Internationaler Aufruf für die Revolutionäre Union der Anarchist*Innen

Erster Teil, Einleitung: 12. Feburar 2012

Am 12. Februar 2012 ereignete sich die letzte große Schlacht (auf griechischem Territorium) der Bewegung gegen die Sparmaßnahmen. Die nächsten Jahre folgten andere offene Schlachten, jedoch erstand die Bewegung nach jenem Tag, da sie begriff, dass sie die Grenzen ihrer Macht erreicht hatte, nicht mehr auf. Das Ziel dieser ausdauernden aufständischen Bewegung, das darin bestand, das Parlament während der Verabschiedung der umstrittenen Gesetze stillzulegen oder gar zu besetzen, war während dem populären Versuch des 12.02.2012 endgültig verfehlt. Es war die größte militante Versammlung seit 1973. Eine halbe Millionen Menschen umzingelten ein weiteres Mal – aber dieses mal würde es das letzte Mal sein – die zentrale Institution des Regimes und nachdem wir durch den Beschuss mit Chemikalien zurückgeschlagen wurden, machten wir zähe Versuche, das Ziel noch einmal zu erreichen. Ohne auf die Nutzung konventioneller Waffen der Kriegsführung zurückzugreifen, übermannte der militärische Apparat des Staates eine riesige aber unbewaffnete Masse an Menschen.

Der Wendepunkt der Bewegung gegen die Sparmaßnahmen wurde zur kritischen Wegmarke verschiedener Pole der antiautoritären Bewegung, die sie zur Priorisierung der Frage des revolutionären Programms und der Frage der Organisation führte. Wir alle haben den eindimensionalen Insurrektionalismus, den Verweis aller Fragen an die Dynamiken der aufständigen Masse und den Moment der Erhebung, als Sackgasse erkannt. Dennoch blieb der Weg zur Überwindung all der aufgehäuften Schwächen verschwommen. Das Programm und die politische Organisierung wurden zu den neuen Bezugspunkten aller kritischen Angelegenheiten und gleichzeitig wurde aufständige Praxis denunziert. Auf der anderen Seite genügte den politischen Polen, die die Notwendigkeit der organisatorischen Einheit ablehnten, die Verdrehung der Erfahrung und des Projektes des Aufstandes in ein vergängliches Erlebnis oder in einen Ausdruck der Vorherrschaft alternativistischen Ausprobierens. Diejenigen, die der Notwendigkeit der Organisierung der Volksmacht das Wort redeten, waren wenige und innerhalb der politischen Gleichgewichte der Bewegung schwach; sie waren Stimmen, die aus der bewaffneten Praxis stammten und die daher in der Lage waren, sich der materiellen Bedingungen des bestehenden klassen-politischen Konflikts bewusst zu sein. Sowohl diejenigen, die Insurrektionalismus mit Organisationalismus ersetzten, als auch diejenigen, die dem Aufstand die subersive Substanz entzogen, unterschätzten die revolutionären Qualitäten der kämpfenden Masse. Um diese konservativen Positionen als Vorgeschichte der bürgerlichen Philosophie hinter sich zu lassen, reicht eine Beobachtung aus den Tiefen der bolschewistischen Sozialdemokratie vor einem Jahrhundert– nicht gerade bekannt für deren Insurrektionalismus – zu machen. Antonio Gramsci: “Der Gebrauch des Wortes spontan ist elitistisch, denn es bezieht sich auf eine scholastische und akademische Konzeption, die nur solche aufständischen Bewegungen als echt und erwägenswert anerkennt, die 100% bewusst sind, heist, Bewegungen, die einem minutiöse Plan folgen oder sich entlang einer abstrakten theoretischen Linie befinden.”(1). Informalismus und Alternativismus fallen umgekehrt unter die selbe Kritik, da sie soziale Spontanität von revolutionärer Orientierung und der Fähigkeit zur Bereitschaft trennen, um jene Bewegungen, die die Bestätigung einer solchen Trennung anzubieten scheinen, als echt, spontan und authentisch auszumachen. Ein aktuelles Beispiel ist die Trennung der Ersten Palästinensischen Intifada vom organisierten bewaffneten Widerstand im Dienste der Ablehnung der revolutionären Initiative vom 7. Oktober.

Das Wiedereinführen der Fragen nach Program und Organisation reaktivierte auch Fragen der Beziehungen zwischen politischer und klassen- oder sozialer Organisierung, die Frage bezüglich der Zuständigkeit für den Entwurf des Programs und betreffend dessen Klassenbasis. In den fünf Jahren lokaler (athener) Prozesse des Dialogs bezüglich der Frage der Organisation haben sich kollektive Vorschläge und persönliche theoretische Positionen mit Bezug zur Plattform von Dielo Trude gebildet.
Seit 2020 habe ich aus dem Exil und aus dem Gefängnis heraus in einer Reihe von analytischen Texten eine Position zu diesen Schlüsselangelegenheiten eingenommen. Die Evolution des klassen-politischen Kampfes im globalen Maßstab, die Verfasstheit der anarchistischen Bewegung international und die Richtungen, die die Verwendung der plattformistischen Ideen in der griechischen Bewegung eingeschlagen haben, bedürfen der Formulierung eines präzisen Vorschlags bezüglich der heutigen Union der Anarchist*innen; einen Vorschlag für die Erneuerung und nicht die Verdrehung und das Begräbnis unserer revolutionären Geschichte. Viele von uns haben sich am Ringen für die Organisierung das letzte Jahrzehnt über beteiligt. Zudem studieren viele Geschichte und den aktiven Dialog. Aus dem Urteil heraus, dass es derzeit in der griechischen Bewegung kein erklärtes Projekt der revolutionären anarchistischen Organisierung gibt sowie aus dem Zustand der Gefangenschaft ziele ich darauf ab, die Gesamtheit der anarchistischen Bewegung auf lokaler Ebene sowie auf internationaler Ebene direkt (und damit zeitgleich) anzusprechen. Die meinem Vorschlag zugrunde liegende Logik, die meiner Meinung nach aus den historischen Lehren des revolutionären Anarchismus stammt, verlangt, dass sie über die maximale geographische Weite ohne Verzögerung verbreitet wird. Als Gefangener des revolutionären Volkskampfes, der unnachgiebig für die subversive Aktion und Organisierung einsteht, suche ich diesem politischen Vorschlag den Charakter eines Aufrufs zu geben.

Mein Text wird, um einfacher verständlich zu sein, untergliedert sein. Er wird in abschnitten veröffentlicht werden und um Zeit zu sparen werde ich vermeiden, Argumente, welche ich in früheren Texten schon vorgestellt habe, zu wiederholen. Ich wende mich an die Genoss*innen, die verstehen wollen. Ich werde mich mit den Grundlagen, den Folgerungen und dem koherenten Gedankengang aufhalten. In dem Teil, wo ich das theoretische Modell und den generellen organisatorischen Pfad der der anarchistischen Union beschreibe, werde ich besonders genau und werde den Text mit Diagrammen ergänzen.

Mit der geschätzten Solidarität einiger Genoss*innen kann der Text sowohl in griechisch als auch in englisch erstveröffentlicht werden. Die Weiterverbreitung und Übersetzung in andere Sprachen wird Indikator seiner Anerkennung oder seiner Zurückweisung als fruchtbarer Vorschlag sein.

Bevor ich weiter voranschreite, ist die erste zu beantwortende Frage diejenige nach der produktiven Reihenfolge der Dinge. Erst das Programm oder die Organisation? Zuerst die politische oder die klassen-/soziale Organisation? Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der praktischen Theorie, in welcher Reihenfolge? Es gibt sechs verschiedene Kombinationen der Zeiten und jede gibt eine andere Lesart des Universums von einem unterschiedlichen Startpunkt aus. Welche ist die angemessenste zur Entwicklung eines Vorschlags revolutionärer Organisierung? Sogleich schreibe ich die generelle Abfolge nieder und im Fluss wird die Ordnung der verschiedenen Themen nachvollziehbar werden. Die Diskussion über organisatorische Fragen bedarf der Vorbestimmung des Ziels. Das allgemeine revolutionäre Programm geht voran. Beginnen wir entsprechend auch mit dem was folgt und was noch kommt, also dem revolutionärem Zweck und der revolutionären Praxis als Grundvoraussetzungen. Danach gehen wir durch die Geschichte unseres Zwecks, seiner Praxis und seiner Organisierung, so dass wir beladen mit dem Wissen über unserer Geschicht über unsere heutigen Bedingungen reden können. Revolutionäre Praxis ist eine Wiederherstellung des Optimums des evolutionären Pfades der menschlichen Spezies und ein Bruch mit den historischen Ketten unserer klassenpolitischen Schwächen. Wir kommen dann zum aktuellen Programm des Kampfes und nachher spezifischer zum organisatorischen Programm. Auch wenn das generelle revolutionäre Programm, das sich auf die Gesamtheit des revolutionären sozialen Subjekts bezieht, der Erörterung der politischen Organisation vorangeht, erscheint die Frage der generellen Organisierung der sozialen bzw. Klassenbewegung und der sozialen Revolution verkürzt und entstellt wann immer die revolutionäre Vision in der Praxis fehlt. Da die soziale Bewegung die Matrix ist und nicht ein mechanischer Fortsatz der politischen Organisationen, ist es irreführend ihre Entwicklung zu diskutieren, wenn wir nicht vorher unsere grundlegenden Verpflichtungen als Mitstreiter*innen und Gesprächspartner*innen bezüglich in der Sache bestimmt haben. Die Fragen der sozialen Selbstbestimmung und klassenlosen Neuordnung sind die letzten mit denen wir uns beschäftigen müssen. Und obwohl das letzte Wort viel breitere Körperschaften als die politischen Organisationen haben, ist es unumgänglich, dass wir uns mit ihnen beschäftigen.

Zweiter Teil: grundlegendes schlüssiges Programm der Klassenbefreiung und sozialen Selbstbestimmung.

Seit zehn Jahren, beginnend mit den Vorarbeiten zur Formierung einer anarchistischen politischen Organisation in der griechischen Bewegung, wird viel über das “revolutionäre Programm” gesprochen. Das Programm zeichnet sich als das zu erwartende neue Testament aus, das die Rätsel der Geschichte lösen wird. Alle Investitionen in das Programm das immer vertagt wird, fokussieren sich auf die revolutionäre soziale Transformation nach dem Sturz der staatlichen und kapitalistischen Macht. Brauchen wir wirklich ein solches Program? Wenn ja, warum war die internationale revolutionäre proletarische Bewegung der letzten zwei Jahrhunderte nicht im Stande es zu entwerfen, aber wir, die modernen griechischen Philosophen der Anarchie sollen es sein?

Ja, für den revolutionären Kampf bedarf es eines festgelegten revolutionären Zwecks. Die Revolution ist eine totale soziale Transformation, da sie, wennauch sie nicht alles sofort ändert, alles unter vereinheitlichten Kriterien der Kritik unterzieht. Für die Orientierung des revolutionären Kampfes ist ein allgemeines Programm der sozialen Umwandlung nötig.

Die Entwicklung sozialer Intelligenz im Allgemeinen und der Kampf der ausgebeuteten Klassen in den Jahrhunderten der Vorherrschaft der kapitalistischen Produktionsverhältnisse im Besonderen, haben den Entwurf eines antikapitalistischen revolutionären Programms notwendig und gangbar gemacht. Wir haben jenes Programm nun seit Jahrhunderten, mindestens seit Babeuf oder eher seit der Kommune von Münster oder weiter zurück. Die Befreiung der Produzenten von der Herrschaft von Kapital und soziale Selbstverwaltung innerhalb der Organisationen der Produzent*innen und der Gemeinden… So lange wir noch im Kapitalismus sind bleibt die Idee radikal. Aber wer immer sie als neu präsentiert redet mit dem Spiegel und der Spiegel streichelt ihm den Kopf.

Die vom Fehlen des revolutionären Programms Überzeugten werden entgegnen, dass obige Aussage eine Binsenweisheit ohne Wert für die von ihnen aufgeführte Notwendigkeit ist, weil das historische Program zu abstrakt ist. Wir stimmen dem zu. Jedoch muss die Diskussion damit beginnen, dass wir anerkennen, dass wir über das allgemeine Programm in vielen Ausführungen und mit zahlreichen Erfahrungen seiner unzulänglichen Anwendung verfügen. Ebensowenig fehlt es an Bestimmtheit. Um nur von der anarchistischen Bewegung zu reden haben Proudhon, Bakunin, Kropotkin, die Revolution in der Ukraine, Dielo Truda, die CNT, andere libertäre revolutionäre Projekte (Korea, China), etc., konkrete Programme formuliert und/oder angewendet. Waren sie sämtlich mangelhaft? Es gibt zwei Arten um die Frage zu beantworten; eine idealistische-elitistische und eine materialistisch-bedachte. Die eine Variante: ihnen fehlte es an einer in sich schlüssigen Konkretisierung des Ideals. Wer definiert die Kriterien der Schlüssigkeit des Ideals? Die Konkretisierung des Ideals und die Festlegung der Kriterien der Schlüssigkeit sind eine Tautologie. Nur eine neue Konkretisierung kann zum Kriterium der Nicht-Schlüssigkeit werden. Dann jedoch, weil das Urteil rückwirkend ergeht und weil es behauptet im Besitz der Authentizität zu sein, ist es autoritär. Zudem sind solcherlei Urteile unhistorisch. Kommen wir also zur zweiten Variante. Jedes Programm drückt eine historisch endliche Subjektivität aus. Von daher ist die zeitgemäße Neuformulierung des generellen Programms fortwährend notwendig. Vorsicht hier! Wir haben es mit zwei Dimensionen des Wandels zu tun: zum einen entwickeln sich die generellen Bedingungen des klassen-politischen Kampfes sowie die materiellen Bedingungen und zum anderen erneuern sich die Subjekte, die durch ihren Kampf neubewerten, neuformulieren, usw. Einen wichtigen evolutionären sozialen Beitrag der anarchistischen Bewegung stellt die politische Kulitivierung der öffentlichen Produktion kollektiven Denkens dar. Die Neuformulierung historischer Bezugspunkte durch jedes Subjekt des revolutionären Kampfes erweckt Geschichte und Narrative zum Leben. Jede weitere Neuformulierung ist ein Stück, das aufgrund der Dialektik der Geschichte unvermeidlich fehlte und zum neuen Testament wird, aber nicht “Das Programm” sein kann. Jenes existiert nur im abstraktesten politisch-sozialen Sinn, immer innerhalb geschichtlicher Grenzen, und wurde schon vor langem formuliert. Uns interessiert nicht die Offenheit der Neuformulierung als Gegenstand des erkenntnistheoretischen Relativismus, obwohl sie ihm als natürliches Parameter innewohnt – sie ist für uns aus dem Gesichtspunkt der Bedürfnisse, Beziehungen und Möglichkeiten jedes kämpfenden Subjekts und grundsätzlich der aktiven, also haupsächlich der lebendigen Subjekte von Interesse. In der Bewegung der sozialen Selbstbestimmung, der Befreiung von aller Klassenherrschaft und folglich von fremdbestimmender politischer Verwaltung präzisiert und revidiert jedes teilnehmende Subjekt alle Programme. Kein politisches Subjekt kann das revolutionäre Programm in Abewesenheit derjenigen Subjekte spezifizierten, die es anwenden werden. Nur als Prozess der tatsächlichen Wandlung durch kontinuierliche Formulierungen kollektiver Urteile und neuer Vorschläge kann das, was Programm genannt wird, allgemein werden. Diese Beobachtung wird später noch einmal gebraucht werden. Halten wir diese Beobachtung für später vor.

Kommen wir zur reflektiven Dimension des Wandels, der historischen Objektivität der klassen-politischen Konditionen. Revolution ist ein antagonistischer Prozess. Der Zeitrahmen des vorgeschlagenen Programms beginnt nicht in dem Moment, da der klassen-politische Feind eliminiert ist, sondern jeden Tag aufs Neue mit der Aussicht auf jenen katalytischen Moment. Die Unterscheidung einer Stufe klassen-politischen Antagonismus von einer Stufe der sozialen Transformation ist mechanistisch, sozial unnatürlich und ein Ausdruck rohester bourgeoiser Geisteshaltung. Wenn wir von einem materialistischen und nicht idealistischen Standpunkt aus sagen, dass das Ziel durch die Mittel vorherbestimmt ist, bedeutet dies, dass der Prozess des Konflikts und der Prozess des sozialen Wandels ein einheitlicher Prozess mit zwei Aspekten gleichzeitig ist: seiner Beziehung zum klassen-historisch etablierten Status und seiner Beziehung zur Freiheit, die er hervorbringt. Die allgemeinen Sprünge nach Vorne werden durch die Entwicklung der Einheit der zwei Aspekte gemacht; sie bestätigen nicht die Vertagung der sozialen Transformation und die Reduzierung des Konflikts auf eine Stufe der Mediation, ein “notwendiges Übel” im Widerspruch zum idealen Ausgang. Die Antwort auf “Wie kommen wir dorthin?” ist das praktische “so wenden wir den Zweck im Hier und Jetzt an”. Das “große Programm” wird im Zusammenspiel von aktuellen Programmen der direkten subversiven Aktion und sozialen Neuzusammensetzung konkretisiert – von Programmen, deren Anwendung vor hunderten von Jahren begonnen hat und noch einen langen Weg vor sich hat.

Der wirklich zentrale strittige Punkt jenes Programms ist nicht die Konkretisierung des Ideals, sondern die Konkretisierung der Art und Weise des Kampfes in der aktuellen Entwicklungsstufe des permanenten historischen Widerstreits zwischen Revolution und Konterrevolution sowie seiner bevorstehenden Phasen. Die Bewegung gegen die Sparmaßnahmen hat nicht deshalb darin versagt, das bürgerliche Parlament zu blockieren, weil sie nicht wusste, was als nächstes zu tun wäre, sondern weil sie nicht angemessen und genug klassen-mäßig, sozial und politisch-militärisch organisiert war, um die Aufstandsbekämpfung an dem umkämpften Punkt zu überwältigen, der – im Falle, dass es politische Subjekte gab, die dafür bereit waren – tatsächlich die Perspektive revolutionärer Wege eröffnet hätte.
Jedes Programm wird von den tagesaktuellen spezifischen Bedingungen bestimmt. Es muss grundlegend sein was die zeitlich unmittelbare Korrelation von Zweck und Mitteln angeht und stringent betreffend den zeitlich unmittelbaren Anforderungen an die revolutionäre Einheit. Diese zwei praktischen Unmittelbarkeiten (des Werdens und der Totalität) geben großen revolutionären Ideen ihre Form.

Historisch gesehen existiert ein ideales Programm, das all Jenen gemein ist, die das Ende der Ausbeutung wünschen. Bis in die liberale Linke stimmt man darin überein, dass die Gesellschaftsform, die historisch Anarchie genannt wird, das Ideal darstellt. Die politischen Programme unterscheiden sich auf dem Weg dorthin. Die Marxisten legen dem Programm zur Überwindung der bürgerlichen Zivilisation Stufen zugrunde; besonders Leninisten vermitteln Evolution durch den Parteistaat; Liberale anerkennen keinerlei Weg außerhalb der schrittweisen Transformation des existierenden Staats – das heißt, dass sie Reformisten im engen Sinne sind, während liberale Antiautoritäre auf den Wandel von Ideen und Moral hoffen, welche die Staatsgewalt überwältigen und entwaffnen. Anarchisten wurden normalerweise nicht wir genannt, die die anarchistische Vision wertschätzen – ich kenne Rechte, die das tun – sondern diejenigen, die für den unmittelbaren Sturz des Kapitalismus und des Staates kämpfen. Von den unterschiedlichen notwendigen Kämpfen bis hin zu Projekten des Sturzes politischer Regime überschneiden sich die unterschiedlichen Programme. Beispielhaft will ich nur die Kollaboration italienischer Anarchisten und Republikaner in der spanischen antifaschistischen Front anführen(2). Dennoch definieren die verschiedenen politischen Programme verschiedene und gegensätzliche mittelbare Ziele und zu verschiedenen Graden verschiedene Praktiken und Organiationstypen. Exakt deshalb, weil die Bruchstellen den allgemeinen Kampf durchziehen und weil der Moment kommt, an dem die nicht-anarchistischen Mitstreiter Position für das Regime einnehmen und auf die feindliche Seite wechseln oder die neue Konterrevolution werden, verlangt das unverkennbare anarchistische Programm nach einer autonomen politischen Basis (aktivistisch, produktiv/organisatorisch, programmatisch/ideologisch), um den Kurswechseln der Konterrevolution stand zu halten und in seiner Perspektive entschiedener voranzuschreiten. Daher betrifft die wesentliche Konkretisierung des anarchistischen revolutionären Programms nicht die theoretischen spezifischen Fragen nach der nach-revolutionären sozialen Organisiertheit, sondern die unmittelbaren klassen-politischen Bedingungen der Grundlagen und der Koherenz. Bevor sie genau die fantastische Vision einer Gesellschaft wie wir sie wollen definieren, definieren Art und Weise zu kämpfen zunächst unsere Entschlossenheit tatsächlich dort hin zu kommen.

Die politische anarchistische Organisation, d.h. die vereinte direkte und programmatische Aktion derjenigen, die sich praktisch dem Kampf für Anarchie verpflichtet haben, ist eine Notwendige aber nicht Hinreichende Bedingung für die Anwendung eines anarchistischen Programms des revolutionären Kampfes. Eine Massenarbeiter- oder eine breitere soziale/proletarische Bewegung ist generell nicht hinreichend. Der revolutionäre Kampf schreitet ohne die organisatorische Wechselbeziehung seines politischen Zwecks und seiner sozialen/Klassenbasis nicht voran. Es bedarf der Organisation des sozialen/Klassenkampfes in politisch autonomen Bedingungen (ideologisch, programmatisch, materiell und praktisch). Die Entwicklung von Klassen- und sozialen Organisationen des direkten Kampfes im fundamentalen politischen Sinne stellt eine grundlegende Bedingung für die Entfaltung eines revolutionären anarchistischen Programms dar. Aufbauend auf ihrer klassen-politischen, klassen-sozialen und sozio-politischen Organisiertheit kann und wird die revolutionäre anarchistische Bewegung im direkten Kampf kohärent indem sie die Bedingungen politisch breiterer Co-Organisationen und frontale Kämpfe mitgestaltet. Syntaktisch betrachtet hat jede Klassen- oder auch soziale Organisation eine politische Identität. Ebenso drückt die Natur von sozialen/Klassenfronten politische Beziehungen aus. Die revolutionäre anarchistische Organisation und ihre programmatischen Vorschläge intervenieren nicht in fälschlich als neutral angenommene organisatorische Räume, sondern sie organisieren sozialen Raum auf libertäre revolutionäre Weise und intervenieren so in den klassen-politischen Kampf und positionieren sich selbst innerhalb der populären Welt. Die sozio-politischen Grundlagen des sich entwickelnden anarchistischen Programms sind zudem das wesentliche Fundament der revolutionären Transformation, welche nach der Niederlage der Konterrevolution stattfinden kann. Die Konstanten des direkten Kampfes auf dem Gebiet der Klasse konkretisieren das “große Programm”.

Ich denke es ist klar dass ich das Thema des sogenannten organisatorischen Dualismus betreten habe. Ich werde es später wieder aufgreifen und die Fragen der revolutionären anarchistischen Organisation und des Programms in ihrer Aktualität analyiseren. Von hierab jedoch sei als Gegeben erachtet, dass in diesem politischen Vorschlag Dualität (oder Dreiheit, wenn man die auf Gemeinschaft basierende Selbstorganisation in klassen-politische Unterdrückung und Ausbeutung und die territoriale Selbstorganisation der freien Gemeinschaften unterteilt) nicht soziale/Klassenidentitäten von politischen unterscheidet und nicht die Anerkennung eines unpolitischen universellen klassenorganisatorischen Felds meint. Für welche Klassenorganisationen machte es Sinn, auf der Synthese verschiedener politischer Identitäten zu fußen? Für jene Formationen der frontalen Auseinandersetzung, die offen sein können für die Zusammenarbeit untergeordneter klassen-politischer und sozio-politischer Organisationen und ihren Äquivalenten auf der grundlegendsten Stufe der Organisation, so wie organisierte Belegschaften und lokale Volksversammlungen. Eine Sektor-Basisgewerkschaft, eine Föderation N-ten Grades oder eine soziale Struktur und ein überregionales Organ der sozialen Selbstverwaltung werden immer mit einer speziellen politischen Idee geschaffen, die in ihre Ziele, in ihre Mittel des Kampfes und ihre Mittel interner Funktionsweisen eingeschrieben ist. Logischerweise nimmt die Unterordnung der Klassen- und sozialen Organisationen unter die politische Organisation die Massenbeteiligung oder die Autonomie der Basis in den Würgegriff. Nichts destotrotz hat die anarchistische revolutionäre Organisation es nötig und die Pflicht, entsprechend ihres Programms Initiativen zum Aufbau und zur Teilnahme an Grasswurzelorganisationen zu ergreifen.

Was unterscheidet das anarchistische revolutionäre Programm von jedem anderen politischen Programm? Ich erwähnte vorhin, dass alle anderen Wege in Stadien investieren, die im Widerspruch zum letztendlichen Zweck stehen. Nicht nur sehen sie voraus, dass der Kampf aufeinanderfolgende, gegensätzliche Stadien durchschreiten muss, wie es jedes politische Subjekt logischerweise denken würde, sondern sie konzentrieren ihre Kräfte fundamentaler auf widersprüchliche Zwischenziele. Alle anderen Strömungen verstehen Anarchismus als utopisch. Ihre verunglimpfende Behauptung gegen den anarchstischen Kampf basiert ausschließlich auf dem utopischen Charakter, den ihre eigenen Programme dem letztendlichen Ziel geben. Die Investition der liberalen und marxistischen Linken in Zwischenstadien mit staatlichen und kapitalistischen Elementen lässt den libertären Kommunismus als Utopie erscheinen. (3)

Zu sagen, dass die anarchistische Praxis hauptsächlich auf die Übereinstimmung von Zweck und Mittel fokussiert ist, ist also wahr. Diese Beobachtung gilt jedoch nur in Bezug auf jenes letztendliche Ziel, das die anderen Programme als utopisch bezeichnen. Staatliche politische Organisationen sind zum größten Teil konsistent mit den direktesten ihrer mittelfristigen Ziele. Es ist wichtig, dass wir uns das vergegenwärtigen um uns über die anarchistischen Stärken und Schwierigkeiten bewusst zu sein. Kommen wir zurück zur Frage. Das anarchistische revolutionäre Programm zeichnet sich nicht durch ihre Konsistenz mit dem unmittelbaren, mittelfristigen oder letztendlichen Ziel aus, sondern durch die unmittelbarkeit des letztendlichen Ziels. Das anarchistische Programm verneint den denunziatorischen Utopismus der bürgerlichen sozialistischen Theorien.

Die Stärke unseres programmatischen Vorschlags ist die unmittelbare Anwendung der Bedingungen des erwähnten Zwecks. Unmittelbarkeit in Zeit: Jetzt! Unmittelbarkeit des Subjekts: Wir hier, der unterdrückte Volkskörper. Hier und jetzt.

Direkte Anwendung der Bedingungen, die die Organisation Revolutionäre Selbstverteidigung (4) in den drei grundlegenden Richtlinien für die zeitgenössische internationale revolutionäre Bewegung, die die Herrschaft von Staat und Kapital abschaffen wird, zusammengefasst hatte:

A. Unmittelbares Ziel ist der Sturz des politisch-militärischen und finanziellen Regimes, der Sturz der staatlichen Institutionen und die Entwurzelung der Mechanismen der Autorität. B. Unmittelbares Ziel ist die Vergesellschaftung allen Reichtums durch bewaffnete Gemeinschaften, die ab heute durch die revolutionäre Aktion der Arbeiter und Community-Versammlungen und die Bildung offener föderaler Strukturen in einem universellen Rahmen verwirklicht werden müssen und können. Selbstorganisation der Konfrontation muss darauf abzielen, Ausbeutung und Kontrolle zurückzudrängen, muss auch den Selbstschutz der sozialen Bewegung und seiner Offensiven verstärken. Kämpfer haben die sozio-politische Pflicht, klassenmäßige und soziale Widerstände mit dem Paradigma des direkten Gegenangriffs gegen das politisch-militärische und wirtschaftliche Regime und der Erfahrung, die uns sagt, dass wir den Terror und seine Herrschaft zerschlagen können, anzureichern. C. Massenhafte revolutionäre Selbstorganisation, gesellschaftliche Selbstverwaltung hier und jetzt.

Es versteht sich von selbst, dass wenn die Unmittelbarkeit nicht auf den Vorschlag selbst angewendet wird, das heißt, wenn der Vorschlag nicht praktisch umgesetzt wird, dann die Unmittelbarkeit unecht ist und der Vorschlag seine Gültigkeit verliert. Das anarchistische Programm wartet nicht auf Wahlen, einen definitiven Aufstand oder eine universelle ökumenische Versammlung und einen anzuwendenden Konsens. Aus ihrer unmittelbaren revolutionären Praxis ziehen die anarchistischen Vorschläge ihre kristallklare und einzigartige Wahrheit und dadurch ihre soziale Mächtigkeit.

Dem selben Punkt entspringen die besonders großen Schwierigkeiten und schweren Pflichten des anarchistischen Kampfes. Im Heute zu kämpfen und alle Brücken mit der alten Welt abzubrechen. Eineinhalb Jahrhunderte nun hat die anarchistische Bewegung eine beispielhafte Kontinuität der selbastaufopfernden Direktheit geschaffen. Ihre Geschichte und ihre Korrektheit haben sie in die einflussreichste Stellung unter den Strömungen des Widerstandes innerhalb der kapitalistischen Metropolen im letzten halben Jahrhundert gebracht.

Dennoch ist die Ablehnung von Zwischenstufen, in denen festgelegte politische Bedingungen vorherrschen, jene Ablehnung, die die Offenheit für die Beurteilung von und Entscheidung bezüglich direkten Verantwortlichkeiten durch das kämpfende Subjekt mit sich bringt, offen für Interpretationen, die offensichtlich widersprüchlich zur Pflicht der Unmittelbarkeit und zur Bestimmung jeglichen allgemeinen Kriteriums der Konsistenz sind. Zweifelsfrei macht die Verbindlichkeit bezüglich der Unmittelbarkeit des sozialen Zwecks die Verantwortlichkeiten im Angesicht der objektiven Bedingungen von Herrschaft, Ausbeutung, Auslöschung, etc., schwerer und radikaler; weit davon entfernt, relativistisch oder fragmenthaft und vernachlässigbar zu sein. Die Ideologie der “Freiheit” der Entscheidung zwischen Feldern und Formen des Kampfes stellt einen Denkmantel für einen eigennützigen Konservatismus, der, jeder unmittelbaren Pflicht im Bezug auf die klassen-politischen Bedingungen unverbunden, dazu tendiert, ein Minimum an Radikalismus oder sogar eine reaktionäre Haltung in Bezug auf die klassen- und politische Front anzuwenden (z.B. im Bezug auf den palästinensischen Widerstand). Wo bürgerliche Konventionen nicht anwendbar sind wird es offensichtlich, ob die Verweigerung gegenüber konventionellen Zwischenzielen Ausdruck direkten Kampfes und ein selbstverpflichendes Engagement auf dem Weg zur Vervollständigung des Kampfes oder idealistische Ausflucht ist.

Die Ideologie der Entscheidung[sfreiheit] wird irreführend mit scheinbar seriösen politischen Begriffen auch durch kollektive Subjekte, die sich selbst als Befürworter robuster Organisationen präsentieren projeziert: praktisches und programmatisches verbindliches Engagement, die fundamental in den vorgenannten Bedinungen der Unmittelbarkeit sind, werden respektive Taktiken und Strategien genannt, die je nach Umständen optional sind. Diese ideologische Bescheidenheit drückt sich selbst genau dort aus, wo Umstände das Produkt konservativer Fixiertheit auf zugrundeliegende Schwächen sind.

Die Zuspitzung dieses dekonstruktiven Relativismus ist die gemeine Anwendung der natürlichen Konsequenz der Übereinstimmung von Zweck und Mittel (als anarchistisches “Prinzip” neubenannt), um Inaktivität auf Baiss der Voraussetzung der Nichtverletzung des “Prinzips” für sich zu beanspruchen. Wie bei der Heuchelei der religiösen Zeloten zählt nicht ob man das tut was nötig ist oder ob man nichts gegen die Grausamkeit der Autorität und die Tragödie der Zeit tut, es reicht aus, nichts zu tun, was unter die politischen Praxen der politischen Zwischenstufen fällt oder diesen ähnelt. In diesem normativen Kontext ist die ideologisch sicherste Option nichts zu tun.

Die Ausflüchte vor den schweren Aufgaben der Unmittelbarkeit bestätigen die reaktionäre Denunziation des Anarchismus als utopische politische Strömung. Im historischen Treiben des Kampfes jedoch sind es subversive Akte, nicht unbewaffnete Bekenntnisse, die von Gewicht sind.

(1) Aus dem Buch von Raúl Zibechi, Dispersing Powers: Social Movements as Anti-State Forces (AK Press, 2010)
(2) Umberto Tomazini, The Anarchist Blacksmith, ed. Eutopia, Athens 2024
(3) Die Plattformistischen Organisationen UNIPA und OPAR haben in ihrem Projekt die historische Umkehr der Beschuldigung des Utopismus und das opportunistische Motiv des Marxistischen Utopismus analysiert (https://uniaoanarquista.wordpress.com/documentos/documentos-internacionais/)
(4) https://athens.indymedia.org/post/1592926/