Silvester in Berlin – Zum Kontrollverlust der Bullen in Neukölln
Während die Medien von einem erfolgreichen Einsatz der Bullen in Berlin sprechen, die hermetische Abriegelung des polizeifeindlichen Neubaugebietes in Schöneberg rund um die Potsdamer/Pallasstraße unter R2G scheinbar auf keine politische Kritik mehr stößt, gab es auch andere Ereignisse, die zu berichten wären. Von teilweise fast menschenleeren Straßen, der Jagd der Bullen in diversen proletarischen Wohnvierteln auf alle Jugendlichen die es sich nicht haben nehmen lassen, sich trotz Ausnahmezustand auf die Straße zu wagen, von Angriffen auf Bullenwagen, darunter ein Einheit der Bundespolizei in Konvoifahrt, in Wedding und Neukölln, Lichterfelde… – Rangeleien mit den Bullen im Victoriapark, wo gemeinsam gefeiert wird, in der Urbanstraße flogen Molotows auf einen Bullenwagen… – und von den Auseinandersetzungen in der Sanderstraße bei der die Bullen eine Stunde lang die Situation nicht unter Kontrolle hatten. Uns erreichte dazu die Schilderung eines Genossen aus Berlin. Sunzi Bingfa
Eigentlich zog ich den Silvesterabend los, um dieses FCK 2020 der Räumungen, unreflektierten einschränkenden Maßnahmen, Repressionen und von unsolidarisch geprägtem „stayathome“ nicht auch noch in der von Staat und Bullen angeordneten „Wohnhaft“ verbringen zu müssen.
Vollmundig wurde ja angekündigt, mit 2.900 Bullen die Kieze zu fluten, die mit der Pandemie begründeten Maßnahmen in voller Härte durchzusetzen. Wer also nicht in der Schockstarre vom März weiter hörig verharrt, dem sollte mit der Staatsgewalt nachgeholfen werden.
Also rechtzeitig auf zum Kotti, die Kottbusser Straße, Kottbusser Damm zur nächsten „Böller Verbotszone“ Hermannplatz. Erwartet habe ich großartig nichts.
Rund um den Kotti haben sich jede Menge Bullen positioniert, ständige Patrouillen der Bullen vom Hermannplatz zum Kotti und zurück, Lautsprecher- und Kamerawagen in Position, Hubschrauber in der Luft. An den Hauseingangstüren wohlwollend fürsorgliche Strafandrohungen von bis zu 1.000 Euro Geldstrafe oder bis zu 3 Jahre Knast. Bürgernähe 2020 ala R2G, gelebter struktureller Rassismus, willkommen in der „Weltstadt mit Herz“ Berlin.
Es ist weniger los als an anderen Silvester Nächten, dennoch ist der Kiez nicht wie im ersten Lockdown so erschreckend tot, Menschen sind draußen unterwegs, es böllert, Raketen fliegen, es kommt erwartungsvolle Fröhlichkeit auf, wenn auch immer mit unverhohlen aufmerksamen Blick auf die überall präsente Staatsmacht.
Kurz vor Mitternacht rumst es richtig Kottbusser Damm Höhe Sanderstraße, Wannen vom Hermannplatz und Kotti rauschen hektisch heran, plötzlich viel Bewegung im Kiez, der showdown beginnt.
Behelmte Bullen versuchen in die Sanderstraße einzudringen und stoßen auf massive Gegenwehr: Böller, Raketen, Flaschen, Steine fliegen, sie ziehen sich zurück, gehen nicht weiter gegen die Menschen in der Straße vor. Ein Kamerawagen der Bullen positioniert sich direkt vor der Sanderstraße und filmt die Szenerie ab, während die Bullen versuchen über die Nebenstraßen vorzudringen, die jetzt auch von Anwohner*innen und Menschen aus dem Kiez bevölkert werden.
Der Kontrollverlust der Staatsmacht wird offensichtlich, knapp eine Stunde prasselt ein mächtiges lautes Feuerwerk, Versuche sich der Ungehorsamen zu bemächtigen werden erfolgreich abgewehrt, hier und da sah man in der Dunkelheit auch mal einen Mollie fliegen.
Anwohner*innen kommen vermehrt aus den Häusern, klatschen Beifall, genießen das Feuerwerk, genießen diesen Moment.So langsam haben es die Bullen geschafft, mehr Kräfte im Kiez zusammen zu ziehen, hetzen planlos durch die dunklen Straßen, schon lange nicht mehr Einheiten mit Schild gesehen, wirken orientierungslos, geben teilweise die Verfolgung auf. So plötzlich wie es b egann, war es dann auch wieder schlagartig vorbei. Eine Verhaftung gab es in der Friedelstraße vor der Hobrechtbrücke.
Der Bereich Sanderstraße Ecke Kottbusser Damm ist inzwischen abgesperrt, Bullen sammeln Molotows und andere Beweismittel ein, vorbeigehende Passant:innen in dunklen Klamotten werden gezielt und völlig sinnfrei aufgehalten, kontrolliert, Personalien überprüft.
„Corona macht uns noch alle verrückt“ – ein Satz im vorbeigehen, der mir an diesem Abend im Gedächtnis geblieben ist. Aus diesen Worten schwang in dem Moment so viel Erschöpfung aber auch Erleichterung, so etwas wie Befreiung, spontan in einen Moment eingetaucht zu sein, der kurzzeitig Ohnmacht, Verzweiflung, Angst, Sorgen und Nöte vergessen macht, der in diesem Moment einfach nur etwas Freude und Hoffnung schenkt.
passiert am 02.01.2021