Vorgeführt wie eine Hexe Giorgia Meloni gerät wegen einer in Ungarn inhaftierten Antifaschistin in Bedrängnis: Setzt sie sich für die Italienerin ein oder vergrätzt sie ihren Weggefährten Orbán?
Giorgia Meloni hat ihre politischen Wurzeln im italienischen Faschismus, die Grundschullehrerin Ilaria Salis ist eine militante Antifaschistin. Die beiden verbindet so gesehen wenig. Doch Meloni ist Ministerpräsidentin Italiens, und die italienische Staatsbürgerin Ilaria Salis sitzt seit fast einem Jahr in Budapest in Haft. Die Anklage lautet auf schwere Körperverletzung in krimineller Vereinigung. Darauf steht in Ungarn eine Maximalstrafe von 24 Jahren Haft.
Salis war vor einem Jahr nach Ungarn gefahren, um mit anderen Antifaschisten gegen einen Aufzug von Rechtsextremisten zu demonstrieren, die alljährlich am 11. Februar an eine Aktion der Waffen-SS und ungarischer Soldaten im Jahr 1945 erinnern. Es kam zu Auseinandersetzungen: Neun Menschen wurden verletzt, sechs davon schwer. Salis wird vorgeworfen, zwei Rechtsextreme angegriffen zu haben. Sie bestreitet die Vorwürfe. Nach Angaben italienischer Medien haben die beiden Angegriffenen keine Anzeige gegen Salis erstattet.
Bis vor wenigen Tagen war Salis einer breiten italienischen Öffentlichkeit nicht bekannt. Doch das änderte sich schlagartig, als die 39-Jährige in Budapest dem Richter vorgeführt wurde. Man sieht Salis, die Hände in Handschellen, die Füße mit Lederfesseln verbunden, die Vorhängeschlösser sichern. Ein breites Lederband ist um ihren Körper gebunden, geführt von einer Polizistin. Daneben steht ein Polizist in Kampfuniform und in schusssicherer Weste. Die italienischen Medien veröffentlichten die Bilder. Seitdem herrscht in Italien Empörung. Salis werde wie ein Tier vorgeführt, wie eine Hexe im Mittelalter, schrieben die Zeitungen.
Die italienische Regierung geriet unter Druck. Wie konnte es sein, dass eine italienische Staatsbürgerin in einem Mitgliedsland der Europäischen Union so behandelt werden konnte? Warum blieb die Regierung so lange untätig?
Meloni will den Fall Salis möglichst klein halten
Meloni stellt der Fall Salis vor mehrere Probleme. Sie vermeidet alles, was auch nur im Entferntesten mit Faschismus zu tun hat. Nun sollte sie sich qua Amt um eine militante Antifaschistin kümmern. Ungarn wird zudem von Viktor Orbán regiert, eigentlich einem engen Weggefährten Melonis. Und schließlich musste sich Meloni fragen lassen, warum sie, die doch immer das Interesse der italienischen Nation im Munde führt, so wenig tat, um eine italienische Staatsbürgerin zu schützen.
Meloni verwies darauf, dass die Gewaltenteilung respektiert werden müsse – und die gebe es nun auch einmal in Ungarn. Die Gerichte seien unabhängig. Das ist zwar formal zutreffend, allerdings ließen sich angesichts der vielen rechtsstaatlichen Verstöße Ungarns berechtigte Zweifel äußern. Immerhin hält die EU 20 Milliarden Euro zurück, weil die Regierung Orbán den Rechtsstaat aushöhlt. Meloni allerdings will den Fall Salis aus gutem Grund möglichst klein halten. Deswegen blieb sie bei dem Verweis auf Prinzipien des Rechtsstaates, vermied jede Kritik an Orbán und versprach doch, sich für Salis einzusetzen.
Am Rande des EU–Gipfels am Donnerstag, an dem die EU 50 Milliarden für die Ukraine freigab, sprach Meloni nach eigenen Worten mit Orbán über den Fall Salis. Ohne die Unabhängigkeit der ungarischen Gerichte angreifen zu wollen, habe sie auf eine menschenwürdige Behandlung der Inhaftierten gedrängt – „wie ich das bei allen unseren im Ausland inhaftierten Mitbürgern tue“, sagte Meloni. Ob sie damit Erfolg hat, wird man spätestens beim nächsten Erscheinen von Salis vor Gericht sehen.
Meloni jedenfalls hat im Fall Salis Geschick bewiesen. Als sie im Herbst 2022 italienische Ministerpräsidentin wurde, gab es viele Befürchtungen: Was würde die Erbin des italienischen Neofaschismus nun wohl anstellen? Nun, nichts allzu Aufregendes. Pro Ukraine, pro Nato, pro Europa. Sie bewegt sich außenpolitisch innerhalb des vorgegebenen Rahmens. Ich bin nicht das Problem, ich bin Teil der Lösung. Das ist die unausgesprochene Botschaft der Frau, die aus dem Rechtsextremismus kommt. Auch im Fall Salis gelingt es ihr, den Verdacht zu zerstreuen, sie sei aufgrund ihrer eigenen politischen Herkunft voreingenommen. Sie tut, was man von einer Ministerpräsidentin eines Mitgliedslandes der EU erwarten muss. Sie sagt so viel, wie sie in diesem Amt muss – und kein Wort mehr.
passiert am 02.02.2024