Ein paar Gedanken zu Oberkörperfrei

Der Sommer ist vorbei aber die Diskussion um freie Oberkörper schwirrt dir noch in den Ohren? Dann ist der Text genau das Richtige für dich. Nachdem mittlerweile sogar in der Tagesschau das Verbot von nackten Männeroberkörpern thematisiert wurde,1 scheint es angebracht die Diskussion mal abseits von Twitter und Instagram zu führen. Es sollen hier alle Argumente gesammelt und besprochen werden, welche für ein Oberkörperfrei Verbot stehen: 1. Mackriges/Dominantes Verhalten, 2. Grenzüberschreitendes Verhalten, 3. Eingriff in die Privatsphäre, 4. Triggern von Betroffenen sexualisierter Gewalt, 5. Unsolidarischer Ausdruck von Privilegien
1. Mackriges/Dominantes Verhalten
Einer der häufigsten Vorwürfe ist, dass nur Macker gerne ihre T-shirts ausziehen, um ihre Männlichkeit zur Schau zu stellen. Oder kurz formuliert: „Zieh den T-shirt wieder an, du Macker“. Ohne auf den unklaren, schwammigen und immer wieder doch gern positiv benutzen Begriff von „Macker“ jetzt einzugehen, wirft das doch ein paar Probleme auf.
Der nackte Männeroberkörper wird hier nur als Ausdruck von Dominanz angesehen. Männer sollen angeblich nur ihr Shirts ausziehen, um andere einzuschüchtern, um mit ihren Muskeln zu spielen und sich dadurch selbst zu pushen.2
Dass es solche Männer gibt, soll keinesfalls infrage gestellt werden. Auch dass diese ein ernsthaftes Problem darstellen, ist zweifellos ein Fakt. Zum Glück sind sie durch ihren Habitus recht schnell erkennbar und disqualifizieren sich selbst für jeden Diskurs, aber dafür für einen Rauswurf, durch ihre sexistischen oder gewalttätigen Taten oder Worten. Wer so eine Person beispielsweise auf einem Parkfest sieht weiß, dass diese wegen den Äußerungen in den nächsten 10 Minuten sowieso rausgeworfen werden muss.
Das Männer aber, ähnlich wie alle anderen Menschen, sich knapp bekleiden oder ausziehen, dies nicht für andere tun, sondern einfach weil ihnen warm ist, wird hierbei leider übersehen. Der Text soll eigentlich nicht jeder anderen Meinung gleich ein -Ismus vorwerfen, jedoch wird ein gewisser Klassismus hierbei häufig offensichtlich. Oftmals sind es weiße, akademische Mittelschichtkinder, die oberkörpfreie Männer als mackrig verurteilen und in Schubladen stecken. In der Regel sind Menschen in der Mittelschicht mit solchen Verhaltensweisen nicht vertraut. Klar, wer im Sommer nie im Block gewohnt oder auf dem Bau gearbeitet hat, kann eher schwerer nachvollziehen, warum es für manche Menschen üblicher ist, kein T-Shirt anzuhaben. (Es trägt natürlich auch nicht zu einem gegenseitigen Verständnis bei, dass viele Flintas mit Horror an Baustellen im Sommer denken, da sie bei diesen im Vorbeigehen oft aufs ekelhafteste sexualisiert werden.)
2. Grenzüberschreitendem Verhalten
Der zweite Vorwurf ist, dass grenzüberschreitendes Verhalten verstärkt wird.3 So nebulös wie der Vorwurf hier steht, wird er in der Regel auch geäupßert. Es ist aber natürlich allen klar, wer mit dem Vorwurf gemeint ist. Wir haben alle Situationen im Kopf, in denen sich oberkörperfreie Typen grenzüberschreitend verhalten haben. Genauso aber auch Situationen, wo es die gleichen Typen mit T-shirts gemacht haben.
Wer einmal an ostdeutschen FKK Stränden war, weiß dass Nacktheit nicht automatisch zu grenzüberschreitendem Verhalten führt. Sozialisierung, Charakter/Empathie, Reflexionsgrad und politische Bildung aber wiederrum schon.
3. Eingriff in die Privatsphäre
Ein Argument für das Verbot von oberkörperfreien Männern, ist der ungewollte Körperkontakt beim Tanzen.4 Die meisten Menschen finden es nicht angenehmen mit fremden verschwitzen Körpern in Berührung zu kommen. Das Argument ist wirklich valide. Es sollten sich nicht 20 Personen beim Tanzen ekeln müssen, nur weil eine Person sich ausziehen will. Das es viel zu lange eine Kultur gab, in der das in linken Räumen normalisiert und praktiziert wurde, ist bedauerlich. Trotzdem ist es wünschenswert, wenn es Veranstaltungen gibt, an denen Nacktheit möglich ist. Es sollte nicht so sein, dass Menschen die Lust auf Nudismus, Exzess oder Sex auf der Tanzfläche haben, die linken Clubs und AZs verlassen müssen und nur noch in kapitalistische Techno Clubs feiern können. Kompromisse, Diskussionen und verschiedene Veranstaltungen könnten hierfür eine Lösung darstellen. Oder auch nicht, der Text kann und soll auch nicht auf alle Fragen eine Antwort liefern.
4. Triggern von Opfern sexualisierter Gewalt
Das bekannteste Argument: Ein nackter Männeroberkörper soll Personen triggern und an zuvor erlebte sexuelle Gewalt erinnern.5 Der nackte männliche Körper wird mit Vergewaltigung assoziiert bzw. gleichgesetzt. Die Verbindung ist hochgradig problematisch aufgrund der Zuschreibung von Körpern und Geschlechtern zu Verhaltensweisen und Gewalttaten. Lassen wir uns aber trotzdem auf den Lösungsvorschlag ein.
Der Gedanke ist also, dass wir traumatisierten Personen einen safe space geben. Wir sollten versuchen mögliche Trigger von vornherein zu verhindern. Die richtige Annahme ist, dass stark traumatisierte Personen Flashbacks, also relativ unkontrollierte Wiedererleben einer traumatischen Situation durch einen (Schlüssel-)Reiz haben. Dies kann extrem unvorhergesehen und sehr zusammenhangslos passieren. Oftmals kann dies durch Orte geschehen in denen, die Gewalt erlebt wurde (Bspw. Straßenbahn, Parks, Toiletten). Oder durch Wahrnehmungsreisze wie Berührungen, Nähe und Ähnlichkeiten zu der erlebten Situation passieren. Es ist nun die Frage wie wir damit umgehen. Versuchen wir alle möglich Triggerpunkte zu verbieten? Wo fängt es an und wo hört es auf?
Es stellt sich die Frage bei Gewalterfahrung und Drogenmissbrauch. Sollen wir militante Aktionen einstellen und keine Riots mehr machen, da diese auf Personen mit Gewalterfahrungen einschüchternd wirken? Sollte wir keinen Drogenkonsum mehr erlauben, aufgrund der ganzen Freund*innen und Genoss*innen die an Überdosen gestorben sind oder jetzt clean sind? Oder um es auf die Spitze zu treiben: Die größten Erinnerungs- und damit auch Trauma-Trigger sind Gerüche. Sollten wir dann nicht auch auf den kleinen Luxus von beispielsweise Parfüm oder Deo verzichten, um vorsorglich allen Menschen einen Trigger zu ersparen? 6
Wer das Spiel zuende denkt merkt, dass eine Welt die versucht ohne Trigger zu funktionieren noch autoritärer und kälter als unsere jetzige Welt ist, sofern es überhaupt möglich wäre dies umzusetzen. Es ist eine Welt die sich nach den maximalst traumatisierten Menschen ausrichtet.
Die Meinung in der Medizin und Forschung ist bei dem Thema eindeutig: Menschen mit Traumata benötigen psychologische Behandlung. Wir können Safe spaces schaffen, wenn der Wunsch vieler Personen danach besteht. Wir sollten auch für unsere Freund*innen und Genoss*innen da sein, wenn es ihnen nicht gut geht. Wir sollten alle mehr Rücksicht üben und Orte schaffen an denen aufeinander geachtet wird. Aber wir sollten nicht versuchen unsere Räume so einrichten, dass jegliche Trigger beseitigt sind. Das ist unmöglich und wird im schlimmsten Fall autoritär.
Es sollte also auch klar werden, dass wir Räume brauchen, die so gut es geht als safe(r) spaces funktionieren, als auch offene Räume, die eher für Menschen da sind, die von außerhalb unserer Szene kommen und noch nicht alle Standards draufhaben. Politik in solchen Räumen und Konstellationen, kostet dann Kraft, Zeit und Nerven und kann psychisch sehr belastend sein. Aber revolutionäre politische Arbeit ist nicht leicht und genau deshalb brauchen wir Rückzugsräume, um dort wieder Kraft zu tanken.7
5. Unsolidarischer Ausdruck von Privilegien
Oft wird unterstellt, dass es ein unsolidarischer Ausdruck von Privilegien ist. Appelliert wird an „Solidarität“.8 Eine Kritik an der unsolidarischen Diskursverschiebung durch den Begriff „Privileg“ wurde schon mehrfach geübt und soll hier nicht wiederholt werden.9
Der Vorwurf spricht einen wichtigen Punkt an: Weibliche gelesene Menschen werden oft sexualisiert, belästigt oder kriminalisiert, wenn sie oberkörperfrei in der Öffentlichkeit sind. Repressionsorgane wie der Ordnungsamt benutzen immer noch den § 118 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten zur „Belästigung der Allgemeinheit“ um Frauen (bzw. weiblich gelesenen Menschen mit Brüsten) Strafen reinzudrücken und sie in der Öffentlichkeit zu schickanieren.
Wir müssen gegen diese Missstände aktiv werden. „Free the nippels“ darf nicht nur ein hashtag bleiben. Gleichzeitig sollte es nicht als eine liberale Girlboss-Feminismus Bewegung verebben. Die „Forderung“ muss eine tiefergehende Analyse der patriarchalen Zustände integrieren. Wir sollten Aufklärung betreiben, Banden bilden und feministische Militanz zurück auf die Straße bringen bis die Angst die Seiten wechselt und alle Menschen oberkörperfrei sein können.
Natürlich können wir auch statt für die Befreiung aller Menschen, für die Einschränkung von allen kämpfen. Autoritäre Lösungsansätze von sozialen Problemen gab es schon immer, sei es autoritäre Arbeiter*innenparteien oder schwarzer Nationalismus (egal ob in maoistischer oder islamistischer Ausprägung).
Sinnvoller aber noch offensichtlicher separierendf und autoritärer wäre ein Alkoholverbot für Cis-Männer. Die Gewalt- und Belästigungsrate würde rapide sinken. Es wäre nicht nur Symbolpolitik, sondern würde ernsthaft Menschen helfen. An dem Beispiel sollte offensichtlich werden, dass kollektivistische Identitätspolitik zwar effektiv sein kann, aber uns einer freiheitlichen Utopie keinen Schritt näherbringen.10 Und wer denkt, dass dies ein an den Haaren herbeigezogenes Beispiel ist, darf daran erinnert werden, dass seit 1993 ein Alkoholverbot bei den Zapatistas herrscht, aufgrund der massiven Übergriffs- und Vergewaltigungsrate in Mexiko.11
Fußnoten
1 Tagesschau, am 18.08.2025, unter: https://www.youtube.com/shorts/aqXigIZsnkQ
2 „Nackte männliche Oberkörper sind eine reine Machtdemonstration“ in Felix Zimmermann: „Zieht euch was an!“, Taz, am 17.08.2025, unter: https://taz.de/Nackte-Oberkoerper/!5524506/
3 „Das Weglassen der Oberbekleidung kann für diese Personen unangenehm bis gefährlich werden.“ in Pinkstinks: “Sollte oben ohne für alle sein?“, unter: https://pinkstinks.de/sollte-oben-ohne-fuer-alle-sein/
4 Maximilian Helm: „Männer lasst die T-Shirts an, Konzerte sind für alle da!“, Sächsische, am 16.07.2023, unter: https://www.saechsische.de/kultur/regional/maenner-lasst-die-t-shirts-an-konzerte-sind-fuer-alle-da-RNUALG6O2PR76WVJWLYJXGJKOQ.html
5 „Zu bedenken ist weiterhin, dass OKF nach bestimmten Vorerfahrungen für Personen ein Trigger ist.“ in Magischer FC: „Du bist nicht Harry Styles“, am 23.08.2023, unter: https://www.magischerfc.de/2023/08/du-bist-nicht-harry-styles/
6 Eva Berendsen, Meron Mendel, Saba-Nur Cheema: „Trigger Warnung: Identitätspolitik zwischen Abwehr, Abschottung und Allianzen“, 2019, S. 23-24.
7 „Die Ideen von freien bzw. sicheren Räumen werden oft durcheinandergebracht.“ in Gabriel Kuhn: „23 Thesen zum Anarchismus“, 2016, unter: https://paradox-a.de/allgemein/23-thesen-zum-anarchismus-gabriel-kuhn/
8 „Wir sehen das „oben mit“ als einen Akt von Solidarität an, um die Menschen zu unterstützen, die „oben ohne“ nicht können oder möchten, und würden uns freuen, wenn alle Menschen als Verbündete zu einer kollektiven Befreiung beitragen.“ in Klimacamp im Rheinland: „Oben-Ohne“, unter: https://www.klimacamp-im-rheinland.de/campinfo-2/vereinbarungen/oben-ohne/
9 Anonym: „Kritik der Privilegien“, 2022, unter: https://de.indymedia.org/node/168568
10 Woke Anarchist: „Gegen Anarcho-Liberalismus und den Fluch der Identitätspolitik“, 2018, unter: https://knack.news/13536
Oder siehe: Patsy l’Amour LaLove (Hg.): „Beißreflexe: Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten Taschenbuch“, 2017. Friederike Beier, Lea Haneberg, Lisa Yashodhara Haller (Hg.): „Materializing Feminism. Positionierungen zu Ökonomie, Staat und Identität“, 2018. Linkerhand, Koschka (Hg.): „Feministisch Streiten. Texte zu Vernunft und Leidenschaft unter Frauen“, 2022.
11 Luz Kerkeling, San Cristóbal de las Casa: „Zapatisten feiern 30 Jahre Rebellion“, Neues Deutschland, am 03.01.2024, unter: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1178922.mexiko-zapatisten-feiern-jahre-rebellion.html