Keine Anklage nach Besetzung
Prozess nach Räumung in der Habersaathstraße eingestellt
Mit großem Applaus empfangen etwa 40 Menschen, die sich am Montagmittag vor dem Berliner Amtsgericht versammelt haben, Julian W., der seinen vollständigen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Gerade hat er erfahren, dass die Anklage wegen schweren Hausfriedensbruchs gegen eine Auflage von 360 Sozialstunden eingestellt wurde.
Julian W. war vorgeworfen worden, am 29. Oktober 2020 an der Besetzung eines Gebäudes in der Habersaathstraße 46 in Mitte beteiligt gewesen zu sein. W. hat das nie bestritten. Für das Gericht hat er eine Erklärung vorbereitet, die er eigentlich im Prozesssaal vorlesen wollte. Er bringt sie nun den Unterstützer*innen vor dem Gebäude zu Gehör. Julian W. berichtet von der Geschichte des Gebäudekomplexes Habersaathstraße 40 bis 48, das 1984 mit öffentlichen Mitteln als Schwesternwohnheim errichtet und 2006 für zwei Millionen Euro privatisiert worden war. 2017 wurde das Haus an die Arcadia Estates für das Zehnfache weiterverkauft. Mitte 2018 stellte der Eigentümer Andreas Pichotta einen Antrag auf Abriss des Plattenbaus. Dafür sollten dort teure Appartements entstehen. Das Bezirksamt will die Gebäude aber als schützenswerten Wohnraum erhalten. Seitdem beschäftigt die Angelegenheit die Gerichte. Die Häuser indes stehen zum Großteil weiter leer, allen Mieter*innen wurde gekündigt. Einige wohnen allerdings bis heute in dem Gebäudekomplex und haben sich zur Interessengemeinschaft Habersaath zusammengeschlossen. 95 von den insgesamt 105 Wohnungen wären sofort bezugsfertig, wie sich am 29. Oktober 2020 herausstellte, als Wohnungslose mit Unterstützung von Stadtteilaktivist*innen die Besetzung durchführten.
»Der Winter kündigte sich an, und in Pandemiezeiten war der Appell erneut: Bleibt zu Hause. Das ist aber ohne Wohnung schwer zu erfüllen«, schildert der Aktivist die Hintergründe der Besetzung, die ihm die Anklage eingebracht hatte. Geräumt wurde nach wenigen Stunden. Mehrere der Menschen, die sich gerade in dem Haus eingerichtet hatten, müssen bis heute auf der Straße leben.
Valentina Hauser von der Stadtteilinitiative »Leerstand habe ich saath« erklärt im Gespräch mit »nd«, es sei ein konkreter Erfolg, dass die Anklage wegen schweren Hausfriedensbruchs vom Tisch ist. Es sei zugleich ein Skandal, dass die Gebäude in der Habersaathstraße weiter leer stehen. »Leidtragende sind die Wohnungslosen, die erneut in einem Corona-Winter auf der Straße leben müssen.«
Dem stimmt Daniel Diekmann, einer der verbliebenen Mieter in der Habersaathstraße zu. »Ich bin hier, weil ich dem Angeklagten den Rücken stärken will«, sagt er zu »nd«. Die verbliebenen Mieter*innen fordern wie er, dass die Häuser wieder bewohnt werden. Sie haben kein Verständnis dafür, dass sich der Eigentümer mit juristischen Mitteln dagegen wehrt, dass das zuständige Bezirksamt das Gebäude als schützenswerten Wohnraum sieht und erhalten will.
Der Gebäudekomplex in der Habersaathstraße ist zum Symbol für Leerstand von Wohnraum aus Profitgründen geworden. Doch es ist kein Einzelfall, betont ein Aktivist der Initiative Mietenwahnsinn Nord. Diese macht seit Monaten auf den Leerstand in Wedding und Moabit aufmerksam und hat eine Petition mit der Forderung gestartet, Wohnraum sinnvoll zu nutzen.
An diesem Freitag, dem 10. Dezember, organisiert die Initiative darüber hinaus ab 13 Uhr eine Kundgebung vor einem leer stehenden Haus in der Schulstraße, Ecke Maxstraße im Wedding.
Peter Nowak