Aufstand in der Isolationshaft

Italien hat besonders harte Haftbedingungen für Mafiabosse. Aber darf der Staat sie auch gegen einen Häftling anwenden, der kein Mafioso ist, der niemanden getötet hat? Wie der Fall des Anarchisten Alfredo Cospito zum Politikum wurde.
Von Oliver Meiler, Rom

Im Gefängnis von Sassari auf Sardinien sitzt ein Häftling ein, von dem viele Italiener gerade zum ersten Mal hören. Alfredo Cospito, 55, ist zwar kein unbekannter Mann, beileibe nicht. Aber seine Prominenz ist über die Jahre seiner Haft etwas verblasst. Nun sieht man seinen Namen plötzlich überall, auf Graffitis an Hausmauern, in den Schlagzeilen der Zeitungen. Seit einigen Wochen ist Cospito in einem Hungerstreik, mehr als 20 Kilo hat er schon verloren. Und wenn man die Geschichte dieses „aufständischen Anarchisten“, wie er genannt wird, des Ideologen der Aktivistengruppe „Federazione anarchica informale“, richtig deutet, dann ist er bereit, bis ans Äußerste zu gehen. Seine Anhänger sind besorgt, um ihn und um ihre politische Sache.
Mit seinem Hungerstreik protestiert Cospito gegen seine harten Haftbedingungen, den Strafvollzugsartikel „41-bis“. Dieses Regime ist einst geschaffen worden für den Kampf gegen die Mafia. Fast alles hat man Cospito genommen. Er erhält keine Bücher und keine Zeitungen mehr, darf selbst keine Artikel und Bücher mehr schreiben, wie er das bis vor Kurzem noch durfte. Der tägliche Hofgang wurde von vier Stunden auf eine reduziert, wer ihn dabei begleitet, entscheidet die Anstalt. Besuchen dürfen ihn nur Verwandte. Cospito ist praktisch von der Außenwelt isoliert. Seine Anwälte sagen, das sei unfair und unverhältnismäßig. Ihr Mandant sei schließlich kein Mafiaboss, auch kein Terrorist. Er habe niemanden umgebracht.
Das stimmt, umgebracht hat er niemanden, und doch ist es nicht so einfach. Die Vita von Alfredo Cospito aus Pescara in den Abruzzen ist gezeichnet von zwei schweren Straftaten.
Cospito hat zwei Bomben gezündet
3. Juni 2006, Fossano im Piemont, drei Uhr in der Früh, vor der Rekrutenschule für Carabinieri. In einem Container für Altglas explodiert eine Paketbombe mit Schwarzpulver und Bolzen. Eine halbe Stunde später wieder ein Knall, nur ein paar Meter weiter, in einem Abfalleimer. Wieder ist es eine Paketbombe, diesmal ist die Wucht der Explosion größer. Getötet oder verletzt wird niemand. Die Ermittler erkennen im Operationsmodus eine alte Taktik von Terroristen: Die erste Explosion soll Menschen anlocken, die zweite Bombe tötet sie. Das Kommando besteht aus Cospito und seiner Lebenspartnerin Anna Beniamino, heute 51 Jahre alt, Besitzerin eines Turiner Tattoostudios.
7. Mai 2012, Genua. Cospito passt Roberto Adinolfi ab, den Chef des Atomkonzerns Ansaldo Nucleare, und schießt ihm in die Beine. Drei Schüsse insgesamt. „Gambizzare“, in die Beine schießen, ist ebenfalls eine altes kriminelles Muster, von Terroristen und Mafiosi gleichermaßen angewandt, um Gegner zu warnen und einzuschüchtern. Als Manager der Atomkraft war Adinolfi ein Feind militanter Kernkraftgegner. „Wer mit den Nuklearen marschiert, soll lernen, zu hinken“, hieß danach ein Slogan. Cospito war stolz auf seine Tat, er hat den Feind von den Beinen geholt.
Für den Anschlag auf die Rekrutenschule wurden Cospito und Beniamino in erster und zweiter Instanz je zu langen Haftstrafen verurteilt – wegen „Strage“, was wörtlich „Blutbad“ bedeutet. Gemeint ist Attentat. Im italienischen Rechtssystem gibt es den Tatbestand „versuchtes Attentat“ nicht. Cospitos Haftbedingungen waren zunächst einigermaßen lax. Er schrieb viel im Gefängnis. Die Texte erschienen in einschlägigen Publikationen seiner politischen Welt, es waren Pamphlete und Manifeste. So blieb er immer irgendwie präsent in der Szene. Auch an zwei Büchern schrieb er mit.
War es ein politisches Attentat?
Seine Haftsituation änderte sich abrupt, im vergangenen April. Der Kassationshof, Italiens dritte Instanz und das höchste ordentliche Gericht, hatte die beiden Paketbomben vor der Rekrutenschule als „Strage contro la sicurezza dello Stato“ gedeutet, als politisches Attentat also, Artikel 285 des Strafgesetzbuches. Und darauf steht lebenslängliche Verwahrung nach Artikel „41-bis“, dem härtesten Haftregime Europas. Es ist so hart, dass es immer wieder Debatten darüber gibt, ob es nicht verfassungswidrig sei, ob es nicht das Prinzip der Hoffnung auf Umerziehung verletze, ob es den Häftling nicht langsam töte.
In Kraft trat die heutige Version des „41-bis“ nach den Mafia-Attentaten auf die Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino 1992. Es sollte die Bosse der Unterwelt, die früher auch vom Gefängnis aus einfach weiterregierten und die Haft wie eine Trophäe für ihre Härte herumtrugen, völlig von ihren Clans abschotten. Und sie brechen.

Fortan war es so: Wer Reue zeigte und mit der Justiz kooperierte, konnte sich damit Privilegien erkaufen oder gar freikommen. Wer hingegen schwieg und stur blieb, starb im Gefängnis. Etwa Salvatore „Totò“ Riina und Bernardo Provenzano, Chefs der sizilianischen Cosa Nostra. Und Raffaele Cutolo, Boss der neapolitanischen Camorra. Die Italiener nennen es auch „carcere duro“, hartes Gefängnis.

Ohne „41-bis“, da sind sich in Italien fast alle einig, hätte der Staat in den 1990ern, in der Hochphase der Attentate, die Lage wahrscheinlich nicht so schnell unter Kontrolle gebracht. Anfangs sollte es nur für drei Jahre gelten, dann wurde es aber immer wieder verlängert. Zuweilen wird der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wegen Italiens Umgang mit Häftlingen im „41-bis“ angerufen, bisher ohne Folgen.

Stand Ende 2021, als die jüngste Studie erschien, wurden insgesamt 749 Personen nach Artikel „41-bis“ verwahrt, unter ihnen 13 Frauen. 255 dieser Häftlinge gehörten der kampanischen Camorra an, 201 der kalabrischen ‚Ndrangheta, 213 der sizilianischen Cosa Nostra und 41 der apulischen Quarta Mafia, zu der auch die berüchtigte Sacra Corona Unita zählt.

Bei Alfredo Cospito hat der Kassationshof keine Anzeichen von Reue erkannt, und so wurden ihm auch keine mildernden Umstände eingestanden, keine Alternativstrafen in Aussicht gestellt, keine Privilegien. Aus Sicht seiner Anwälte aber bezahlt Cospito für „ein bisschen Schwarzpulver“ denselben Preis wie die Attentäter von Capaci, die mit einer 500 Kilogramm schweren, ferngezündeten Bombe auf der Autobahn A29 bei Palermo Giovanni Falcone, dessen Frau und Leibwächter in den Tod gesprengt hatten.

Cospitos Anwälte gingen in Berufung, um eine alternative Strafe zu erwirken. Doch die zuständige Instanz, das Tribunale di sorveglianza, wies die Forderung am Montag zurück. Nun liegt die Akte beim Verfassungsgericht, Cospito hungert weiter, und Italien fürchtet sich vor Anschlägen anarchistischer Gruppen.
Ein Anschlag auf eine Diplomatin in Athen hat vor allem Folgen in Rom
Wie groß diese Furcht ist, zeigte unlängst eine Solidaritätskundgebung in Rom, an der nur ein paar Hundert Leute teilnahmen, da ist die Hauptstadt ganz andere Zahlen gewohnt. Doch die Polizei verbarrikadierte die halbe Innenstadt und sperrte Brücken. Hubschrauber kreisten über den Straßen, es wurde laut, da und dort brannte ein Auto, ein Abfalleimer. Als es vorbei war, waren alle erleichtert.

Das Schicksal Cospitos bewegt die anarchistische Szene auch über die italienischen Grenzen hinaus. In Chile etwa versuchten Anhänger vor ein paar Tagen, die italienische Botschaft zu stürmen, die Sicherheitsmaßnahmen wurden sofort verstärkt. Als Anfang Dezember in Athen das Auto einer italienischen Diplomatin in Flammen aufging und die Polizei bei einem zweiten Auto der Angestellten einen Molotowcocktail fanden, dessen Zündschnur nur halb abgebrannt war, nahmen die griechischen Behörden sofort an, dass es sich um anarchistische Täter gehandelt haben könnte. Das Opfer war Susanna Schlein, die Schwester von Elly Schlein, Kandidatin für den Vorsitz des sozialdemokratischen Partito Democratico. Verletzt wurde zwar niemand, doch nun stehen beide Schwestern unter ständigem Polizeischutz.

Es vergingen ein paar Tage, dann bekannte sich eine Gruppe zu der Tat, die sich „Carlo Giuliani Revenge“ nennt. Carlo Giuliani – so hieß der 23-jährige Italiener, der bei den Ausschreitungen am Rand des G-8-Gipfels in Genua 2001 ums Leben gekommen war, er gilt ihnen als Märtyrer. Da kommt also viel zusammen. Im Gericht von Turin, wo der Fall Cospitos verhandelt wurde, rief ein Anarchist aus dem Publikum: „Susanna Schlein, lern mal, richtig zu parken!“

Cospito selbst distanzierte sich vom versuchten Anschlag auf die Diplomatin. „Ich werde wie ein Bluthund dargestellt, wie ein Sprengstoffexperte, aber das ist nicht wahr“, sagte er. Er habe nur eine gewaltsame Tat begangen, damals in Genua, als er dem Manager ins Bein geschossen habe. „Dazu bekenne ich mich, zu anderem nicht.“

Cospito distanziert sich wohl auch deshalb, weil die gewaltsamen Vorfälle dieser Wochen seine Position vor dem Entscheid des Verfassungsgerichts verschlechtern: diese Gewaltbereitschaft seiner Unterstützer, die eingetretenen Schaufenster, die zerstörten Bargeldautomaten, das eingekreiste A auf den Mauern der Städte. Aber vielleicht gewähren die Verfassungsrichter Cospito bald doch noch einige Freiheiten, lockern die totale Isolation, ersparen ihm ein Leben im „41-bis“. Für das höhere Gut der öffentlichen Ruhe.

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