist Canceln wirklich die einzige Solidarität die wir kennen?
Ich finde, es fehlt das Detail: Warum canceln wir? Und wo? Öffentlich? Privat? Wir handeln gar nicht oder viel zu schnell, weil wir alle bloß korrekt sein wollen.
Ich finde gecancelt gehört nur, wer sich für unbelehrbar hält und nicht bereit für Aufarbeitung und Verantwortungsübernahme ist.
Ob Täter sich mindestens für den Zeitraum der Aufarbeitung zurück ziehen sollten? Ich finde schon. Vielleicht auch danach.
Wenn von Betroffenen aber öffentliche Aufarbeitung oder Positionierung gefordert wird, sollte auch dies eine Option sein können.
Was da im Internet grade passiert? Eine richtig widerliche mediale Schlammschlacht und keiner trägt Verantwortung, aber jeder hat ne Meinung. (Ich ja offensichtlich auch).

Ganz klar Betroffenen brauchen Schutz!
Ob Täter trotzdem ein soziales Support-Netz brauchen? Klar. Täter sind Menschen. Und wer oder was soll die Gewalt den lösen und beenden, wenn wir gewalttätige Personen einfach nur rauskicken.
Kiri sollte vielleicht solidarisch sein, aber ehrlich genug uns nicht Distanzierung von Wiki zu präsentieren, wenn Kiri im Privaten „Wiki durch die Zeit gebracht hat“.
ICH als Betroffene möchte keinen geheuchelten Support! Keine öffentliche Distanzierung wenn man im Privaten dann doch mit dem Täter rumhängt. Kein „ich glaube dir“ was nicht wirklich so gemeint ist oder nur dem „Entlasten des eigenen Gewissens dient“.
Ich möchte Ehrlichkeit und Verantwortung von allen Beteiligten. Und genauso von allen Außenstehende die sich jetzt einmischen.
Das Internet hetzt auf allen Seiten, wir kennen nur das oberflächliche Extrem. Vielleicht klingt es doof, wenn ich sage, dass ich Hoffnung hatte wir könnten an „diesem Fall“ lernen. Es gefühlt zum ersten Mal „richtig vormachen“. Ich bin erschrocken.
Wir sind sooo solidarisch und feministisch, aber „wenn es raus kommt“ zerfetzen sich die Feministinnen das Maul als hätten sie Victimblaming erfunden!
Ich lese darüber das „man nicht gewusst hätte, dass die beiden vorher nah waren und das natürlich alles ändert.“. Ich lese darüber, dass man in besagtem Rohmaterial keine offensichtliche Abwehrbewegung von Jo erkennen könnte. „Warum hat sie sich denn nicht gewehrt“. Das Täterschutz 1×1 rauf und runter. Und das von denen, die doch sonst so laut schreien „Nur Ja heißt Ja“.
Der Spiegel bringt einen schrecklichen Artikel raus und benennt „RTL“ zum Schiedsrichter. Nicht wenig nehmen diesen Artikel als „Beweis“ dass kein Übergriff stattgefunden haben kann. Die Leute schreiben die unschönsten Dinge, auf beiden Seiten. Stundenlang lese ich Kommentare von enttäuschten Feministinnen und Konsensqueens, die grade ihre eigenen Ideale mit Füßen treten. Ich möchte am liebsten kotzen!
Aber auch ich tue das. Die Ideale von denen ich träume sind so weit weg von meiner Sozialisierung, dass ich mir am laufendem Band selbst in den Arsch beiße.

Betroffene brauchen ehrliche Solidarität und Raum, der nicht nur Sicherheit heuchelt! Der nicht eigentlich auf das Gegenteil hofft oder im ersten Moment des Zweifels gleich die Seite wechselt.
Steckt euch euer „I believe you“ ernsthaft in den P0.
Ich bin wütend, so wahnsinnig wütend. Und genau da verliere auch ich meinen „Respekt vor Menschen“, den ich doch eigentlich so gerne hoch halte.
Wer wenn nicht ihr, die doch alle hier „educaten“; Die so viel von „accountability“ wissen, sollen vernünftigen Umgang mit solchen Themen haben?
Was ist denn Verantwortung? Das frag ich euch. Kiri, genauso wie Wiki und alle anderen. Wie sehr sind „wir“ verantwortlich? Was tun wir um unser Gewissen zu erleichtern? Löschen wir jetzt schnell unser Soli-Statement zu Jo und „haben doch gewusst das Wiki unschuldig ist“ oder sind wir ehrlich über unseren Umgang, der noch viele Fehler hat und vorallem zu uns selbst.
Wie oft lesen wir uns rein in die Strukturen, die sexualisierte Gewalt schützen oder schreien wir alle nur „no means no“ und denken echt wir hätten es jetzt gerissen?
Ich glaube: würden wir uns als Communitys der Verantwortung stellen würden wir Lösungen finden, die uns weiter bringen, als das was grade passiert.
Wäre Täterarbeit ein bekannteres Konzept müssten wir über „falsche Anschuldigungen“ gar nicht so fetzen. Wir würden in unserer Arbeit als Communitys wohl merken, wenn „an der Geschichte etwas nicht stimmt.“
Als Supportgruppe der Betroffenen Person, als Supportgruppe des Täters.
Wir, als Followerinnen und Freunde müssten Menschen nicht „in die Verantwortung“ drücken oder radikal canceln weil uns klar wäre, wie viele andere Möglichkeiten es gibt.
Wir brauchen Communitys, in denen Betroffene an erster Stelle stehen und geschützt werden. Trotzdem braucht es auch Support für Täter, wenn wir wirklich nachhaltig „Schutz“ erzeugen wollen.
Es schmeckt mir auch nicht, aber Täter sind Menschen, die sich ändern können, wenn sie wollen. Wenn ich daran nicht glaube ist Gewalt für immer endlos und kann nie gelöst werden.

In meinem Text gehe ich wenig auf Jo und andere Betroffene ein. Keineswegs aus mangelnder Solidarität oder mangelndem Mitgefühl. Es tut mir weh, was ich heute gesehen und gelesen habe.
Ich schreibe das hier auch aus Hilflosigkeit, aus Wut, als Ventil. Aber ich schreibe auch in Hoffnung. Allem voran die Hoffnung, dass wir Betroffenen glauben und sie angemessen schützen und unterstützen können.
Das wir Zweifel haben dürfen, so sehr es mir in den Arsch beißt, ist wohl menschlich…
ABER wir wissen wo und wie wir diese äußern oder eben nicht. Ich hab sie nicht, aber ich will sie haben: Die Hoffnung das wir füreinander Verantwortung übernehmen und lernen Umgang zu finden, wo keiner zu sein scheint.
Lasst uns miteinander Lösungen suchen anstatt uns gegenseitig als Problem zu sehen.

Mit der Gefahr einer „Fehlbeurteilung“, aber aus menschlicher Überzeugung: Solidarische Grüße an Jo!

Das Internet ist ein grausamer Ort… aber die Welt da draußen auch! Diese öffentliche Auseinandersetzung ist abstoßend, zeigt aber sehr gut, wo wir auch im Privaten oft scheitern.

Wie wäre es, wenn wir nicht nur suchen wo die Schuld in den anderen steckt – und stattdessen suchen nach der Verantwortung in uns selbst.
Wie wollen wir denn Richter und Henker sein, wenn wir nicht „tief“ mit im Prozess stecken und voller Gefühl sind? Ich fühle viel und weiß oft selbst noch viel zu wenig.
Was mir fehlt in der Auseinandersetzung? Die Tiefe und der Respekt

Diesen Text habe ich geschrieben bevor ich Jos Statement zu Veröffentlichung des Materials gelesen habe. Ich kann noch nicht, aber werde auf dich eingehen. Es tut mir leid, welche Welle von Hass dich grade überschwemmt, weil du nicht still geblieben bist. Es tut mir leid, dass Wiki diesen schrecklichen Moment für uns alle sichtbar ins Internet gestellt hat. Ich kann mir nicht vorstellen, was das bedeutet.
Was ich weiß: Sich Feminist schimpfen, aber Täterschutz betreiben ist nicht nur lächerlich, sondern verantwortlich dafür dass sexualisierte Gewalt passiert und weiterhin passieren kann.
Danke Jo, für deinen Mut und die Offenheit uns teil haben zu lassen

Das angehängte Bild ist der erste Slide von Jos Statement. Das gesamte Statement findet ihr bei Interesse auf Instagram: https://www.instagram.com/p/CmhmutcttON/

 


Anmerkung Kontrapolis: Für mehr Infos zu den Hintergründen und dem ganzen Kontext:

https://www.queer.de/detail.php?article_id=43937

https://www.queer.de/detail.php?article_id=44211

 

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passiert am 23.12.2022