Prozess um Lina E. : „Du hast uns verraten!“

Vor einem Kindergarten in Warschau warten im Frühjahr 2022 Beamte des Bundesverfassungsschutzes. Nach allem, was darüber später bekannt werden wird, haben sie sich mit Kollegen des polnischen Inlandsgeheimdienstes verabredet. So stehen sie also da und harren gemeinsam aus. Bis einer der Erzieher aus dem Haus tritt: Johannes D., 30 Jahre alt. Ein Deutscher, der zu der Zeit in Polen lebt und arbeitet.

Die Beamten fangen ihn ab, sprechen ihn an. D. versteht schnell, was sie von ihm wollen. Er kann es sich denken, so wird er es später vor Gericht erzählen.

Johannes D. soll für die Ermittlungsbehörden über seine alten Freunde aussagen. Über ihre Straftaten und Waffen. Ihre Trainings und Strukturen. Und natürlich über ihre Methoden, die sie anwenden, um bei alldem möglichst unentdeckt zu bleiben.

Zwei Tage Bedenkzeit erbittet er sich. Dann sagt D. zu – was, wie Ermittler später bestätigen, höchst ungewöhnlich ist für einen wie ihn. Kurz darauf wird er zum Kronzeugen in einem Gerichtsverfahren, wie es das in Deutschland lange nicht gegeben hat.

Vor dem Oberlandesgericht Dresden müssen sich seit einem Jahr drei junge Männer und eine Frau verantworten. Ihnen wird vorgeworfen, eine linksextremistische kriminelle Vereinigung gebildet zu haben. Zwischen Oktober 2018 und Juni 2020 sollen sie Jagd auf vermeintliche und tatsächliche Neonazis gemacht, sie ausgespäht, überfallen und dabei 13 Männer teils massiv verletzt haben. Im Mittelpunkt der Gruppe laut Anklage: die 27-jährige Studentin Lina E. Sie soll eine „herausgehobene Stellung“ innegehabt haben, wie es in der Anklageschrift heißt. Lina E. sitzt in Untersuchungshaft. Ihr Verlobter, der auch zu der Gruppe gehört haben soll, ist untergetaucht.

Dass dieser Fall ein besonderer ist, merkte man schon vor zwei Jahren, als E. festgenommen wurde. Bundesweit machte das Schlagzeilen, auch die ZEIT berichtete darüber (Nr. 49/20 und 13/21). Denn es gelingt der Bundesanwaltschaft selten, linksextreme Strukturen zu durchschauen und Taten zur Anklage zu bringen. Und so ist das Verfahren vor dem Oberlandesgericht auch für den Staat eine seltene Möglichkeit, Einblick in die gewaltbereite Szene zu erhalten.

Noch einige Wochen wird es dauern, ehe ein Urteil fällt. Schon jetzt lässt sich allerdings sagen, dass dieser Prozess tatsächlich Erkenntnisse zutage gefördert hat, die nicht nur für die Polizei interessant sind. Sondern auch für alle anderen, die etwas über den deutschen Linksextremismus erfahren wollen. Und das liegt an Johannes D., dem Erzieher aus Warschau, der sich entschieden hat, auszusagen über ein Milieu, aus dem er kurz zuvor verstoßen worden war.

Mindestens sechs Polizisten mit schusssicheren Westen umringen Johannes D. jedes Mal, wenn er in den Zeugenstand tritt. Er selbst könnte, so rein optisch, auch als Moderator der Sportschau gecastet werden: gebügeltes Hemd, weiße Sneaker, sportliche Statur. Allerdings ist solch eine Fernsehkarriere eher unwahrscheinlich: D. ist wegen schweren Landfriedensbruchs vorbestraft und muss sich bald wegen Körperverletzung verantworten, weil er an Taten der mutmaßlichen Gruppe von Lina E., genannt Gruppe E., beteiligt gewesen sein soll.

In Leipzig, erzählt Johannes D., habe er regelmäßig an geheimen Trainings der Linksextremen teilgenommen. Ziel sei es gewesen, Überfälle zu üben. „Es wurden zusammen Bewegungsabläufe trainiert, verschiedene Angriffsweisen.“ Angereist seien Mitstreiter aus Berlin, Frankfurt, Rostock, Bremen und Magdeburg. „Es war schon für den militanten Straßenkampf“, so D. Gelernt habe er, dass Attacken höchstens 30 Sekunden dauern sollten. Das sei genug Zeit, um Schaden anzurichten. Aber auch kurz genug, um nicht ertappt oder selbst attackiert zu werden.

Unter den Angreifern habe es verschiedene Rollen gegeben, etwa die der „Übersichtsperson“, die auf die Zeit achten und anderen Hinweise geben sollte. Trainiert worden sei, markante Körperstellen zu attackieren, um großen Schaden anzurichten. Welche gemeint seien, fragt der Richter. „Knie, Schienbein, Sprunggelenk“, sagt D. Ziel sei es nicht gewesen, Neonazis zu töten. Aber sie nachhaltig zu schädigen. „Um ihre politische Tätigkeit zu unterbinden“, so D.

Wie dieses Training dann angewandt wurde, zeigt sich am 14. Dezember 2019 in Eisenach. Hier stoppt die Polizei in den frühen Morgenstunden einen VW Golf. Darin sitzen Lina E. und Lennart A., der sich später mit ihr vor Gericht verantworten muss. Das Auto ist mit geklauten Nummernschildern unterwegs. Es gehört der Mutter von E. Im Wagen finden die Beamten Pfefferspray und Handschuhe mit Schlagprotektoren.

Wenige Minuten zuvor sollen unter anderem Lina E. und Lennart A. einen Neonazi überfallen haben, Leon R. Sie sollen ihn und einige seiner Bekannten gegen 3.15 Uhr mit Stangen, Schlagstöcken, einem Hammer und einem Radschlüssel traktiert haben.

Lina E. verweigert vor Gericht die Aussagen zu den möglichen Taten, ebenso wie die anderen Angeklagten. Aber Johannes D. spricht über die Geschehnisse in Eisenach. Er habe dort die Funktion des Scouts übernommen und das Lokal des Neonazis beobachtet, um seine Mitstreiter zu verständigen, sobald dieser die Kneipe verlässt. Es sei nicht das einzige Mal gewesen, sagt D., dass er als Späher eingesetzt wurde.

Neben dem Angriff auf Leon R. werden der mutmaßlichen Gruppe um Lina E. weitere Taten zur Last gelegt: ein Überfall auf einen früheren Leipziger NPD-Stadtrat, der gegen Knie und Kopf getreten worden war. Eine Attacke auf den Neonazi Cedric S., der dabei Frakturen an der Lendenwirbelsäule erlitt. Ein Angriff auf einen Bauarbeiter in Leipzig-Connewitz, dessen Jochbein hinterher mit einer Metallplatte fixiert werden musste und der lange unter Angststörungen litt. Die Tat hebt sich insofern von den anderen ab, als dieser Mann offenbar recht zufällig zum Opfer wurde. Die Täter sollen sich an seiner Mütze gestört haben, die von einem rechtsextremen Label stammt, und ihn deshalb spontan verprügelt haben.

Hinzu kommen ein weiterer Angriff auf die Kneipe des Neonazis Leon R. und ein Überfall auf eine Gruppe Männer, die auf dem Heimweg vom rechtsextremen „Gedenkmarsch“ in Dresden war.

Aber ist es wirklich so, dass all diese Taten der Gruppe E. angelastet werden können? Und hat es das tatsächlich gegeben: eine Gruppe? Also eine kriminelle Vereinigung? Laut Strafgesetzbuch handelt es sich dabei um einen organisierten „Zusammenschluss von mehr als zwei Personen“, die zur Verfolgung eines gemeinsamen Interesses Straftaten begehen.

Bis zu jenen Tagen, an denen der Kronzeuge aussagt, gelingt es den Anwälten der Angeklagten, daran bisweilen Zweifel zu säen. Zwar gibt es belastende Beweise. So wurden in den Wohnungen der Angeklagten zig Handys gefunden, die selten benutzt wurden, allerdings regelmäßig zum Zeitpunkt der Übergriffe. Es gibt DNA-Spuren an Tatorten. Abgehörte Gespräche, in denen sich Gruppenmitglieder zu einzelnen Taten bekennen sollen. Fotos eines späteren Tatorts, die Lina E. beim Ausspähen eines Opfers gemacht haben soll.

Allerdings tun sich auch Widersprüche bei den Ermittlungen auf. So stellt sich heraus, dass einer der Angeklagten, Philipp M., für den ihm zur Last gelegten Angriff in Eisenach offenbar ein Alibi hat. Zudem lässt die Anklageschrift Fragen offen. Wann die Gruppe E. unter welchen Umständen gegründet wurde und durch wen, sei „nicht bekannt“, heißt es darin. Die Polizei zählt etwa ein Dutzend Mitglieder dazu, hat aber zunächst nur vier vor Gericht gebracht.

Auch die Aussagen der Opfer wirken nicht immer glaubwürdig. Einige von ihnen sind gewaltbereite Neonazis. Leon R. soll sogar der Terrorvereinigung „Atomwaffen Division“ angehören, sitzt deswegen in Untersuchungshaft. Hat er nicht ein Interesse, die ihm verhassten Linksextremen so stark wie möglich zu belasten? Mehrfach machen die Zeugen jedenfalls widersprüchliche Angaben. Zum Beispiel dazu, ob unter den Angreifern eine Frau war.

Dass um Lina E. allerdings tatsächlich eine Art Gruppe existierte, die planvoll und arbeitsteilig vorging – das legen später die Aussagen des Kronzeugen nahe. Er sei für „Ausfahrten“, wie Angriffe auf Neonazis in der Szene genannt werden, in der Regel von zwei Personen angefragt worden: von Lina E. oder ihrem Verlobten, dem untergetauchten Johann G. Der nahm offenbar, ebenso wie Lina E., eine Schlüsselfunktion ein. So habe sich Johann G. illegal die Daten gestohlener Kreditkarten besorgt, um die Taten mitzufinanzieren. G. habe damit Bahntickets oder Schlagstöcke besorgt. Anders als Lina E. ist Johann G. vorbestraft. Auf seine Finger soll er „Hate Cops“ tätowiert haben, auf seinen Arm die Nummer 129 – gemeint ist offenbar der Paragraf im Strafgesetzbuch, der kriminelle Vereinigungen unter Strafe stellt.

Lina E. und Johann G. hätten bei den Angriffen „den Hut aufgehabt“, so der Kronzeuge. Untereinander hätten sie harmonisch gewirkt. Es sei ein „Verhältnis auf Augenhöhe“ gewesen. Er selber, sagt der Kronzeuge, habe ein freundschaftliches Verhältnis zu ihnen gepflegt. „Es hat menschlich gepasst.“

Was die Frage aufwirft, warum ausgerechnet er das tut, was in der linksextremen Szene verpönt ist: mit der Polizei zusammenzuarbeiten.

„Mein Gedanke war nicht Rache“, sagt er dem Richter. Er habe nicht vorgehabt, mit den Behörden zusammenzuarbeiten. Aber als diese auf ihn zukamen, sprach aus D.s Sicht offenbar doch einiges dafür.

Noch vor reichlich einem Jahr, als der Prozess begann, gehörte Johannes D. zum inneren Kreis der mutmaßlichen Gruppe. Bei einem Treffen der Angeklagten und ihrer Anwälte war er dabei. Dann, im Herbst 2021, bezichtigte D.s Ex-Freundin ihn im Internet der Vergewaltigung. In der linksradikalen Szene heißt das Outing. Statt zur Polizei zu gehen, werden solche Tatvorwürfe öffentlich gemacht, samt Namen, Aufenthaltsort, Bild und Personenbeschreibung. D. wurde von der Szene verstoßen. Auch die Polizei ermittelte später zu den Vergewaltigungsvorwürfen, stellte die Ermittlungen aber wieder ein. D. ging nach Warschau, um dort, wie er sagt, ein neues Leben anzufangen. Aber das alte holte ihn wieder ein.

In Polen sei er, so schildert er es, am Rande einer Demonstration von polnischen Neonazis angegriffen worden. Sie hätten ihn womöglich aufgrund des Outings als Linksextremisten erkannt, glaubt er. Auch seine Stelle als Erzieher habe er verloren. Weil seine Chefin auf die Vergewaltigungsvorwürfe aufmerksam gemacht worden sei. Die Kontaktaufnahme des Verfassungsschutzes war eine Art Rettung für ihn – eine Chance darauf, irgendwo ganz von vorn zu beginnen.

Einmal, als D. aussagt, tritt eine Zuschauerin an die Glasscheibe, die das Publikum vom Verhandlungssaal trennt. „Du wirst einsam sterben, Johannes!“, ruft sie ihm zu. „Wir haben dich geliebt, und du hast uns verraten!“ Aus der linksextremen Szene heraus wird D. bedroht. In Leipzigs Innenstadt finden sich Graffiti mit dem Aufruf, ihn zu töten. Er ist im Zeugenschutzprogramm der Polizei. Und damit auf jene Institution angewiesen, die er einst verachtet hat.

Beharrlich versuchen die Anwälte der Angeklagten, die Glaubwürdigkeit von Johannes D. in Zweifel zu ziehen. Will er sich an seinen alten Freunden rächen? Oder fühlte er sich von der Polizei unter Druck gesetzt, Details auszupacken oder gar hinzuzudichten, um auch wirklich als Kronzeuge infrage zu kommen? Einmal, als D. die Struktur der Gruppe E. zu schildern versucht, werden seine Beschreibungen tatsächlich schwammig. Oft sind sie aber auch konkret.

Etwa wenn es darum geht, wie er und andere versuchten, möglichst klandestin aufzutreten. Bei Angriffen auf Neonazis nehme man nicht das eigene Smartphone mit. Stattdessen kaufe man dafür billige Telefone, deren Sim-Karten auf andere Personen zugelassen seien. Allein um zu testen, ob diese sogenannten Safehandys funktionieren, fahre man in andere Stadtteile, um der Polizei keine Rückschlüsse auf den eigenen Wohnort zu erlauben. Zu Treffen der Szene fahre man nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln, weil diese von Kameras überwacht würden, sondern mit dem Fahrrad, und zwar bewusst auf Umwegen. Selbst zu einer Szene-Party sei Lina E. einmal verkleidet angereist, um von eventuellen Beobachtern des Verfassungsschutzes nicht erkannt zu werden, sagt D. Für den untergetauchten Johann G. habe er bei eBay Kleinanzeigen das Outfit eines Pizzaboten besorgt, das zu Tarnungszwecken dienen sollte. Auch wie man an Tatorten DNA-Spuren vermeide, „war die ganze Zeit Thema“, so D. Was bei den Angriffen nicht gut gelaufen sei, dazu habe es „verschiedene Nachbereitungen“ gegeben.

Obwohl er umfassend erzählt – vorsichtig, ohne Belastungseifer, aber detailliert –, bleibt eine zentrale Frage offen: Wer genau ist eigentlich Lina E.? Wer ist diese schmale junge Frau, die nach Überzeugung der Bundesanwaltschaft bereit war, durchtrainierte, gewaltbereite Neonazis zu überfallen und zu beschatten?

Lina E. schweigt zu den Vorwürfen. Aber die Art, wie sie vor Gericht auftritt, erzählt doch etwas über sie. Ihre Unterstützerinnen und Unterstützer – von denen zahlreiche jeden einzelnen Prozesstag verfolgen – empfangen sie im Saal stehend, manchmal applaudierend. Der Prozess hat E. zur Märtyrerin gemacht. „Free Lina“-Graffiti finden sich nicht nur in Leipzig oder Berlin, sondern sogar auf der Kanaren-Insel La Gomera. Im Gericht sucht E. oft Blickkontakt zum Publikum, mal formt sie die Finger beider Hände zum Herz, mal wirft sie ihrer Mutter Luftküsse zu. Meist wirkt sie selbstbewusst, manchmal sogar fröhlich. Und einmal spricht sie auch. Zwar nicht zu den Vorwürfen, aber zu ihrer Biografie. E. entwirft da das Bild einer überlegten Frau, die bewusst ihre Studienentscheidungen traf. Ihr Vater sei Oberstudienrat, ihre Mutter Erzieherin. Sie habe Sozialpädagogik studiert, um mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. In der Zukunft wolle sie versuchen, ihr Masterstudium zu beenden und im sozialen Bereich wieder „Fuß zu fassen“.

Johannes D., der Kronzeuge, erzählt einmal über Lina E., dass sie anders aufgetreten sei als ihr Verlobter, nicht so impulsiv. „Sie war für mich immer so die Ruhe in Person“, sagt D. Über ihre Motivation, ein möglicherweise kriminelles Doppelleben zu führen, spricht er nicht. Dafür über seine eigene.

Sein Ziel sei es gewesen, sagt Johannes D., die Gesellschaft zu verändern. Rechtsextreme einzuschüchtern. Auch „eine gewisse Erlebnisorientiertheit“ habe eine Rolle gespielt. Bereut er? Ganz schlau wird man da aus D. nicht. Manchmal rechtfertigt er die Taten. Dann sagt er allerdings: Was er gemacht habe, fühle sich heute „irgendwie idiotisch an“.

Mitarbeit: Mona Berner, Christian Fuchs, August Modersohn, Aaron Wörz

https://www.zeit.de/2022/49/prozess-lina-e-johannes-d-linksextremismus

passiert am 03.12.2022