All Refugees Welcome! Echte Solidarität statt selektive Hilfe
Von der Gleichzeitigkeit spontaner Unterstützung und dem rassistischen Grenzregime an Europas Außengrenzen. Und wie wir Solidarität langfristig gestalten können.
Wir sind Menschen, die sich seit mehreren Jahren für die Rechte von Migrant*innen und Geflüchteten im Kampf gegen Ungerechtigkeit und Herrschaft engagieren. Und wir adressieren euch alle: Die in den letzten Wochen Menschen an der Grenze abgeholt habt, eure Wohnung geöffnet habt, Spenden gesammelt habt, Zeit und Energie geopfert habt. – Danke!
Wir sind begeistert davon, wie viele Leute momentan in Reaktion auf den Krieg in der Ukraine solidarisch handeln. Und das ganz selbstverständlich. Innerhalb weniger Tage wurden stabile Netzwerke aufgebaut. Es ist einfach großartig. Belassen wir es jedoch nicht dabei. Lasst uns einen langfristigen solidarischen Prozess gestalten – einen Prozess, in dem wir uns gegenseitig unterstützen und niemand vergessen wird.
Unsere Freude über diese spontane Solidaritätsbewegung wird aber von der Heuchelei der europäischen Regierungen und durch die Selektivität der Solidarität getrübt. Staaten, Parteien, Firmen und offizielle Medien rufen zur Solidarität auf. Das bringt uns zum Kotzen! Nein, die EU ist nicht solidarisch. Sie verfolgt eine rassistische ausschließende Politik. Diese Politik will nur bestimmte Geflüchtete willkommen heißen. Seit Jahren wird die gewalttätige und menschenverachtende Grenzpolitik Europas stillschweigend akzeptiert und sogar gerechtfertigt. Seit Jahren setzten sich Aktivist*innen für eine menschenwürdige Aufnahme von Schutzsuchenden ein. Sie werden dafür kriminalisiert.
Menschen mit ukrainischem Pass dürfen fliehen, Menschen ohne ukrainischen Pass werden an der Grenze von der Polizei rausgezogen. Das ist eine gesetzliche Unterscheidung der EU und von Deutschland. Und jetzt müssen wir entsetzt beobachten, wie manche NGOs diese Unterscheidung mittragen. Sie raten an der Grenze dazu, nur Geflüchteten mit einem ukrainischen Pass zu helfen. Ist das Leben von Geflüchteten mit dem einen Pass mehr wert als das von anderen?
Wo ist die Bereitschaft Deutschlands zur Aufnahme von Menschen, die seit Monaten an der belarussisch-polnischen Grenze verprügelt werden, illegale Pushbacks erleiden und dort erfrieren? Wo ist diese auf dem Mittelmeer, wo seit 2014 über 23.000 Menschen auf der Flucht ertrunken sind? Wie kann es sein, dass Polen zurzeit mit dem Segen der EU eine Mauer an der Grenze mit Belarus baut. Wo bleibt der Aufschrei?
Die fehlende Bereitschaft zur Hilfe und eine abschreckende Grenzpolitik sind Kalkül: die deutsche und viele andere europäische Regierungen haben seit Jahrzehnten das Asylrecht immer weiter ausgehöhlt. Sie haben Menschen in schreckliche Lager gesteckt und abgeschoben. Es sind europäische Länder, die die „Festung Europa“ immer tödlicher machen. Und es sind die westlichen Industriestaaten und Unternehmen, die seit Jahrhunderten die Zerstörung der Lebensbedingungen im Globalen Süden vorantreiben: durch Sklaverei, Kolonialismus und Landnahme, der Ausbeutung der Menschen, dem Raubbau der Ressourcen wie auch durch wirtschaftliche und politische Einflussnahme in Form von Waffendeals, Freihandelsabkommen und Putsche.
Die Oranienplatzbewegung in Berlin und andere selbstorganisierte migrantische Gruppen heben seit langem ihre Stimmen und Fäuste gegen diese imperialen Verbrechen Europas. Sie sagen:
„Wir sind hier, weil ihr unser Länder zerstört habt.“
Damit ist alles gesagt.
Wir sollten nicht vergessen, woher Kriege und Krisen kommen. Die EU spielt weltweit eine bedeutende Rolle in Konflikten und Krisen wie dem Afghanistan-Krieg. Wir sollten auch nicht vergessen, dass dieser Krieg nicht neu ist. Es ist auch nicht der erste in Kontinental-Europa seit 76 Jahren. Jeden Tag ist Krieg. Deutschland ist kein solidarischer Staat, sondern der viertgrößte Waffenproduzent! Die humanitäre Hilfe des deutschen Staates, die Unterschiede zwischen Hautfarben und Reisepässen macht, ist heuchlerische, rassistische und neokoloniale Doppelmoral. Lasst uns dieser entgegentreten und echte Solidarität zu unserer alltäglichen Praxis machen.
Lasst uns gemeinsam gegen diese Heuchelei kämpfen und echte Solidarität zu unserer alltäglichen Praxis machen, jetzt und auf Dauer! Selbstorganisierte Gruppen wie Each One Teach One (EOTO), die sich gerade explizit für die Aufnahme von BIPOC*, Sintize und Romnja*, LGBTQIA+ und TINF* einsetzen, zeigen schon seit langem, wie diese Solidarität aussehen kann.
Wir rufen alle dazu auf, Teil einer größeren und langfristigen Solidaritätsbewegung zu werden – grenzenlos, antirassistisch und staatskritisch! Lassen wir uns nicht gegeneinander ausspielen und instrumentalisieren. Lasst uns mit der Erzählung brechen, dass es legitimen Reichtum und selbstverschuldetes Elend gibt. Lasst uns der Erzählung entgegentreten, Solidarität dürfe nur für bestimmte Menschen gelten. Es gibt weder Schutzsuchende erster und zweiter Klasse, noch illegitime Gründe, die Flucht zu ergreifen. Kein Mensch ist illegal! Migration ist ein Menschenrecht!
Lasst uns zusammen für die gleichen Rechte für alle Menschen kämpfen.
Lasst uns Ressourcen nach Bedürfnissen und nicht nach Kontostand verteilen.
Lasst uns die Rolle von Europa in der Zerstörung der Welt und der Ausbeutung der Menschen reflektieren und daraus unser politisches Handeln aufbauen.
An euch alle, die ihr euch infolge des Kriegs in der Ukraine Solidarität zu eurer eigenen Praxis gemacht habt: bleibt aktiv! Nutzt eure Strukturen, tauscht euch aus, reagiert auf die Aufrufe, kommt mit uns auf die Straße, organisiert euch dauerhaft!
Die Gruppen unter folgendem Link sind seit Jahren am Start und freuen sich auf euch: https://noborderassembly.blackblogs.org/de/netzwerk/
Zusammen und Hand in Hand sind wir stark genug, um eine bessere Welt aufzubauen – ohne Rassismus, Grenzen, Kapitalismus und Unterdrückung!
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Glossar:
BIPOC: Schwarze, Indigene Menschen und andere People of Color
LGBTQIA+: Lesbische, Schwule, bi, trans*, queere, inter*, agender* und asexuelle Menschen
TINF*: trans*, inter*, non-binäre Menschen und cis Frauen