Sie werden alle fallen
Fünf Jahre lang haben wir als ‘recherchegruppe aufstand’ das begleitet, was mit dem sogenannten “arabischen Frühling” begann, eine unzutreffende Bezeichnung, weil sich die Aufstände, die im Dezember 2010 von Tunesien ausgingen, durch den gesamten Maghreb, die “arabische Welt”, den Iran und weite Teile Afrikas fraßen, zahlreiche Ethnien, Glaubensgemeinschaften, Communities umfassten.
Besonders der syrische Aufstand hat unsere Herzen bewegt, gegen das vorherrschende Narrativ, dass das syrische Regime im Gegensatz zu den Tyrannen der anderen Länder fest im Sattel sitze, nach dem Massaker in Hama, bei dem das syrische Militär 1982 über 20.000 Menschen abschlachtete, es keine Opposition im Land gäbe, die in der Lage wäre, breite Proteste zu organisieren, gingen im ganzen Land spontan Hunderttausende auf die Straße. Trotz einer unvorstellbaren Repression, dem systematischen Einsatz von Schusswaffen gegen die unbewaffneten Demonstranten, der zum Tod von hunderten von Menschen führte, gaben die Menschen in Syrien nicht auf. Von den großen Städten bis in die Dörfer bildeten sich lokale Koordinierungskomitees, revolutionäre Jugendgruppen, an vorderster Front in diesem asymmetrischen Konflikt standen immer wieder die syrischen Frauen. Trotz dieser Rätestrukturen, der starken Präsenz von Frauen im Widerstand, der anfänglichen Bedeutungslosigkeit islamistischer Gruppierungen, wurde der syrische Aufstand von großen Teilen der metropolitaren Linken ignoriert oder aus “geopolitischen Lagerdenken” (Der “Frontstaat Syrien” gegen Israel, die Anbindung Syriens an Russland, etc.) diffamiert.
Erst mit der Einsicht, dass alle weiteren unbewaffneten Proteste auch zukünftig einfach zusammengeschossen werden würden, bildeten sich erste bewaffnete Zellen aus lokalen Strukturen und Deserteuren aus der syrischen Armee aus denen später die “Freie Syrische Armee” (FSA) hervorging, die im Übrigen wenig bis nicht mit den Einheiten zu tun haben, die heute unter der Bezeichnung FSA in Syrien operieren. Erst im Zuge der Zuspitzung der bewaffneten Konfrontation mit dem Regime tauchten die bewaffneten islamistischen Kräfte auf, die von verschiedene Staaten mit umfangreichen Ressourcen in Form von Waffen, Geld und Logistik versorgt wurden, und über die Jahre letztendlich die dominierende Gegenmacht zum Assad Regime wurde. Viele der Aktivist*innen der Anfangsjahre des syrischen Aufstandes sind getötet oder verhaftet worden, gingen ins Exil oder haben sich zurückgezogen, weil sie sich weder dem Regime noch den islamistischen Kräften unterwerfen wollten. Trotz des jahrelangen Bürgerkrieges, der eine halbe Million Opfer forderte und ein Drittel der Bewohner Syriens zu Flüchtlingen machte, und der vom Regime nur mit der massiven Unterstützung Russlands, des Iran und der Hisbollah scheinbar erfolgreich gestaltet werden konnte, existieren viele Netzwerke der ursprünglichen Revolte bis heute, haben wir in anderer Rolle und unter anderem Namen immer wieder diesen Stimmen Gehör verschafft, indem wir ihre Texte übersetzt und im deutschsprachigen Raum verbreitet haben.
Nun, da scheinbar, von wenigen Stimmen und lokalen Aktionen abgesehen, die Situation in Syrien völlig hoffnungslos schien, das Schicksal Syriens nur noch die Verhandlungsmasse der diversen lokalen und geopolitischen Akteure (Türkei, Iran, Golfstaaten, Russland, USA) zu sein drohte, erreichten die Verwerfungen, die das Beben des 7. Oktober auslöste, auch das syrische Dilemma. Die Entscheidung der Hamas (mit Billigung des Iran und der Hisbollah), “das Schachbrett umzustürzen” (Siehe ‘Rochaden in Nahost’ https://kontrapolis.info/13996/), führte zur Ausschaltung der Führungsebene der Hisbollah, einer bedeutenden Reduktion ihrer militärischen Potenz, sowie zu dem Erkenntnisgewinn der iranischen Führung, dass sie dem Konflikt mit Israel nicht wirklich gewachsen war. In dieser Situation erfolgte die Offensive der von der HTS angeführten Militärkoalition von der syrischen Region Idlib aus gegen das syrische Regime, die wohl nicht ansatzweise die Kühnheit der Möglichkeit enthielt, innerhalb von wenigen Tagen bis nach Damaskus vorstoßen zu können. Selbst die Einnahme von Aleppo dürfte die Erwartungen der Militärkoalition übertroffen haben. Während Erdogan sein Interesse an dieser Offensive die Schwächung der kurdischen Kräfte in Nordsyrien gewesen sein dürfte, weshalb die von ihm völlig abhängige “Syrische Nationale Armee” sofort an verschiedenen Stellen die direkte Konfrontation mit den kurdischen Kräften suchte, scheint die HTS trotz der engen Beziehungen zu Erdogan eine eigene Agenda zu verfolgen. So kam es im Falle von Aleppo zu Verhandlungen mit den kurdischen Streitkräften, die als Schutzmacht für die kurdischen Viertel akzeptiert wurden. Auch generierte sich die HTA im Zuge ihres Vormarsches als „geläuterte“ islamistische Kraft, die die Rechte der diversen Ethnien und Glaubensgemeinschaften “garantiere”. Wie viel Kreide der Wolf HTS nun wirklich gefressen hat, werden die kommenden Zeiten nach dem Fall des Assad Regime zeigen.
Im Kern ist der Sturz Assads nicht vorrangig die Folge der militärischen Leistungen der von der HTS angeführten Militärkoalition, sondern das Zusammenspiel verschiedener Faktoren.
Zum einen natürlich das taktische Momentum mit der Schwächung des Achse Iran/Hisbollah infolge der Konfrontationen mit Israel nach dem 7. Oktober sowie die Schwächung der syrischen Garantiemacht Russland, das mittlerweile im Ukraine Krieg nordkoreanische Einheiten sowie Söldnern der jemenitischen Huthis (sic!) einsetzen muss, weil weitere Mobilmachungen in Russland selbst die Stimmung in der Bevölkerung zum Kippen bringen könnte. (Wobei sich die Ukraine wohl an Russland revanchierte, indem es die Sondereinheiten der HTS am Einsatz von Kampfdrohnen schulte.)
Zweitens die völlige Implosion der Militärmacht Syrien, die einst auf Augenhöhe mit Israel operierte. Umfasste die Truppenstärke vor dem Aufstand im Frühjahr 2011 noch um die 300.000 Mann, so wurde sie im Jahr 2023 auf um die 100.000 geschätzt, zu denen aber noch zahlreiche paramilitärische Einheiten dazu addiert werden müssen. Wobei es diverse Berichte über die völlig unzureichende Kampfbereitschaft diverser Einheiten gibt. Mangel an Waffen und Munition, ausbleibender Sold, weit verbreitete Korruption unter den Offizieren, teilweise bekommen die einfachen Soldaten nicht einmal genug Lebensmittel zur Verfügung gestellt, sondern werden von Familienangehörigen und Einheimischen an den Stationierungsorten “ernährt”. Außerdem, und nicht zu unterschätzen, die Demoralisierung durch 13 Jahre Bürgerkrieg gegen die eigene Bevölkerung. Im Ergebnis gab es beim Vormarsch der von der HTS angeführten Militärkoalition nur an wenigen Orten ernstzunehmenden militärischen Widerstand, aus den meisten Orten zogen sich die syrischen Regierungseinheiten kampflos zurück, die wenigen noch in Syrien stationierten russischen Bomber waren zwar in der Lage, in Aleppo Krankenhäuser anzugreifen, aber trotz zweimaliger Anflüge nicht mal in der Lage eine strategisch bedeutsame Brücke auf der Straßenachse Hama – Damaskus zu zerstören. Am Ende blieb der militärischen Führung nur die kampflose Übergabe von Damaskus an die Rebellen, niemand, nicht einmal die militärische Führung, schien noch gewillt, für Assad zu kämpfen und zu fallen.
Drittens, und das muss an dieser Stelle unbedingt und vorrangig benannt werden, haben die islamistischen Rebellen, so bitter dies auch auf den ersten Blick sein mag, am Ende die syrische Revolution, ihre enormen Mobilisierungen und Opfer, einfach beerbt. Die Assad-Dynastie fiel, weil sie keinen wirklichen Rückhalt mehr hatte, weder in der Bevölkerung noch im Militär. Am Ende haben so ziemlich alle zu den Waffen gegriffen, viele Orte haben sich selbst befreit, selbst viele drusische Ortschaften haben sich bewaffnet erhoben und die oppositionellen Einheiten wurden selbst in den alawitischen Siedlungsgebieten teilweise mit Jubel empfangen.
Der heutige Tag, der Tag des Sturzes des Assad Regimes, gehört der syrischen Revolution, es ist ein Tag der Freude und deshalb sind überall die Menschenmassen auf den Straßen, in Syrien und im Exil. Hunderttausend Menschen sind seit 2011 verschwunden und inhaftiert worden, viele von ihnen werden dieser Tage aus den Foltergefängnissen befreit. Es ist ein Tag der Freude. Das sagen und schreiben auch die syrischen Gefährt*innen. Niemand weiß, was nun kommen wird. Aber niemand wusste auch vor 2 Wochen, was passieren wird. Die HTS und ihre Verbündeten sind nicht ansatzweise in der Lage, das gesamte syrische Territorium zu kontrollieren. Die kurdischen Kräfte sind ein bedeutender Machtfaktor und genießen weiterhin die Unterstützung der USA, das haben die letzten Tage gezeigt. Nun beginnt ein mühsamer Prozess der Austarierung der neuen Kräfteverhältnisse. Die zahlreichen lokalen und geopolitischen Akteure werden hinter den Kulissen ihre Einflüsse und Ansprüche geltend machen. Aber die Geschichte ist immer “unwritten”. Die syrische Gesellschaft kann auf die aufständischen Erfahrungen der Jahre 2011 ff zurückgreifen, der Terror der letzten Jahrzehnte sitzt allen noch in den Knochen, es scheint fraglich, ob ein neues repressives islamistisches Regime so einfach durchzusetzen sein wird, das dürfte auch der HTS und ihren Verbündeten klar sein. So oder so, “wir haben keine Angst vor den Ruinen”. Auf den Straßen schreiben wir Geschichte. Heute auf den Straßen von Damaskus, Hama, Homs und Daraa, der Wiege der Revolution. Und wenn uns der Wind der Geschichte gewogen ist, darüber hinaus. Es ist auf jeden Fall das Wagnis wert.
recherchegruppe aufstand
(aus dem Off), 8. Dezember 2024
P.S. Leider ist mit dem Verschwinden von Blogsport auch unser Archiv verschwunden. Ein Teil unserer Artikel findet sich aber noch im linksunten Archiv unter https://linksunten.archive.indymedia.org/user/1064/blog/index.html