Bericht von der Anarchistischen Buchmesse in Valparaíso und Anarchistischem Kongress in Santiago (Chile) im Oktober 2025
Bericht von der
Anarchistischen Buchmesse in Valparaíso und
Anarchistischem Kongress in Santiago (Chile) im Oktober 2025
Siembra Rebeldia – Cosecha Libertad
Sät Rebellion – erntet Freiheit
Die 4.Anarchistische Buchmesse in Valparaíso unter dem Titel „Entlarven wir die neoliberale Stadt“ fand am 4.Oktober im besetzten Zentrum Katarcis in Valparaíso statt. Circa 100-150 Leute beteiligten sich an dem vielfältigen Programm, wobei angemerkt werden muss, dass am Eröffnungstag Zivibullen in der Nähe der Buchmesse vereinzelt die Personalien von Anreisenden kontrollierte.
Dazu zählten Buch- und Fanzinevorstellungen mitsamt Diskussionen insbesondere zum Thema neoliberale Stadt. Eine Buchvorstellung (Historia de la vivienda social en chile, siglo XX) thematisierte die Wohnungssituation, inklusive den Besetzungen von Land, um Wohnungen und Häuser zu errichten, in Chile vor allem in den 50er und 60er Jahren, kontextualisiert in der Vor-Allende-Zeit. Bis heute gibt es Besetzungen, wobei die jetzige Boric-Regierung in der Stadt Santiago alle größeren Besetzungen hat räumen lassen. Die letzte Aneignung von Land, La Dignidad (in dem Großraum Santiago), im Zuge der Revolte 2019 besetzt und wo über 2000 Personen (davon ca. 500 Kids) lebten, wurde am 9.Oktober geräumt. Vereinzelt gibt es noch Besetzungen, aber vor allem von Sozialen oder Kulturellen Zentren, wie z.B. in dem kämpferischen Stadtteil Villa Francia.
Die Diskussionsveranstaltung mit dem Hauptthema des Kongresses „Entlarven wir die neoliberale Stadt“ beinhaltete Reflexionen und Fragen aus anarchistischer Perspektive zum Wohnen in der neoliberalen Stadt, und ging auf Erfahrungen von Besetzungen sowohl privater als auch staatlicher Räume ein.
Des weiteren gab es Workshops zu kreativem schreiben, Lay-out Gestaltung sowie vorgetragene Poesie und Konzert. Ein Highlight war natürlich die Büchermessen, an der über 20 Verlage, Grafikkollektive sowie vier Bibliotheken und das Anarchistische Plenum Valparaíso teilgenommen hatten. Thematisch ging es vor allem um politische Gefangene (anarchistische, linksradikale sowie Mapuche Gefangene, anti-koloniale Kämpfe, vor allem der Mapuche für die Befreiung von Wallmapu, militante und bewaffnete Auseinandersetzungen weltweit, dazu zählen auch Bücher über Gruppen wie die VOP (Vanguardia Organizada del Pueblo), die auch während er Allende Zeit aktiv waren (1968-1971) sowie die FPMR (Frente Patriótico Manuel Rodríguez), die am 7.September 1986 versucht hatten, den Diktator Pinochet durch ein Attentat zu töten. Des weiteren gab es Material zu anarcha – feministischen und allgemeinen anarchistischen Kämpfen, Perspektiven und Ideologien.
Das Essen wurde von den Kollektiven Anarchistische Bibliothek Lecheros und der Soligruppe für Felipe Ríos zubereitet. Felipe Ríos ist ein anarchistischer Gefangener, der zu 12 Jahren verurteilt wurde, aufgrund der Beschuldigung an einem tragischen Vorfall beteiligt gewesen zu sein, bei dem während einer Demo und den Riots am 21.Mai 2016 in Valparaíso gegen den Besuch der Präsidentin Michelle Bachelet durch den Einsatz eines Molotovcocktails ein Feuer in einem Gebäude ausbrach, das zum Tod des 71-jährigen Arbeiters Eduardo Lara führte.
Seit 5 Jahren sitzt er im Knast, nachdem er 2018 verurteilt und nach 2 Jahren auf der Flucht 2020 festgenommen worden war. Am 30. September 2025 schrieb er aus dem Knast:
“Im Juli 2025 war ich seit fünf Jahren im Gefängniskomplex Bío-Bío Ala Norte inhaftiert.
Vor einem Jahr hörte die Schikane auf, nur administrativer Natur zu sein, und wurde physisch und psychisch, begleitet von einer Reihe von Sanktionen, die mir den Zugang zu einer Verlegung nach Santiago erschwert und mich daran gehindert haben, mich für „Vorteile” wie Freigang zu bewerben. Inmitten dieser Situation möchte ich mich bei denen bedanken, die mich begleiten und die mich in Zeiten der Illegalität und Inhaftierung begleitet haben.
Es waren lange Reisen von Santiago und Valparaíso nach Concepción. Sie haben die Kälte des Morgengrauens und den Regen ertragen, zusätzlich zu der feindseligen Behandlung durch die Gefängniswärter, während sie in langen Schlangen standen, um das Gefängnis zu betreten.
Das Gleiche gilt für die Genoss*innen aus dieser Gegend von Concepción, die mich mit ihrer Kreativität und Überzeugung in diesen fünf Jahren begleitet haben. Es gab anstrengende Tage für euch, Tage, an denen die Zeit knapp war, und dennoch habt ihr es geschafft, dabei zu sein.
Während der Besuchszeiten einen Mate oder Tee zu trinken, ein paar Worte über das Leben auf der Straße zu wechseln und Ideen auszutauschen, ist am Ende das Schönste der Woche, es ist wie ein Hauch frischer Luft, wenn man das Gefühl hat, keine Luft mehr zu bekommen.
Ich hoffe, dass keinem vom Staat entführten Gefährt*innen ein Unterstützungsnetzwerk fehlt, ich hoffe, dass alle jemanden haben, der ihnen das Sonnenlicht und den Wind der Berge in ihre Haftanstalt bringt. Ich träume immer noch davon, dass sich die politischen Gefangenen zusammenschließen, dass sich alle antagonistischen politischen Netzwerke zusammenschließen, um die Tentakel des Staates/Kapitals aus unserem Leben zurückzudrängen und für die Freilassung aller entführten Gefährt*innen zu kämpfen. Eine brüderliche und revolutionäre Umarmung an jede/n Genoss*in, der sich die Zeit genommen hat, mich zu besuchen, und an jeden, der aus der Ferne Solidarität gezeigt hat. SOLIDARITÄT UND MITWISSEN MIT DEN GENOSSEN IM UNTERGRUND DES ANARCHISTISCHEN KAMPFES“ 🏴 (Felipe Rios)
Insgesamt gibt es circa 150 politische Gefangene in Chile, darunter zählen sowohl anarchistische als auch linksradikale Gefangene wie zum Beispiel Ramiro von der FPMR sowie 102 politische Gefangene der Mapuche (wie z.B. Rafael Pichún Collonao, Mitglied von CAM – La Coordinadora de Comunidades en Conflicto Arauco-Malleco).
Dazu gäbe es die Buchempfehlungen (bisher leider nur in spanisch) Chem Ka Radiduam- Pensamiento y acción de la CAM und Maw Kurruf Duguy Werken Kinewunngetuael – Rafael Pichún Collonao (spanisch und Mapudungun).
https://lapeste.org/valparaiso-4a-feria-del-libro-anarquista-4-octubre/
Der IV. Internationale Akademische Anarchistische Kongress fand vom 8. bis 11.Oktober an der Universität von Santiago mit der Teilnahme von circa 200 Personen statt. Wie schon im titel sichtbar hatte dieser Kongress einen eher akademisches Format, zählte jedoch mit der Teilnahme zahlreicher anarchistischen Aktivist*innen. Der Ort innerhalb der Universität wurde kurzfristig verscchoben, weil Studierende Teile der Universität, darunter das Rektorat besetzt hatten. Die Studis verbarrikadierten die Eingänge, die Tag und Nacht bewacht sind und fordern u.a. die Absetzung des korrupten Uni-Präsidenten Rodrigo Vidal, kostenlose Bildung für alle sowie einen Plan zur Renovierung veralteter Infrastruktur an den Unis und Schulen. Das chilenische Bildungssystem ist teilweise privatisiert.
Insgesamt gab es über 30 thematisch zusammengestellte Diskussionen und Debatten sowie einige Buchvorstellungen. Zu den Themen zählten u.a. Anarchismus und Feminismus angesichts der Ultra-Rechten, Anarchismus, Kunst und Gegenkultur, Anarchismus und politische Gewalt, Anarchismus, Anarchosyndikalismus und Arbeiter*innen Bewegung, Anarchismus und theoretische Perspektiven, anarchistische Bildung und Pädagogik, Repression, Militanz, Anarchismus, Dekolonisierung und Indigenas, Anarchismus – Bibliotheken und Archive, Anarchismus, Gender und Sexualität sowie Anarchismus, Geografie und urbane Konflikte, um nur einige zu nennen.
Das Format war leider etwas zu akademisch angelegt, jedes Thema wurde durch 3 oder 4 zum Teil nicht zueinander passenden Vorträgen präsentiert. Danach folgten Fragen erst an die Vortragenden, Diskussionen mit allen entstanden so kaum, alles wirkte etwas zu statisch. Trotzdem gab es sehr interessante Vorträge und spannende Inputs.
So ein Beitrag zu anarchistischen Zeitungen, von denen einige aber nicht mehr existieren (wie El Surcu 2009-2013, Solidaridad 2012-2017, Acracia 2011-2019 oder Confrontación 2019 2021). Noch am Start sind Tinta de Fuga, speziell über Gefangene das Knastsystem (seit 2021), El Sol Ácrata (seit 2012) oder die anarcha–feministische, anti-patriachale, antispeziesistische Zeitschrift La Zarzamora (seit 2022) oder die internationale Zeitschrift Kalinov Most mit vielen Artikeln zu Chile (seit 2017). Wie überall weltweit damit konfrontiert, das vermehrt in Social Media publiziert und gelesen wird und somit Printmedien weniger gelesen werden.
Interessant auch der Beitrag zu den Zerstörungen von Kolonialdenkmäler wie Cristóbal Colón, Pedro de Valdivia oder Manuel Baquedano als anarchistische Praxis in Chile und im spanischen Staat. (2019-2021). Vor allem in der Revolte ab dem 18.Oktober 2019 wurden etliche Denkmäler, Gedenktafeln etc. angegriffen, und einige wurden komplett zerstört oder verschwanden sogar, wenn es möglich war, sie zu tragen. Auch die Umbenennung und Wiederaneignung von Orten und Plätzen war Teil dieser Praxis. Der Platz Italiens wurde zum Plaza Dignidad (Platz der Würde). Auch zählte dazu die Aufstellung vom Mapuche-Monumenten als Antwort auf die Kolonialisierung ihrer gebiete. So war der Rewe, ein Totem oder ein in den Boden gerammter, abgestufter Baumstamm, der die Verbindung zum Kosmos symbolisiert auf dem Platz der würde während der Revolte 2019 aufgestellt. Der Rehue ist ein Symbol von großer Bedeutung, das bei wichtigen Feierlichkeiten wie dem Machitún, Guillatún, We Tripantu (Neujahrsfest der Mapuche) und anderen verwendet wird.
Anti-koloniale Praxen wie diese sollten auch in allen europäischen Ländern, und natürlich auch in Deutschland (BRD) vermehrt stattfinden.
In diesem Zusammenhang wurde auch das Buch Alebrijes Anarchicos – anarquismo, praxis anticolonial y autonomia en america latina (Anarchistische Alibrijes – Anarchismus, anti-koloniale Praxis und Autonomie in Lateinamerika), in dem anarchistische Praxen und Lebenswelten von indigenen Gemeinschaften skizziert sind, vorgestellt. Dadurch wird die „Ursprünglichkeit“ des europäischen Anarchismus in Frage gestellt – vielmehr könnte stattdessen der Anarchismus die kommunale und nicht-staatliche Autonomie als Grundlage im komplexen Geflecht sozialer, ökologischer und interkultureller Beziehungen in Betracht ziehen.
Der Debattenbeitrag zu staatlicher Repression gegen Anarchist*innen, historisch in Bolivien (1940-1960) oder Argentinien und Spanien (1894-1910), sowie aktuell am Beispiel Mexiko zeigte auf, wie der Staat auf stärker werdenen Bewegungen mit Kontrolle, Verfolgung, Knast und Kriminalisierung reagiert. Da lassen sich selbstverständlich Parallelen zu allen Staaten der Welt ziehen. In Chile selbst existieren unter dem sozialdemokratischen Präsidenten Gabriel Boric, bzw. wurden von ihm eingeführt, eine Reihe von repressiven Gesetzen wie z.B. das Gesetz gegen Barrikaden (2020), das Gesetz gegen Besetzungen (2023, Anti-Tomas), Das Gesetz gegen Plünderungen, Das Gesetz Antiterrorismus (2025) sowie die Militarisierung mit dem Einsatz der Armee und der erklärte Ausnahmezustand (Estado de Excepción) in Wallmapu seit 2015.
In dem Beitrag Anarchismus, Gender und Sexualität, in dem es um Feministinnen und Anarchistinnen in Chile und Argentinien in dne 20er und 30 er Jahren , sowie um libertäre Utopien und die Kommune (Freie Liebe und Revolution) Comunidad del sur in Montevideo von 1955-1975 ging, wurde auch Kritik an der cis-männlich dominierten Struktur des Kongresses geübt.
Die Podien waren überdurchschnittlich mit Männern besetzt, und einzelne Männer haben, wenn sie selbst nicht Vortragende waren, haben sie dann in ihren Wortmeldungen viel zu lange geredet, eigentlich eher Ko-Referate gehalten. Eine eingreifende Moderation wäre hier hilfreich gewesen.
Und wenn es dann um Themen wie Feminismus oder anti-patriachale Kämpfe ging, waren die Podien wiederum nur ausschließlich von Frauen besetzt. Dabei sollten diese Themen in alle Podien und Debatten und Diskussionen automatisch miteinbezogen, mit thematisiert werden und vertreten sein. Auch queere, trans – oder binäre Realitäten und Lebenswelten waren nicht Thema und dadurch nicht sichtbar. Wenn ein anarchistischer Kongress wirklich inklusiver in dem Sinne sein möchte, dass alle Kämpfe intersektional verbunden werden, dann müsste sich an der Struktur des Kongresses etwas ändern. Angesprochen wurde es, jetzt gilt es, es auch zu tun.
Hier sidn jetzt nur einige Themen und Debatten des Kongresses, durchaus subjektiv, exemplarisch angesprochen wurden, alles andere würde sicherlich hier auch den Rahmen sprengen
Trotz allen war der Kongress eine gute Möglichkeit andere Leute, Themen und Ideen kennen zu lernen mit Beteiligten aus vielen Ländern Abya Yalas (Südamerika und Mittelamerika) und einigen aus dem spanischen Staat.
https://4congresoanarquismos.noblogs.org/
Abgerundet wurde das Kongresswochenende durch eine Palästina Solidaritätsdemonstration mit circa 5000 am 11.Oktober, die von der Metrostation Salvador bis zum Präsidentenpalast Moneda ging. Es gab kaum eine Präsenz von Bullen und am Rande der Demo, entlang der Strecke wurde eifrigst sehr viel gesprüht und plakatiert (herrlich!).
Zum Schluss noch ein paar Lesetipps (leider nur auf spansichds)
* La Huelga Feminista !VA! Historias de un proceso en curso
* Anarquismos y Archivos. Experiencias de inverstigación y reflexiones en torno al oficio de la
Historia en america Latina y Espanya
* Rabia Dulce de Furiosos Corazones. Simbolos, iconos, rayados y otros elementos de la revuelta
chilena
* Evade Chile 2019 # Reporte de una Insurrección
passiert am 4.-11. Oktober




