1, 2, 3 neue Indymedias – aber wie?

Wir blicken zurück: 21 Jahre Indymedia. Was ist passiert und was können wir davon lernen? Wie soll sich ein neues Bewegungsportal aussehen? Hier einmal ein paar Gedanken dazu…

Die Geschichte von Indymedia begann – wie viele wissen – in Seattle 1999, als sich großer Protest gegen ein Treffen der Welthandelsorganisation regte, Leute auf der Straße waren und eine Hand von Aktivist*nnen eine Seite bereitstellte, auf den Menschen ihre Geschichte und Erlebnisse auf der Straße erzählen konnten. Die Idee Indymedia und Openposting war geboren. Viele Indipendent Media
Centers (IMC) gründeten sich überall auf der Welt und vernetzten sich.

Was waren die ursprünglichen Ziele?

In den ersten Jahren war Indymedia vor allem ein Ort der Gegenöffentlichkeit von Aktivist*nnen für Aktivist*nnen. Alle sollten einfach und niederschwellig Zensur umgehen und Inhalte verbreiten
können. Das Internet war wirklich noch Neuland. Nur Checker (ja, meist männlich) konnten Inhalte ins World-Wide-Web (www) stellen und verbreiten. Es gab eine Hegemonie der corporate Media – Radio,
Fernsehen und Zeitung -, die nach belieben die Infos der Regierung unkritisch reproduzieren konnten und dies blieb bis dato unwidersprochen. Deshalb machten sich die Aktivist*nnen vermehrt ans Werk, überall auf der Welt ebensolche IMCs zu gründen. Der zentrale Ansatz von Indymedia ist, dass niemand die objektive Wahrheit oder die absolute Realität kennt. Dies wird jedoch von der klassischen
Medienzunft immer noch so behauptet und dies ist auch weiterhin eine offene Flanke, die nun rechte selbsterannte Medienkritiker*innen ausnutzen. Indymedia stellt dem Konzept der kommerziellen Medien
die Summe von vielen subjektiven Berichten und Informationen gegenüber, aus denen sich der/die mündige Nutzer*in ein Bild machen kann. Dies setzt aber voraus, dass die Nutzer*nnen in der Lage sind, das zu bewerten. Daraus resultiert ein – jedoch eher mäßig umgesetzter – Anspruch an die lokalen Gruppen, auch Weiterbildung zur Selbstermächtigung und Selbstbestimmung im Umgang mit Internet und den Medien zu organisieren und regelmäßig zu veranstalten. Die IMCs waren weltweit sehr unterschiedlich aufgestellt. In den USA waren die Strukturen oft sehr transparent, Gruppenmitglieder waren allen bekannt, sie operierten mit heruntergelassenem Visier. In Europa hingegen kamen
Aktivist*nen häufig aus dem autonomen Spektrum und operierten eher klandestin. Wichtig war aber allen, in einem großen Netzwerk zu operieren. Es kann sich heute niemand mehr vorstellen, dass zeitweise über hundert IMCs in großen (selbst gehosteten) Mailinglisten zusammen diskutierten, IRCs betrieben haben und ein eigenes Wiki hatten, auf dem Wissen geteilt wurde und Arbeitsmaterialien bereitlagen. Lange Jahre besaß das Indymedia-Netzwerk sogar einen eigenen Mailserver. Ein wichtiger Punkt war immer die Umkehr der Konsument*nnen- in auch eine Produzent*nnen-Rolle des/der Nutzer*in.
Mensch sollte nicht nur lesen, sondern auch selbst hin und wieder was schreiben. Nüchtern betrachtet war die Basis für all diese emsigen Aktivitäten das innovative Konzept, dass alle ohne Anmeldung und ohne viel Kenntnisse Inhalte im Internet veröffentlichen können.

Höhepunkte

Als Höhepunkte der Indymedia-Geschichte kann man (sehr subjektiv natürlich) auf Kampagnen verweisen, bei denen Aktivist*nnen in Büros Informationen der Proteste gegen die Münchner Sicherheitskonferenz telefonisch zusammentrugen und zu einem Special verarbeiteten, das minütlich aktualisiert wurde. Der Artikel war so gut, dass die lokalen Zeitungen die Informationen einfach statt der Agentur-Meldungen übernommen hatten. Im Rahmen dessen, fanden sich Videoaktivist*nnen zusammen, welche die Gewalt der Polizeit auf den Straßen dokumentierten und vor Ort in einem temporären IMC schnitten und
veröffentlichten. Zu den Protesten in Genua gab es einen Indy-Radio-Stream. Lange Jahre wurden Video-Newsreals, sprich Videoclips über Proteste und soziale Bewegungen, herausgebracht und per CD und Videokasetten veröffentlicht. Sehr unregelmäßig schaffte Indy auch den Sprung in die Druck-Welt: Es wurden indy-Printausgaben kopiert und verteilt.
Entwicklungstechnisch beeindruckend war, dass in den USA ein selbst entwickeltes Content Management System (CMS) namens SF-active (SF=San Francisco) zum Einsatz kam. In Europa wurde auf das Java basierte Mir (wie die Raumstation) gesetzt, welches bis 2014 bei de.indymedia.org im Einsatz war.
Sowohl linksunten als auch de.indymedia.org setzten dann aber das frei verfügbare und ausgereifte OpenSource-CMS drupal ein, verzichteten also auf eine eigene Entwicklung.

Niedergang

Der Niedergang des Indymedia-Netzwerks vollzog sich schleichend mit dem Aufkommen der Weblogs oder Blogs mitte der Nullerjahre. Viele Gruppen veröffentlichten nun ihre Stories und Mobilisierungen auf den Blog-Seiten kommerzieller Betreiber, die sie individuell gestalten konnten und unterlagen keiner Moderationspolitik. Der Kapitalismus übernahm das Konzept des Openpostings – jedoch nach seinen eigenen Spielregeln und hübscher sowie bunter als Indymedia. Leider gingen auch solche Betreiber wieder, weshalb viele Geschichten, welche auf diesen Plattformen von unseren Genoss*nnen veröffentlicht wurden, für immer verschwunden sind. Schließlich kam es zu dem Aufstieg der sogenannten sozialen Medien. Hier wurde die Idee der Umkehr von der reinen konsumierenden in eine auch produzierenden Rolle perfide umgesetzt: Die Nutzenden sind die Inhalte produzierenden, die Werbetreibenden die Kund*nnen. Kapitalismus in der Perfektion. Viele Gruppen und Aktivist*nnen wurden von der Mobilisierungsfähigkeit dieser Medien überzeugt und nutzen diese nun überwiegend für diese Zwecke.

Analyse

Indymedia hätte spätestens beim Aufkommen der Blogs auf die Bremse treten, in Klausur gehen und sich eine neue Form geben müssen. Statt wieder ein neues CMS aufzusetzen und anzupassen, hätte Indymedia sich die Bedürfnisse der Szene und die Anforderungen in der Medienwelt sowie das Konsumverhalten der Menschen ansehen müssen.
Heute ist nicht mehr die Zensur das zentrale Problem. Selbst autokratische Staaten schaffen es nicht mehr vollständig, Inhalte zu unterdrücken. Ganz im Gegenteil ist heute eher zu beobachten, dass Inhalte nicht mehr gefunden werden, da die Informationsflut und das Rauschen sehr groß ist. Jeder Mensch kann heute Zugriff auf Plattformen nehmen und Inhalte veröffentlichen – auf sozialen Medien natürlich unter den bekannten Prämissen – und damit sogar eine große Reichweite erzielen.
Jedoch verwechseln Leute immer noch oder zunehmend wieder das Recht auf Meinungsfreiheit mit dem Recht, dass alle meiner Meinung sein müssen, d.h. dass es eine absolute Wahrheit oder richtige Meinung gibt. Dies kann als Versagen der Indymedia-Bewegung gesehen werden, die sich ja zum Ziel gesetzt hat, Menschen mit dem Umgang mit Medien zu bilden. Jede neue Indymedia-Nachfolge-Bewegung muss sich darum kümmern. Alles andere wird scheitern.
Und ja, natürlich hat Indymedia nicht die Ressourcen, das CMS so aufzubauen, dass es in allen Facetten perfekt funktioniert und es den Nutzer*nnen spielend leicht die Inhalte abnimmt. Es kann selbstredend nicht so in dem Maße technisch mithalten wie ein System eines Hundertmilliarden-Dollar-Techunternehmens. Aber de.indymedia.org etwa (aber auch linksunten) hätte sich ruhig etwas mehr zutrauen können beim Neustart, die Seite moderner zu gestalten. Indy konkurriert mittlerweile eben mit anderen Plattformen, ist nicht mehr alleine auf weiter Flur wie 1999. Vielleicht hätte mensch mit Webdesigner*nnen Rücksprache halten und moderne Strategien und Designelemente integrieren, neue Wege gehen, mehr Dinge umstellen sollen.
Beispielsweise haben sie Anwendungsfälle der Nutzer*nnen seit Beginn von Indy verändert. Im Jahre 2000 hatten Aktivist*nnen noch keinen kleinen PC – aka Smartphone – immer dabei, sondern mussten zum Schreiben eines Artikels nach Hause. Kein IMC hat heute beispielsweise eine Smartphone-App. Das widerspricht aber den Bedürfnissen auf der Straße: Die Leute machen Photos, Videos, Stories und wollen diese ihren Genoss*nnen teilen. Die Leute sind es gewohnt, bestimmten Nutzer*nnengruppen – Peergroups, Gruppen, Interessierte, Umfeld… – Infos zu schicken. Und zwar instantan und ohne Bruch des Mediums. All das sollte ein modernes Indymedia können. Aber auch inhaltliche Änderungen der Artikel lassen sich feststellen. Ob nun die Nutzung der
kommerziellen sozialen Medien die ((i))-Nutzer*nnen beeinflusst oder nicht, kann ich nicht sagen, aber die Artikel auf de.indymedia.org werden in der Regel seit vielen Jahren kürzer und weniger gut recherchiert. Es finden sich mittlerweile sehr wenig gute Hintergrundartikel auf der Seite – im Gegensatz von vor 15 Jahren. Ausserdem besteht vermehrt der Wunsch, Termine – sprich Mobilisierung – zu veröffentlichen. Und ein seit Jahren geführter Streit wurde nie richtig ausgefochten: Die Veröffentlichung von Nazi-Outings ist seitens der treuen Antifa-Bewegungn ein Herzenswunsch. Jedoch ist eine Openposting-Plattform (aus mehreren Gründen: Mangelnde Suche, Repressionsdruck, Fake-Outings…) ein sehr ungeeigneter Ort, diese Inhalte aufzunehmen. Hier hätte schon seit Jahren ein Lösung gefunden werden müssen.
Von der in den Mitte der 2000er-Jahren postulierten „Qualitätsoffensive“ ist nicht viel übrig geblieben. Das Moderator*nnenkollektiv von de.indymedia.org wollte ein qualitativ anspruchsvolleres linkes Medienportal forcieren, auf dem die Inhalte auch mehrheitsfähig sein sollten. Szenesprache sollte eher in den Hintergrund treten. Das danach gegründete linksunten-Kollektiv setzte dagegen auf die Szene, hatte mit Szenesprache und der Ausrichtung auf ein spezifisches Publikum kein Problem und war damit dann auch die erfolgreichere Seite. Sprich: Scheinbar ist in der linken Bewegung der Wunsch nach einem qualitativ hochwertigen Medium da, aber nicht nicht in der Mehrheit. Auf einer Seite bekommt mensch das aber nicht unter einen Hut. Die Seite wirkt entweder für die Szene oder für einen breiteren linken Gesellschaftsteil.
Von den ursprünglichen Zielen übrig bleibt die unkommerzielle Openposting-Seite von Aktivist*nnen für Aktivist*nnen, ein Graswurzel-Medienportalm, welches in die linke solidarische Gesellschaft wirkt.

Aktuelle Situation

In den letzten Monaten mussten alle feststellen, dass die Struktur zumindest von de.indymedia.org nicht mehr mit den Angreiferseiten Schritt halten kann. Sie war sehr oft offline und wird das vermutlich in Zukunft noch viel öfter sein. linksunten wurde dagegen schon vor drei Jahren offline genommen. Weltweit gesehen existieren nur noch sehr wenige IMCs. Die Netzwerkstrukturen sind nur noch im Rumpf vorhanden (Emaillisten, Chat…). Daraus lässt sich schließen, dass Repressionsschutz und Ausfallsicherheit für Neugründungen sehr wichtige Punkte sind.
Jedoch bilden einige Reststrukturen der Indy-Hochzeit noch das Rückrat linker Infrastruktur. Daraus haben sich auch neue Organisationen entwickelt wie etwa Technik-Kollektive.

Dies kann aber auch ein Fortschritt bedeuten: Heute müssen nicht mehr Politaktivist*nnen hemdsärmlig ein CMS zusammenstöpseln, sondern können Techkollektive um Hilfe bitten. Es sollten die Bedürfnisse der Bewegung zusammengetragen, mit Hilfe von Design-Kollektiven designed und von IT-Kollektiven technisch umgesetzt werden.

Ausblick

Basierend auf dieser (natürlich wieder sehr subjektiven Sichtweise eines Indy-Aktivisten mit x Jahren Erfahrung) lassen sich folgende Postulate aufstellen für etwaige Indymedia-Neugründungen:

  • Unkommerzielles Openposting ohne Datenlogging und -Verkauf ist zwingend notwendig. Aktivist*nnen müssen von den kommerziellen social Media Plattformen abgeholt werden.
  • Die Plattform muss attraktiv gestaltet und intuitiv bedienbar sein, damit die Bewegung sich damit identifiziert. Hier muss sich Designer*nnen zusammengesetzt werden.
  • Inhalte müssen „von der Straße aus“ / mobil erstellbar und zugreifbar sein
  • Zielgruppen müssen adressierbar sein (für Mobilisierung etwa)
  • Es muss eine Lösung für Nazi-Outings gefunden werden
  • Repressionsschutz ist unabdingbar. Dies kann nur mit verteilten redundanten Strukturen (federierte Systeme)  erzielt werden.
  • Gleiches gilt für die DDOS-Schutz
  • Die Bildung muss wieder mehr im Vordergrund stehen
  • Qualitätsoffensiven o.ä. müssen aus der Bewegung kommen und nicht vom Moderator*nnen-Kollektiv
  • Vor allem müssen die relevanten Bewegungen unserer Zeit mit ins Boot geholt werden und deren Bedürfnisse abgebildetet werden.

Fazit:

Vielleicht wäre es nötig, über ein Messenger-Konzept nachzudenken, welches dann eine / viele statische Archiv-Homepage(s) speist. Ein federiertes Mastadon (o.ä.) -Netzwerk bildet das Rückrat.
Darüber werden die Inhalte eingespeist. Viele Bewegungen und Gruppen (Autonome, Postautonome, FFF, XR, Ende Gelände, CCC, Hacker, …) bringen solche Knoten ein, die dann auch ggf. unterschiedliche (Schwerpunkt-) Inhalte bereitstellen und Nutzer*nnengruppen ansprechen. Da das Netzwerk von vielen verschiedenen Gruppen betrieben wird, ist eine Repression sehr viel schwieriger. Das wäre wieder innovativ – so wie vor 21 Jahren.

Gefunden auf Indymedia: https://de.indymedia.org/node/111278

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