Arbeiter*innenräte während der gescheiterten Revolution von 1979 im Iran – Perspektive eines Zeitzeugen und Aktivisten der Rätebewegung

Basierend auf einem Artikelauszug des Zeitzeugen sowie einem gemeinsam geführten Gespräch im Dezember 2022. Den vollständigen Artikel mit weiteren Ausführungen, u.a. zu den Streikbewegungen 2017, 2018 und 2019, findet ihr auf Farsi hier: https://1-may.com/?p=841

English

Vorbemerkung des Zeitzeugen:
Nachfolgend teile ich meine Erfahrungen als aktiver Mitstreiter innerhalb der Arbeiterinnenräte-Bewegung im Iran Ende der 1970er Jahre, die ich insbesondere im Westen Teherans gesammelt habe. Deshalb konzentriere ich mich in meinen Ausführungen auf Teheran, auch wenn es in vielen weiteren Orten richtungsweisende Rätebewegungen gab. Auch ist zu ergänzen, dass es verschiedene andere Räte und Komitees gab, zum Beispiel die der Studentinnen und der Nachbarschaft, allerdings werde ich mich auf meine Erfahrungen in den Fabriken beschränken.

Ich möchte außerdem einen wichtigen Punkt anmerken, der die Schnelligkeit der Vernetzung von uns Arbeiterinnen untereinander und die Organisierung gemeinsamer Proteste angeht. Damals verfügten wir weder über Internet noch soziale Medien, so dass alles viel mehr Zeit in Anspruch nahm, als es bei der heutigen revolutionären Bewegung im Iran der Fall ist. Die Nutzung der sozialen Medien ist ein großer Vorteil für die gegenwärtige Organisierung auf den Straßen und in den Fabriken.  


Die Arbeiterinnenräte sind die fortschrittlichste, widerständigste und lebendigste Form der Arbeiterinnenorganisation im Iran, die aus den Massenstreiks der Arbeiterinnen im Jahr 1979 entstanden sind. Die Rätebewegung ist keine willkürliche Zusammenkunft von Menschen, sondern ein ganz bewusster, zielgerichteter und reflektierter Prozess der Organisierung. Das ist ein wesentlicher Punkt, den externe Beobachterinnen der gegenwärtigen Revolution im Iran meist verkennen: Wenn sie die zentrale Funktion der Arbeiterinnenräte und der Streiks – etwa der Stahlarbeitenden in Ahwaz oder den Arbeitenden der Zuckerrohrindustrie von Haft Tappeh – überhaupt wahrnehmen, dann interpretieren sie diese Streiks als „spontane“ oder „plötzliche“ Proteste.

Dies ist jedoch falsch, denn die heutigen Arbeiterinnenproteste und Streiks weisen eine historische Kontinuität und Weiterentwicklung auf. Auch wenn die Streikbewegung im Iran auf eine lange Geschichte zurückblickt, nahm sie am Ende der 1970er Jahre ihre bis dahin radikalste Form an. Dabei entwickelte sich die Rätebewegung im Iran in einem gesellschaftlichen Klima der Unterdrückung und Lebensbedrohung, denn bereits in der Schah-Zeit war die unabhängige Organisation von Arbeiterinnen und Gewerkschaften verboten. Die Rätebewegung entstand also im Verborgenen und hatte ihren Ursprung in geheimen Komitees. Auch in der Fabrik, in der ich arbeitete, gab es seit 1977 ein geheimes Arbeiterinnenkomitee, in dem ich aktiv mitkämpfte. Mitte 1979 gab es Massenstreiks mit u.a. folgenden Forderungen: die Rückzahlung von ausgesetzten Gehältern, die Zahlung von Sonderzinsen, eine 40-Stunden-Woche/5 Tage (zuvor arbeiteten wir 48 Stunden/6 Tage), die Bereitstellung von Rentenzahlungen, eine Sozialversicherung und insbesondere auch die Freiheit, sich zu organisieren und zu versammeln. Im selben Jahr hatte die Bewegung der Arbeiterinnen aus den Peripherien Teherans (d.h. den Slums mit wohnungslosen Arbeiterinnen) begonnen. Die gewaltsamen Zusammenstöße zwischen Funktionärinnen des Shah und der Polizei mit den Arbeiterinnen veränderten die Situation in Teheran, denn die Protesterfahrung und die Macht der Menschen wuchs mit jeder Auseinandersetzung. Die Kämpfe innerhalb der Fabriken waren – zusammen mit den Protesten auf den Straßen – ein Katalysator für die revolutionäre Entwicklung, insbesondere in Teheran.

Ende 1978 bzw. Mitte 1979 wurden die meisten Fabriken in Teheran von Arbeiterinnen kontrolliert. Diese hinderten die Besitzer und die Vorstände daran, die Fabriken überhaupt zu betreten. Einige Fabriken, einschließlich unserer Fabrik, hatten auch die Kontrolle über die Produktion übernommen. Es ist wichtig zu betonen, dass es nicht nur Frauen* mit zentralen Funktionen in den Räten insgesamt gab, sondern dass es auch Fabriken gab, deren Räte nur aus Frauen* bestanden. 1979 begannen in den meisten Städten und Fabriken großflächige Streiks mit Streikkomitees und Streikkassen. Die Gelder für die Streikkassen kamen großteils von den Arbeiterinnen, ihren Familien und solidarischen Menschen. Im Westen Teherans waren ca. 83 Fabriken im Streik. Es dauerte etwa 2 Wochen, bis wir alle voneinander erfahren haben und jeden Donnerstag gemeinsame Vollversammlungen veranstalten, über unsere Erfahrung sprechen und uns vernetzen konnten. In diesen Räten im Westen sprachen wir regelmäßig über unsere Forderungen wie Löhne, den Umgang mit entlassenen Arbeiterinnen, Krankheiten, Analphabetismusrate usw. Wir haben dann auch von Räten in anderen Teilen Teherans und anderen Städten Irans erfahren.

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Im Oktober 1979 kämpften die Ölarbeiterinnen in Teheran, Abadan und Täbris gegen die verhängten Ausgangssperren und das alte Arbeitsrecht der Shah-Zeit sowie für die Freilassung der politischen Gefangenen und die Rückkehr entlassener Arbeiterinnen. Viele Städte, darunter besonders Sanandaj und weitere Städte im kurdischen Teil Irans1, unterstützten diese Forderungen. Trotz massiver Repressionen von Seiten des Regimes konnten wir tagtäglich weitere Siege und Fortschritte unserer Rätebewegung verzeichnen, denn mit jedem Rückschlag und jedem Erfolg konnten wir unsere Organisierungsfähigkeiten weiter ausbauen und wuchsen enger zusammen. Die Radios und Zeitungen waren voll von Berichten, beispielsweise dass erneut ein Fabrikbesitzer aus seiner Fabrik gejagt worden war. Das ermutigte uns sehr.

Durch die Besetzung der Fabrik und die Kontrolle der Produktion durch uns Arbeiterinnen war das private und öffentliche Eigentum tatsächlich abgeschafft worden, und alles gehörte uns. Das war ein wunderbares Gefühl! Zum Beispiel hatten wir eine Stunde Generalversammlung am Morgen vor der Arbeit. Hier besprachen wir gemeinsam die Arbeitsteilung der verschiedenen Ausschüsse, die sich zusammensetzten aus dem Rat, dem Ausschuss für Beschäftigung und Entlassung, dem Ausschuss für den Erhalt von Sondergewinnen und den Genossenschaftsrechten der entlassenen Arbeitgeber, dem Ausschuss für Technik, dem Ausschuss für die Kommunikation mit anderen Fabriken, dem Einkaufs- und Verkaufsausschuss, dem Finanzausschuss sowie dem Ausschuss für den Kampf gegen Analphabetismus. Um gegen den Analphabetismus vorzugehen, arbeiteten wir mit einem linken Lehrer zusammen. Insgesamt zeigten im Laufe der Zeit verschiedene radikal linke Organisationen,die sich gründeten, fundamentales Interesse an den Arbeiterinnenräten, vor allem die Gruppe „Peykar“ (Organisation des Kampfes für die Emanzipation der Arbeiterklasse) oder „Sarbedaran“ (Union der Iranischen Kommunisten). Die Tudeh-Partei hingegen solidarisierte sich nicht.

Soweit ich mich erinnere, gab es in Teheran etwa 150 Arbeitsräte, die aber nur auf lokaler Ebene mit anderen Teheraner Fabriken kommunizierten. Leider wurde die Kommunikation zwischen Teheran und anderen Teilen Irans sehr unzureichend und unregelmäßig vorangetrieben.

Zudem wurde parallel zu den Räten das sogannente lokale Komitee gegründet. Die Mitglieder des Komitees wurden nachts in Süd-Teheran postiert, etwa in der Shahbaz-Straße, um den Shoosh-Platz, in Tirdogholu und auf dem Chorasan-Platz, um die Polizeieinsätze zu blockieren und zu verhindern. In diesem Viertel lebten Arbeiterinnen, u.a. aus der Textilindustrie wie Chit Ray, Chit Teheran, Chit Momtaz, Melli Schuhe, Bella Schuhe sowie aus der Industriegruppe Behshahr und außerdem viele Schuhmacherinnen und Schneiderinnen. Diese waren im lokalen Komitee (Shoreh Mahalat) mit anderen Unterstützerinnen organisiert. Sie schlossen sich für Angriffe auf die Polizeistation am Chorasan-Platz oder die Kaserne auf dem Jaleh-Platz zusammen, errichteten Straßenbarrikaden und hinderten die Einheiten des Shah daran, das Gebiet einzunehmen.

Wir sehen, dass zeitgleich mit der sukzessiven Machtergreifung Ayatollah Khomeinis eine zunehmende Eroberung von Fabriken zu verzeichnen war, die viele Stadtviertel unter die Kontrolle der Räte brachte. Meiner Meinung nach können wir hier von zwei Mächten oder zwei „Regierungen“ sprechen, die die Gesellschaft Irans prägten. Dies kann zumindest bis zu dem Zeitpunkt gesagt werden, an dem die US-Botschaft von Khomeinis Getreuen im November 1979 besetzt wurde.

Leider war ein Resultat, dass das reaktionäre und konterrevolutionäre islamische Regime immer weiter seine politische Macht ausbauen und durch die Besetzung der US-Botschaft viele linke Organisationen entweder auf seine Seite ziehen konnte, sie spaltete oder zerstörte und die Mitglieder im weiteren Verlauf inhaftierte und hinrichtete. Auch die Arbeiterinnenräte wurden durch das neue Regime ausgehöhlt und in islamische Räte umgewandelt – mit eigenen Funktionärinnen (vor allem mit Basij, der paramilitärischen Organisation, die unter Khomeini gegründet wurde), die seitdem unabhängige Organisierungen in den Fabriken oder Widerstandsbewegungen zu unterdrücken und zu verraten versuchten.

Schwächen der Rätebewegung aus meiner Perspektive

Die revolutionären Räte der Arbeiterinnen und Lohnabhängigen waren in der Lage, die Bourgeoisie in die Knie zu zwingen. Aufgrund eines Mangels an Erfahrung konnten sie diese jedoch nicht dauerhaft abschaffen. Es gelang der Rätebewegung leider nicht, stabile städtische, regionale und nationale Räte zu bilden, um politische, wirtschaftliche und soziale Souveränität auszuüben und sich landesweit zu vernetzen und zu stärken. Erschwert wurde das durch den Verrat verschiedener Parteien und Gruppen wie der Tudeh oder der Volksfedajin Iran (Aksariat), die die Selbstorganisation der Räte erst ignorierten und schließlich ohne Solidaritätsbekundungen den islamischen Komitees überließen bzw. direkt mit dem neuen Regime kollaborierten.

Trotz allem

Die Arbeiterinnen im Iran erheben sich wieder und wieder, wie ihr 2017, 2018, 2019 und jetzt, 2022, gesehen habt und immer noch seht. Sie wollen den Kapitalismus und die Islamische Republik Iran abschaffen und eine sozialistische Welt mit Räten aufbauen. Und mit jedem Widerstand wächst unsere Erfahrung und unsere Macht. Wir werden immer wieder aufstehen und mit Streiks, Protesten und Demonstrationen auf die Straße gehen, bis dieses System zerstört ist.

[1] Ergänzung aus Perspektive des Komitee Mahabad International:  Die kurdischen Gebiete im Iran blicken selbst auf eine lange Geschichte von Arbeiter*innenkämpfen und Widerstand zurück. Ein eindrückliches Beispiel für ihre Selbstorganisation ist beispielsweise die Mahabad Republik (1946).

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passiert am 03.02.2023