Als er ausstieg, schickte er dem SPIEGEL seine Pistole

Als Linksterrorist der Revolutionären Zellen war er an der OPEC-Geiselnahme 1975 beteiligt. Hans-Joachim Klein löste sich aus der Gewaltspirale – mit einem Paukenschlag und sehr eigenen Wahrheiten. Nun ist er in Frankreich gestorben.

Sein 28. Geburtstag war der Wendepunkt seines Lebens. Am 21. Dezember 1975 überfiel Hans-Joachim Klein, Mitglied der Internationalen Revolutionären Zelle (IRZ), die Ministerkonferenz der Organisation Erdöl exportierender Länder (Opec) in Wien – als Teil eines internationalen Kommandos unter Führung des mythenumrankten Ilich Ramírez Sánchez, besser bekannt als »Carlos«. Ebenfalls dabei war Gabriele Kröcher-Tiedemann von der Bewegung 2. Juni.

Die sechs Terroristen nahmen 62 Geiseln, darunter elf Erdölminister, und erschossen drei Menschen. Bei einem Schusswechsel wurde Hans-Joachim Klein durch einen Querschläger im Bauchraum schwer verletzt und in ein Krankenhaus eingeliefert. Die Bilder seines Abtransports gingen um die Welt.

Nach zähen Verhandlungen konnte »Carlos« seine Forderungen durchsetzen: freies Geleit für das Kommando und die Geiseln, Bereitstellung eines Flugzeuges sowie der Transport von Klein zum Flugzeug. Nach Zwischenstopps in Algerien und Libyen wurden die Geiseln freigelassen, vermutlich gegen die Zahlung eines Lösegelds in Millionenhöhe. Die Terroristen konnten mit Klein untertauchen.

Durch die Teilnahme an der Opec-Geiselnahme musste Klein viele Brücken in die linksradikalen Milieus abbrechen. Fortan bildete er als Mitglied einer auf internationale Aktionen spezialisierten Splittergruppe um Wadi Haddad in einem Palästinensercamp westdeutsche »Stadtguerilla«-Mitglieder aus. Seine Lebensgeschichte war eine Mischung aus Militanz und Abenteuerlust, Enttäuschungen und Lebenslügen, Selbstmitleid und Unwahrheiten. Sie machte ihn zu einer tragischen Figur des westdeutschen Linksterrorismus.

»Ich habe genug angestellt.«
Hans-Joachim Klein in seinem Brief an den SPIEGEL

Hans-Joachim Klein gehörte zu jenen, die sich selbst vom Terrorismus lossagten, wie etwa auch Michael »Bommi« Baumann; der Mitbegründer der Bewegung 2. Juni erklärte dem SPIEGEL 1974 in einem Interview, er habe Gewalt als Irrweg erkannt (»Freunde, schmeißt die Knarre weg«). An den SPIEGEL wandte sich ebenso Klein – mit einem Paukenschlag: Im Mai 1977 schickte er einen Brief mit der Botschaft »Ich habe genug angestellt« an das SPIEGEL-Büro in Rom, mitsamt seines Revolvers (Kaliber 0,38), Munition und Fingerabdrücken. Er warnte vor Anschlägen der Internationalen Revolutionären Zelle gegen jüdische Funktionsträger.

Danach gab Klein aus seinem neuen französischen Versteck in Sainte-Honorine-la-Guillaume in der Normandie immer wieder dem SPIEGEL und französischen Journalisten Interviews, ohne dass deutsche Ermittler seinen Aufenthaltsort feststellen konnten. Der SPIEGEL veröffentlichte auch exklusiv 1979 Vorab-Leseproben aus Kleins Buch »Rückkehr in die Menschlichkeit«.

In unzähligen journalistischen und wissenschaftlichen Veröffentlichungen wurde Klein als Kronzeuge der internationalen RZ-Geschichte zitiert. Aus seinem Buch stammt vieles, was wir über Verstrickungen westdeutscher »Stadtguerilla«-Mitglieder der RAF, der Bewegung 2. Juni und der Revolutionären Zellen zu wissen glauben.

Bereits im Vorwort dieses »Appells eines ausgestiegenen Terroristen« warnte Herausgeber Freimut Duve indes: »Eine intensive Diskussion mit dem Autor war nicht möglich. Skepsis gegenüber einzelnen Passagen mußte zurückstehen hinter diesem Ziel: den Terrorismus der achtziger Jahre verhindern, bevor er entsteht.« Die Skepsis gegenüber vielen Buchpassagen blieb jedoch weitgehend aus.

Gestrüpp von Lügen und Widersprüchen

Seine Abkehr vom Terrorismus begründete Klein auch mit seiner angeblich jüdischen Familiengeschichte und geplanten Attentaten aus Rache wegen der misslungenen Freipressungsaktion im Sommer 1976 in Uganda. Seine ehemaligen Freunde Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann hatten ein Air-France-Flugzeug nach Entebbe entführt, wo israelische Einsatzkräfte die Geiselnahme beendeten.

Nur stimmte die Geschichte nicht: Seine Mutter war keine Jüdin. Von Klein stammt auch die langlebige These, dass bei der Olympia-Geiselnahme 1972 mit Wilfried Böse, Mitbegründer der Revolutionären Zellen und später der Internationalen Revolutionäre Zelle, militante Linke das palästinensische Entführungskommando des »Schwarzen September« unterstützten. Das konnte ebenfalls nie verifiziert werden und gilt als sehr unwahrscheinlich.

Als Kronzeuge in Prozessen gegen frühere RZ-Mitglieder Anfang der Nullerjahre und, gut ein Jahrzehnt später, speziell im sogenannten Opec-Prozess gegen ein ins französische Exil abgetauchtes RZ-Duo verstrickte sich Klein derart in Lügen und Widersprüche, dass am Ende trotz aller Versuche des Generalbundesanwaltes Verurteilungen nicht möglich waren.

Mit der Wahrheit, das wurde früh klar, nahm er es oftmals nicht so genau. Hans-Joachim Klein galt bereits Anfang der Siebzigerjahre als Maulheld und Selbstdarsteller. Ob er bewusst log, ob er sich aufgrund der traumatischen Ereignisse eine Geschichte nachträglich zurechtlegte – es wird ungeklärt bleiben müssen.

Radikalisierung in der linken Frankfurter Szene

Sein Weg in den »bewaffneten Kampf« ist auch aus seiner Lebensgeschichte zu erklären. Hans-Joachim Klein, 1947 in Frankfurt am Main geboren, wuchs bei einem gefühlskalten und brutalen Vater auf, so beschrieb er es. Konfrontiert mit Gewalt und Einsamkeit kam er in ein Erziehungsheim, in dem es nicht minder gewalttätig zuging. Nach Autodiebstählen und Raubüberfällen musste er eine Haftstrafe antreten, arbeitete dann nach einer Reihe abgebrochener Ausbildungen in einfachen Jobs und verkehrte regelmäßig in den studentischen Kneipen im Frankfurter Westend.

Hier bekam er Kontakt zur 68er-Bewegung, las erste Flugblätter, hörte linken Studentinnen und Studenten zu – ohne viel zu verstehen. Er ging zu Teach-Ins und imitierte vermeintlich studentisches Verhalten. Weil seine Einberufung bevorstand, spannte ihn der Verband der Kriegsdienstverweigerer für Agitationszwecke in der Bundeswehr ein. Nach dem Wehrdienst engagierte er sich in linksradikalen Gruppierungen, nahm an politischen Schulungen in Stadtteilgruppen teil und gründete die Rote Hilfe Frankfurt mit.

Früh schon hatte er im Zuge der »Heimkampagne« Kontakt zu den späteren RAF-Führungsfiguren Gudrun Ensslin und Andreas Baader. Eingebunden war Klein in klandestine Tätigkeiten von Teilen des linksradikalen Frankfurter Milieus um die Mitbegründer des Verlags Roter Stern sowie Wilfried Böse und Johannes Weinrich, später bei der Internationalen Revolutionären Zelle.

Sie nannten ihn spöttisch »Klein-Klein«

Da Klein als fähiger Schrauber galt, reparierte er für die Frankfurter »Genossinnen und Genossen« die Autos und stellte sie – mit der Ausrede notwendiger Testfahrten – heimlich bereit, etwa für Waffen- und Sprengstofftransporte geklauter Materialien aus US-Depots oder zur Unterstützung der Black Panther Party in Deutschland. Die so transportierten Waffen wurden später europaweit bei Attentaten und Anschlägen eingesetzt.

Die studentisch geprägte linksradikale Frankfurter Szene blickte zunächst verächtlich auf den lauten, impulsiven »Proletarier« und verpasste ihm den despektierlichen Spitznamen »Klein-Klein«. Im Zuge der Hausbesetzungen im Westend ab Herbst 1970, dem Frankfurter Häuserkampf, konnte er sich jedoch durch seine Militanz viel Respekt verschaffen.

Das linksradikale Milieu erlebte immense Enttäuschungen – ständige Auseinandersetzungen mit der Polizei, das repressive Vorgehen gegen linke Strömungen in der Bundesrepublik, das Auseinanderbrechen von Stadtteilgruppen durch internen Streit, die Instrumentalisierung der Roten Hilfe durch die RAF im Zuge der ersten Hungerstreiks.

Klein wollte nun vor allem inhaftierte RAF-Mitglieder unterstützen und, spätestens nach dem Tod von Holger Meins, aktiv in den »bewaffneten Kampf« einsteigen. Wegen schlechter Erfahrungen mit Teilen der RAF entschied er sich aber für einen anderen Weg.

Zwei Jahre »bewaffneter Kampf«

Wilfried Böse warb Klein für die IRZ an, während besonders Daniel Cohn-Bendit, beunruhigt über zunehmende Militanz und Gewalt, auf ihn mäßigend einzuwirken versuchte. Von 1974 bis 1976 war Klein mit Böse und Brigitte Kuhlmann beteiligt an Verflechtungsbemühungen und gemeinsamen Aktionen von IRZ und der Europazelle der »Haddad-Gruppe« unter Führung des venezolanischen Terroristen »Carlos«. Auch zur Vorbereitung des Opec-Überfalls übernahm die IRZ wichtige logistische Funktionen.

Nach Kleins Aussage waren 1975 vier IRZ-Mitglieder in Wien und unterstützten das Kommando mit Informationen. Nach der Geiselnahme versteckte sich Klein, als seine Verletzungen verheilt waren, im Wadi-Haddad-Ausbildungslager im Südjemen und trainierte deutsche Linksterroristen im Umgang mit Waffen und Sprengstoffen.

Da Böse und Kuhlmann 1976 in Entebbe getötet worden und von den IRZ nur Reste übrig geblieben waren, war Klein im Camp gefangen. Um es verlassen zu dürfen, schloss er sich kurzzeitig der Bewegung 2. Juni an und ließ sich danach in einem »Safe House« der IRZ im italienischen Aosta-Tal nieder. IRZ-Mitglieder versorgten ihn mit Geld und einer Waffe, doch Klein plante seinen Ausstieg.

Ein heimliches Leben in Frankreich

Er schrieb die Rohfassung seines Buches, floh aus seinem Versteck und fand durch Zufall Kontakt zu einem Bekannten aus seinem geliebten Frankfurter Milieu. So erhielt er Unterstützung durch seine alten Freunde Daniel Cohn-Bendit, Matthias Beltz und einige andere, die sich die »JEMANDE« nannten. Und dann stieg er 1977 spektakulär aus – mit seinem Brief nebst Pistole an den SPIEGEL.

Fast ein Vierteljahrhundert lebte Hans-Joachim Klein im Untergrund und plante angeblich ab 1997, sich selbst zu stellen. In seinem französischen Versteck gab er sich als deutscher Journalist aus, heiratete eine Französin, sie bekamen zwei Kinder. Nach der Trennung von seiner Frau versuchte er sich mehrfach, das Leben zu nehmen.

1998 konnte Hans-Joachim Klein festgenommen werden. Er wurde nach Deutschland ausgeliefert und belastete als Kronzeuge fälschlich ehemalige RZ-Mitglieder, an der OPEC-Geiselnahme beteiligt gewesen zu sein, wahrscheinlich, um eine mildere Strafe zu erhalten.

Nachdem alle Prozesse geplatzt waren, wurde er im Februar 2001 wegen dreifachen vollendeten Mordes, Mordversuchs und Geiselnahme zu neun Jahren Haft verurteilt. Er profitierte dabei von der Kronzeugenregelung und wurde 2003 durch den hessischen Justizminister Jörg-Uwe Hahn begnadigt.

Tod in Frankreich

Klein trat in einigen Dokumentationen auf und erzählte immer wieder abweichende Geschichten. Nach seiner Haftentlassung ging er zurück nach Sainte-Honorine-la-Guillaume, ein Dorf in der Normandie. Seine Nachbarn berichteten der Tageszeitung »Ouest-France«, dass das Gefängnis ihn zerstört und er Abstand von ihnen genommen habe.

Hans-Joachim Kleins gesamtes Leben war geprägt von seinen zwei Jahren im »bewaffneten Kampf«. Seine Biografie zeigt manche Parallelen zu der des Terroristen Peter-Jürgen Boock, der ebenfalls als »Heimkind« zu den Terroristen stieß und sich in der Frankfurter Szene bewegte, ein »Techniker der RAF« – später galt Boock wegen widersprüchlicher Aussagen und einiger Lügen als »RAF-Märchenonkel« oder auch »Karl May der RAF«.

Kleins Beispiel zeigt, wie schnell und fließend die Wege in die politische Gewalt in den Siebzigerjahren waren – selbst wenn sich engste Freunde mühten, die Radikalisierung zu stoppen. Der »bewaffnete Kampf« brachte auf allen Seiten nichts als Leid und Trauer: zuerst und vor allem den Opfern des bundesdeutschen Linksterrorismus, daneben auch den Terroristen selbst. Hans-Joachim Klein starb am 9. November im Alter von 74 Jahren in Sainte-Honorine-la-Guillaume.

passiert am 09.11.2022