Von Lumpen und schwarzen Löchern [Part 1]

„Trotzdem war der (für Brixton recht gemischten Menge) von mehreren hundert Personen gestern Abend recht feierlich zumute, als sich die Autos in beiden Fahrtrichtungen auf der Brixton Water Lane stauten. Sie wissen nur zu gut, dass sie sonst nicht zu den Gewinnern zählen. Die Gelegenheit, einen Fischzug mit Elektroartikeln im Wert von mehreren hunderttausend Pfund zu machen – und das noch dazu direkt vor der Nase der hilflosen Polizei, von der sie sonst regelmäßig schikaniert, geschlagen oder getötet werden, – beschert allen eine großartige Nacht. Die 14-jährigen Mädchen, die auf dem Weg, sich den 60 Zoll-Plasma-Bildschirm ihrer Träume zu holen, über den Parkplatz der Curry-Filiale eilten und mich dabei anrempelten, waren höflich genug, mir ‘Entschuldigung’ zuzurufen – und sie meinten es aufrichtig. Gestern Abend war jeder auf der Straße bester Stimmung. Die Spielverderber aus den Massenmedien waren da heute morgen allerdings anderer Meinung.“

Wenn die Toten erwachen – Die Riots in England 2011

DIE ANGST UND DER MUT ZU KÄMPFEN

Nanni Balestrini hat in seiner Trilogie “Die große Revolte” eindrucksvoll an das Schicksal der zehntausenden von subproletarischen Jugendlichen erinnert, die nichts hatten und aus dem Nichts kamen um sich umso vorbehaltloser der Revolte von 1977 anzuschließen. Er erinnerte als einer der wenigen daran, was aus ihnen geworden ist, nachdem die Bewegung zusammengebrochen war unter der Last von politischer Begrenzung, Spaltung und Repression, die Abertausenden, die an der Nadel landeten oder in der Perspektivlosigkeit von Kriminalität, Knast, Kriminalität, Knast… Jene, die sich selbst völlig aufgaben und in der Klapse, auf dem Straßenstrich oder am Strick endeten. Er erinnert in dem Band “Die Unsichtbaren” in einer Art und Weise an die Leere des Blicks der Eingekerkerten, denen nur das ferne Asphaltband der Autobahn als Horizont dort draußen hinter den Mauern geblieben ist, dass es einem beim Lesen vor Schmerz ganz übel wird. Unwillkürlich schleicht der Panther von Rilke durch das Bild:

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der Tahrir Platz wurde 2011 zum Symbol des sogenannten “arabischen Frühling”, jene aufständische Bewegung, die sich durch alle Länder des Nahen Ostens zog und auch weite Teile Afrikas erfasste und ohne die es die “Bewegung der Plätze” in Südeuropa ebenso wie “Occupy Wall Street” nie gegeben hätte. Doch die Besetzung des Tahrir Platzes hätte ohne die Aufopferung der Ultras der großen Kairoer Fussballclubs nicht so lange durchgehalten, an vorderster Front verteidigten sie die Barrikaden, die die Platzbesetzung beschützten. Das (neue) Militärregime nahm wenig später beim inszenierten Massaker im Stadion von Port Said grausame Rache, dutzende Menschen starben, die meisten von ihnen Fans des al-Ahly Clubs aus Kairo, viele waren noch nicht einmal 18 Jahre alt geworden.

Am 22. September 1981 wurde in Westberlin Klaus-Jürgen Rattay getötet, als eine Bulleneinheit Demonstranten unter Knüppeleinsatz in den fließenden Verkehr der Potsdamer Straße trieben, die vor dem an diesem Tag geräumten Haus in der Bülowstraße gegen einen provokanten Presse-Auftritt des faschistoiden Innensenators Lummer in der Bülow 89 protestieren. Klaus-Jürgen Rattay, der aus einfachen Verhältnissen stammte und ohne Mutter bei seinem Vater aufgewachsen war und es nur bis zur Sonderschule geschafft hatte, war mit 18 Jahren monatelang durch Europa getrampt, bis es ihn nach Westberlin verschlug. Am Vorabend seines Todes sagte er in einem Interview im Schatten der besetzten Häuser in der Winterfeldtstraße, die am nächsten Tag geräumt werden sollten: “Ich bin hier einfach nach Berlin gekommen, um teilzunehmen an den Hausbesetzungen und so”…. “Ich bin aus der Gesellschaft ausgestiegen, weil ich keinen Bock hatte, weiterhin zu arbeiten. Weil man auch dauernd unterdrückt wird bei der Arbeit, von irgendwelchen Wichsern. Ich bin jetzt seit anderthalb Monaten hier und finde es gut, dass hier unwahrscheinlich viel gekifft wird. Ich finde es astrein, wie die Leute hier zusammenleben. Vor den Räumungen habe ich Angst, aber ich habe gleichzeitig Mut, zu kämpfen”.

Durch die (vorherrschende) gedankliche Welt der Theoretiker des historischen Materialismus, die heutzutage – ihrer gesellschaftlich-sozialen Fähigkeit zur analytischen Durchdringung der herrschenden Ordnung weitgehend beraubt – vorwiegend nur noch als Folklore selbsternannter Repräsentanten der angeblichen objektiven Interessen der Arbeiterklasse in Form von Gewerkschaften, Parteien und Sekten jeglicher Coleur daherkommen, zieht sich von Beginn an eine Abneigung gegenüber jenen Sektoren des Proletariats, die von Marx und Engels in diversen Schriften dutzende Male als „Lumpenproletariat“ gebrandmarkt wurden, ohne dass eine wirkliche analytische Begrifflichkeit dieses geheimnisvollen „Lumpenproletariats” generiert wurde. Scheinen jene Sektoren der unterdrückten Klasse in den Anfängen der Untersuchungen von Marx und Engels vor allem eine für die revolutionäre Strategie vernachlässigbare Größe, wird das „schnapslustige Lumpenproletariat“ (Marx in ‘Sieg der Konterrevolution zu Wien’, 1848) im Laufe der Jahre zu einer Projektionsfläche, der vor allem aus moralischen Erwägungen mit Vorsicht und Misstrauen zu begegnen sei. Ständig zu willkürlichen, unkontrollierbaren Aufständen neigend, im Kern korrupt und käuflich und damit jederzeit als konterrevolutionäre Masse rekrutierbar. Des Pudels Kern, um ein passendes Wortspiel Goethes über Mephisto zu gebrauchen, ist die historisch eingeschriebene Verachtung der Gralshüter der historischen Linken für jene Segmente des Subproletariats, die man heute nicht mehr “Lumpen” schimpft, denen man aber mit genauso viel Verachtung gegenübertritt, sei es wenn sie zu Silvester die Straßen von Berlin in Brand setzen oder die fürsorglichen Ausgangssperren des Corona – Regimes in den Banlieues von Paris bis Neapel massenhaft brechen. Die geschichtliche Ironie ist aber, dass die Ausbeutungsrealität jener verachteten Klassensegmente nun die unmittelbare Zukünftigkeit der Verwertungslogik des Kapitalismus repräsentiert. In der Auflösung der traditionellen ‘garantierten’ Ausbeutungsverhältnisse finden sich die “zentralen Klassensegmente” zunehmend in eben jener komplexen ökonomischen Verwertungs- und Lebensrealität wieder, in denen das “Lumpenproletariat” sein Überleben ebenso wie sein Aufbegehren schon seit langer Zeit bewerkstelligt.

DIE SCHULE DER BARBAREN

“Die Grenze um das Schwarze Loch, hinter der sich auch Licht nicht mehr entfernen kann, heisst Ereignishorizont. Alles was hinter dem Ereignishorizont geschieht, bleibt für uns unsichtbar. Rechnungen zeigen zudem, dass dort Raum und Zeit durch das extreme Verhältnis von Masse zu Volumen so stark verzerrt sind, dass wir sie nicht mehr mit unseren physikalischen Modellen beschreiben können.”

Erst in jüngster Zeit wird die Bedeutung der Revolten, Aufstände und Kämpfe der “Lumpen” grundsätzlich anders eingeordnet und analysiert. Riot.Streik.Riot von Joshua Clover und Vorwärts Barbaren von Endnotes seien als zwei beispielhafte epochale Werke erwähnt. Wenn wir das Phänomen der historischen Stigmatisierung des “Lumpenproletariats” durch all die großen und kleinen (linken) Denker besser verstehen wollen, könnte es Sinn machen, sich mit der Theoriebildung der ‘beurs’ in Frankreich zu befassen, die sich nicht nur die abwertende Bezeichnung selbstbewusst angeeignet haben, sondern auch eine neue materialistische ‘Schule der Wilden’ entwickelt haben.

“Es ist eine ästhetische Formulierung, die sagen soll: ‘Das sind wir’. Wir sind Barbaren und gleichzeitig sind wir es nicht. Es ist eine Geschichte der Integration von innen gesehen. Wir sind Barbaren, die in der Tat keine Barbaren mehr sind, denn wir befinden uns im Herzen des Imperiums, wir beherrschen die Codes des Imperiums, wir beherrschen die Sprache des Imperiums und gleichzeitig sind wir nicht vollständig integriert, es gibt etwas in uns, das sich widersetzt, es gibt immer noch eine Andersartigkeit in uns, die fortbesteht, und ich denke, das ist das Ziel des Imperiums, sein letztes Land der Eroberung, denn es hat nicht alles erreicht. Ich denke, das ist wirklich die Besonderheit der kolonialen Beziehung und der rassistischen Beziehung. Es ist nicht nur eine strukturelle Beherrschung, sondern eine intime Beherrschung, die sich in jeden Winkel unserer Existenz einschleicht, und so gibt es einen Teil von uns, der sie nicht verstehen kann, und das ist eine Art Niemandsland, tief in der Seele, das sich dem Imperium, der Domestizierung usw. widersetzt.”

Rester barbare – Louisa Yousfi

Bei allen Unterschieden gleichen sich die Mechanismen der Ausgrenzung und Ausbeutung, sowie die Strategien des Überlebens und der Behauptung doch auf faszinierende Art und Weise, auch wenn es im Konkreten nicht immer so brüderlich zugeht wie in ‘La Haine’, wo ein Schwarzer, ein Jude und ein Araber sich durch ihr trostloses Leben in der Banlieue und mit den Bullen schlagen. Um das Notwendige klarzustellen und weil es im Rahmen dieser Textreihe nur möglich ist, Streiflichter zu werfen: Es geht weder um eine neue ‘Randgruppenstrategie’ noch um ein Anwanzen an ‘das migrantische Jugendproletariats’ wie es vor allem von trotzkistischen Splittergruppen samt ihren Vorfeldorganisation gerne in Großbritannien oder auch in Berlin mit all den peinlichen ‘Yalla, Yalla Klassenkampf’ Memes praktiziert wird. Wie schon in “Wurmlöcher des Antagonismus” und in “Exotische Materie” geschrieben, ist es notwendig zu verstehen, wo die neuen ‘Labore der Verwertung’ zu verorten sind und was von der Resilienz der “Lumpen” und “Barbaren” für Verwertungslogik und der ‚Kolonisierung des Bewußtseins’ zu lernen ist.

NO TIME TO DIE

“Wir sagen nicht, dass die Organisierung illegaler bewaffneter Widerstandsgruppen legale proletarische Organisationen ersetzen könnte und Einzelaktionen Klassenkämpfe, und nicht, dass der bewaffnete Kampf die politische Arbeit im Betrieb und im Stadtteil ersetzen könnte. Wir behaupten nur, dass das eine die Voraussetzung für den Erfolg und den Fortschritt des anderen ist. Wir sind keine Blanquisten und keine Anarchisten, obwohl wir Blanqui für einen großen Revolutionär halten und den persönlichen Heroismus vieler Anarchisten für ganz und gar nicht verächtlich.”

Das Konzept Stadtguerilla – Rote Armee Fraktion (April 1971)

Um erneut auf Burkhard Garwegs Text ‘Die Möglichkeit eines historischen Moments ist jetzt’ zurückzukommen. Revolutionäre Politik war weder Anfang der 70er noch ist sie jetzt eine Art Sammelbewegung von Identitäten und Erfahrungen von ‘Teilbereichsbewegungen’, diesem Irrtum unterlagen schon die „Autonomen“, als sie versuchten, aus dem unmittelbaren Zusammenstoß mit dem Staat, der ihnen Anfang der 80er “in den Schoß gefallen” war, eine langfristige strategische Ausrichtung zu entwickeln. Aus diesen grundsätzlichen Missverständnis entstand später auch die sogenannte “Revolutionäre 1. Mai Demonstration”, die versuchte, die soziale Eruption des 1. Mai 1987 in ein politisches Event zu überführen und sich in Kreuzberg bei sogenannten Kiezpalavern mit genau jener kleinbürgerlichen grünen Blase zusammenzusetze, die aus Kreuzberg jenen schrecklichen Ort machte, der heute als „authentische” Kulisse für Ballermann-Tourismus fungiert, während ein Minderheit der ‘Szene’ auf der Straße ganz praktisch das Bündnis mit dem “schnapslustigen Lumpenproletariat” suchte, allerdings auch dabei eine grundsätzliche strategische Analyse und Ausrichtung missen ließ.

Die wirklich spannende Frage wäre, aus welchen Faktoren sich der Kurswechsel der RAF Anfang der 70er zusammensetzte, weg von der „Wechselwirkung zwischen bewaffneten Kampf und politischer Arbeit in Betrieb und Stadtteil”, hin zu einer ausschließlichen Konfrontation mit dem Staat und der Bestimmung als Fraktion im weltweiten antiimperialistischen Kampf. Leider kann der Text von Burkhard Garweg darüber ebenso wenig Auskunft geben wie die historischen Dokumente der Texte und Anschlagserklärungen der RAF aus jenen Tagen. Ganz sicher hat diese “Unsichtbarkeit hinter dem Ereignishorizont” vor allem auch damit zu tun, dass die meisten der Genossinnen und Genossen der RAF, die damals die strategische Ausrichtung der RAF konzipierten, allesamt entweder von den Bullen erschossen wurden oder im Knast “ums Leben kamen”.

So oder so. Es gilt sich nicht mit dem ganzen partizipativen und diskursiven Müll aufzuhalten. “Es reicht nicht, nur aufzurüsten. Wir müssen auch wirtschaftlich wieder Zugkraft entwickeln. Und Deutschland muss die Lokomotive sein. Wir sind das bevölkerungsreichste und ökonomisch stärkste Land in Europa. Wir können es uns nicht aussuchen, ob wir eine zentrale Rolle spielen wollen – wir müssen diese Rolle innerhalb Europas ausfüllen.” So sagte es heute Jens Bodo Koch, CEO von Heckler & Koch in einem Interview. Deutschland auf dem besten Weg wieder eine Großmachtrolle einzunehmen… Kriegsbereitschaft, Wehrpflicht, totale Kontrolle nach Innen. Nach wie vor ist die Parole von “Krieg dem imperialistischen Krieg” hochaktuell, bleibt nur die Frage, wie eine neuer Antagonismus sich konstituieren kann, der dem Leben einhaucht. Die Erfahrungen der ‘brothers and sisters in arms’ sind dafür unverzichtbar.

“Es muss niemandem gesagt werden, dass diese Welt am Abgrund steht. Die Beweise sind überall. Doch nichts an der Katastrophe, die wir durchleben, macht eine Revolution unvermeidlich. Entscheidend ist nicht, anzuprangern oder zu kritisieren, sondern die Nähte zu studieren, die es erlauben, Situationen aufzubrechen, die es zulassen, dass sich Antagonismen ausbreiten und verallgemeinern, die unserem Leben hier und jetzt Bewegung und Zuversicht zurückgeben. Zeitgenössische Kämpfe weiten sich nicht um Ideen oder Ideologien aus, sondern um Gesten, die ihrem Moment einen Sinn geben, situierte Wahrheiten, die es zu verteidigen lohnt. Eine Million richtiger Ideen über die Gegenwart werden von einer einzigen Handlung die diese Realität verändert weggefegt.”

Memes ohne Ende – Adrian Wohlleben

Sebastian Lotzer aus dem Nebel des Orion – 19. April 2025

…wird fortgesetzt

Weiterführende Literatur:

Wenn die Toten erwachen – Die Riots in England 2011; Laika Diskurs 2011

Die große Revolte – Nanni Balestrini; Assoziation A 2008

WIKIPEDIA ausführlich zum Massaker von Port Said
https://de.wikipedia.org/wiki/Stadion-Ausschreitungen_von_Port_Said#:~:text=Bei%20den%20Stadion%2DAusschreitungen%20von,Ausschreitungen%20in%20der%20%C3%A4gyptischen%20Fu%C3%9Fballgeschichte.

RIOT.STRIKE.RIOT – Joshua Clover; Galerie der abseitigen Künste (Verlag) 2021, Hg. der deutsche Ausgabe Dellwo und Szepanski

Vorwärts Barbaren – Endnotes; in der deutschen Übersetzung in der Sunzi Bingfa 2021
https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2021/01/11/vorwaerts-barbaren/,
das engl. Original 2020
https://endnotes.org.uk/posts/endnotes-onward-barbarians

Rester barbare – Louisa Yousfi; La fabrique éditions 2022, eine deutsche Ausgabe ist in Vorbereitung. Eine Rezension von Ferdinand Bigard in der deutschen Übersetzung auf Bonustracks
https://bonustracks.blackblogs.org/2023/07/14/wenn-schonheit-nicht-wehrlos-ist-uber-das-buch-rester-barbare-von-louisa-yousfi/

Das Konzept Stadtguerilla – RAF 1971, online u.a.auf rafinfo.de
https://www.rafinfo.de/archiv/raf/konzept_stadtguerilla.php

Die Möglichkeit eines historischen Moments ist jetzt – Burkhard Garweg 2025 https://www.nd-aktuell.de/artikel/1189554.militante-linke-burkhard-garweg-welt-bewegt-sich-auf-kipppunkt-zu.html

Memes ohne Ende – Adrian Wohlleben 2021 – In der deutschen Übersetzung auf Sunzi Bingfa
https://sunzibingfa.noblogs.org/post/2021/05/31/memes-ohne-ende/
im engl. Original auf ILL WILL
https://illwill.com/memes-without-end#fn49ref

insane-clown-2001.jpgLarge.jpg