Isolationshaft für einen Anarchisten?

Der Anarchist Alfredo Cospito hat zwei Anschläge verübt. Inhaftiert ist er unter strengsten Bedingungen, die vor allem für Mafiabosse vorgesehen sind. Dagegen protestiert er mit einem Hungerstreik.

Alfredo Cospito war einmal ein großer stämmiger Mann. Groß ist Cospito, 55 Jahre alt, mit seinen 1,94 Metern noch immer. Aber er ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Vor einigen Tagen stürzte er in seiner Gefängniszelle unter der Dusche, brach sich das Nasenbein und verlor viel Blut dabei. Seit dem 22. Oktober ist Cospito im Hungerstreik. Er hat nach Angaben seiner Anwälte mehr als 45 Kilogramm abgenommen, ist von ehedem gut 108 auf jetzt knapp 62 Kilo abgemagert. Cospito ist kein gewöhnlicher Krimineller, er ist kein Mafiaboss und auch kein Terrorist: Cospito ist Anarchist.

Er gehört zur „Federazione Anarchica Informale“ (FAI), einer international vernetzten Organisation von Anarchisten in Italien. Die FAI ist nach Erkenntnissen italienischer Geheimdienstermittler seit 2003 aktiv und besteht aus unabhängigen Zellen, die „horizontal organisiert“ sind, also ohne zentrale Führungsstruktur auskommen. Instrumente ihres Kampfes gegen den Staat sind Bomben- und Brandanschläge, Sabotage und Vandalismus sowie der gezielte Schusswaffeneinsatz gegen prominente Vertreter „des Systems“.

Bewährungsprobe für die Regierung Meloni
Wegen seines prekären Gesundheitszustands wurde Cospito am Montag vom Hochsicherheitsgefängnis Bancali nahe Sassari auf Sardinien in die Strafanstalt Opera im Süden Mailands verlegt. Allerdings gelten für ihn auch dort die Haftbedingungen des „carcere duro“ (hartes Gefängnis), gegen welche Cospito mit seinem Hungerstreik protestiert. Er kann in dem Mailänder Gefängnis aber besser medizinisch betreut werden, sollte sich sein Zustand weiter verschlechtern. Cospito hat mitgeteilt, er werde sich der Zwangsernährung widersetzen.

Der Kasus Cospito wird zu einer Bewährungsprobe für die Mitte-rechts-Regierung unter Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die exakt so lange im Amt ist, wie Cospitos Hungerstreik währt. Das mag ein Zufall sein. Oder auch nicht. Cospito wurde rechtskräftig wegen des Anschlags vom 7. Mai 2012 auf den Chef des Konzerns „Ansaldo Nucleare“, Roberto Adinolfi, verurteilt. Bei dem Attentat verletzte Cospito den Manager mit drei Schüssen in die Beine. Die Methode der sogenannten „gambizzazione“ – jemanden mit Schüssen buchstäblich von den Beinen („gambe“ auf Italienisch) zu holen – gehört zum Einschüchterungsarsenal der Mafia wie auch von politisch motivierten Terroristen.

Den Tag des Anschlags gegen Adinolfi hat Cospito bei Gelegenheit als „den schönsten meines Lebens“ bezeichnet. Der Anarchist zeigt keine Reue. Zum Mittel der Gewalt – auch gegen Personen – im Kampf gegen Staat und Kapitalismus bekennt er sich bis heute. Als weitere Straftat wurde Cospito und seiner Partnerin Anna Beniamino, heute 51 Jahre alt, der doppelte Bombenanschlag auf eine Rekrutenschule der Carabinieri vom 3. Juni 2006 nachgewiesen. Bei dem Attentat mit selbst gebauten Bomben kam damals niemand zu schaden, weil sich die Detonationen in den frühen Morgenstunden ereigneten.

Täglich nur zwei Stunden Hofgang
Cospito sitzt seit zehn Jahren im Gefängnis. Doch seine Haftbedingungen wurden im vergangenen April drastisch verschärft. Das Kassationsgericht hatte in dritter Instanz entschieden, die Bombenattentate von 2006 seien, obschon unblutig verlaufen, als „Anschläge gegen die Sicherheit des Staates“ zu werten. Darauf steht lebenslange Haft ohne Möglichkeit der vorzeitigen Entlassung sowie die Sicherheitsverwahrung nach Artikel 41-bis des Gesetzes zum Strafvollzug.

Aus der Einzelhaft darf der Gefangene demnach nur ein oder zwei Stunden täglich zum Hofgang. Seine Zelle wird rund um die Uhr überwacht. Zeitungen und Bücher werden nicht gewährt. Die Kommunikation mit der Außenwelt ist auf ein Minimum reduziert. Die Gespräche beim Hofgang mit einem wechselnden Mithäftling, der gleichfalls unter „41-bis“ weggeschlossen ist, werden vom Gefängnis überwacht.

Eingeführt wurde diese Regelung Anfang der Neunzigerjahre. Die isolierten Mafiabosse und Terroristen sollten vom Gefängnis aus keine Anweisungen mehr an ihre Komplizen und Anhänger geben können. Zumal die sizilianische Cosa Nostra hatte 1992 mit den Morden in Palermo an den Anti-Mafia-Richtern Giovanni Falcone und Paolo Borsellino dem italienischen Staat den Krieg erklärt. Der Staat reagierte auf die Kriegserklärung. Zudem sollte „41-bis“ als Anreiz zur Kooperation mit den Behörden dienen: Wer sich darauf einließ, wurde mit der Überführung in den normalen Strafvollzug belohnt.

Als Instrument im Kampf gegen das organisierte Verbrechen und den Terrorismus hat sich das nach Überzeugung von Strafverfolgern und Fachleuten bewährt. Doch es gibt grundsätzliche Bedenken gegen das als inhuman und exzessiv kritisierte Haftregime. Derzeit sitzen in Italien gut 730 Männer und ein Dutzend Frauen unter diesen strengen Bedingungen in Hochsicherheitsgefängnissen. 710 von ihnen wegen Zugehörigkeit zu einer Mafiaorganisation.

Angehörige, Anwälte und Anhänger Cospitos argumentieren, die strengen Haftbedingungen seien im Fall des Anarchisten ungerechtfertigt und unverhältnismäßig, schließlich habe er niemanden umgebracht. Über das endgültige Strafmaß für Cospito entscheidet das Berufungsgericht in Turin, an welches das Kassationsgericht den Fall zurückverwiesen hat. Aber erst am 24. Februar. Ob Cospito so lange am Leben bleibt, ist fraglich. Schon jetzt drohen ihm nach Angaben der Ärzte Organversagen und bleibende Schäden.

In den vergangenen Tagen hat es Anschläge von Anarchisten auf diplomatische Einrichtungen Italiens in Berlin, Barcelona und Athen gegeben. Es entstand Sachschaden, verletzt wurde bisher niemand. Teils gewaltsame Proteste von Anarchisten gegen die „Staatsfolter“ wurden aus Rom, Mailand und Turin sowie aus mehreren europäischen Städten gemeldet. Polizeifahrzeuge wurden angezündet, Lieferwagen des halbstaatlichen Telekommunikationskonzerns TIM abgefackelt. Sogar in Santiago de Chile gingen Anarchisten für Cospito auf die Straße. Sollte er im Gefängnis den „Märtyrertod“ sterben, könnte das die anarchistische Szene, die in Italien von beträchtlicher Größe ist, zum verstärkten gewaltsamen Kampf gegen „das System“ anstacheln.

Die Regierung will und kann sich nicht erpressen lassen. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz am Dienstag bekräftigten Innenminister Matteo Piantedosi, Justizminister Carlo Nordio und Außenminister Antonio Tajani, man werde dem Druck nicht nachgeben. „Man verhandelt nicht, wenn man mit Gewalt konfrontiert ist“, sagte Justizminister Nordio. Cospito bleibe in „41-bis“-Haft, bis das zuständige Gericht Ende Februar entscheide.

Eine Debatte im Abgeordnetenhaus zum Kasus Cospito eskalierte am Dienstag, weil der Abgeordnete Giovanni Donzelli von Melonis rechtskonservativer Partei Brüder Italiens aus einer möglicherweise geheimen, jedenfalls vertraulichen Information des Justizministeriums zitierte. Danach hatte Cospito beim Hofgang jüngst mit Mithäftlingen der Camorra und der ‘ndrangheta Kontakt, diese hätten ihn zur Fortsetzung des Hungerstreiks ermutigt. Ferner, so enthüllte Donzelli weiter, hätten vier Abgeordnete der oppositionellen Sozialdemokraten Cospito im Gefängnis besucht.

Dass italienische Parlamentarier Gefangene besuchen, ist nicht außergewöhnlich. Donzelli aber insinuierte, auch die Abgeordneten hätten den Häftling zur Fortsetzung des Hungerstreiks ermuntert. „Auf wessen Seite steht ihr eigentlich?“, rief Donzelli, ein enger Vertrauter von Regierungschefin Meloni, in Richtung der Oppositionsbänke: „Auf der Seite des Staates oder auf der Seite der Terroristen?“ Es kam zu tumultartigen Szenen. Die Opposition fordert, Donzelli müsse von seinem Posten als Vizechef des Geheimdienstausschusses zurücktreten. Die Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen gegen den Abgeordneten wegen des Verdachts des Geheimnisverrats eingeleitet.