Rechtsextremismus: Als Lukas F. eine Bombe in Deutschland zündet, ist er 16 Jahre alt

Als Lukas F. eine Bombe zündet, ist er 16 Jahre alt
Stand: 22.07.2022 | Lesedauer: 22 Minuten

Jugendliche Neonazis bauen Terrorzellen in Europa und den USA auf, um bewaffnete Anschläge zu verüben. Minderjährige werden dort für den „Rassenkrieg“ rekrutiert. Eine rund einjährige Recherche von „Insider“, „Politico“ und WELT AM SONNTAG legt Interna des Netzwerks offen.

Als Lukas F. im Sommer 2021 ein verfallenes Kasernengelände betritt und für das Leben als Terrorist probt, ist er 16 Jahre alt, ein schmaler Junge mit dunklem Haar. Das Grundstück liegt etwa 45 Minuten vom Stadtzentrum Potsdams entfernt. Früher hat es die Wehrmacht genutzt, später die Sowjets, ganz in der Nähe liegen beliebte Badeseen.

Ein Donnern hallt über das Gelände, ein Feuerball flammt auf. Eine Bombe detoniert, dann eine zweite.

Lukas F. filmt die Explosionen mit seinem Handy. Vor Monaten hat er eine Gruppe gegründet, in der sich jugendliche Neonazis aus mehreren Ländern zusammengefunden haben. Sie wähnen sich in einem „Rassenkrieg“. Die Bomben, schreibt Lukas F. in deren Chat, sind ein Test. Für die Gruppe.

Mit 16 oder 17 Jahren ist die Welt der Teenager normalerweise geprägt von Partys, Bier trinken, dazwischen Klassenarbeiten, Schulabschluss, der ersten Liebe. In der Welt von Lukas F., der eigentlich nicht so heißt, hier aber – weil er minderjährig ist – nicht bei seinem echten Namen genannt wird, ist etwas anderes bestimmend.

Lukas F. ist Teil eines Netzwerks, in dem sich Jugendliche aus der ganzen Welt gefunden haben. Teenager, fast Kinder noch, die über verborgene Chatgruppen rechtsextremes Gedankengut austauschen, Nazi-Propaganda, Videos von Anschlägen – und die sich damit gegenseitig so hochpuschen, dass einige irgendwann glauben, sie müssten zu Kriegern im Kampf gegen die liberale Ordnung werden. Zu Terroristen.

Es gibt Dutzende solcher Gruppen, die sich untereinander verbinden und so ein internationales Netz bilden – von der Westküste der USA quer über den Atlantik und durch Europa bis in die entlegensten Winkel des Baltikums. Sie geben sich martialische Namen, angelehnt an die Propaganda der Nationalsozialisten: „Feuerkrieg Division“ heißt die bekannteste dieser Gruppen. Lukas F., der damals 16-jährige Teenager aus Potsdam, war nicht nur Mitläufer, er gründete seine eigene Gruppe, eng verdrahtet im Netzwerk. Er nannte sie „Totenwaffen“.

Mehr als ein Jahr lang haben Reporter von WELT AM SONNTAG, POLITICO und INSIDER das Innenleben dieses rechtsterroristischen Netzwerks aufgedeckt. Sie gelangten mit getarnter Identität in rund zwei Dutzend Chatgruppen des Netzwerks, sie sprachen mit Insidern, sicherten mehr als 98.000 Nachrichten, darunter Fotos und Videos. Dabei kamen auch Todeslisten, Morddrohungen gegen Politiker und Journalisten, Anleitungen zum Bombenbau und zur Herstellung von Waffenteilen mit 3-D-Druckern ans Licht.

Während der Recherche gelang es den Redaktionen, die wahre Identität einiger Mitglieder der Gruppen herauszufinden. Zum Beispiel identifizierten sie Lukas F., der sich online hinter wechselnden Pseudonymen versteckte. Sein Fall zeigt, wie es dazu kommen kann, dass schon Jugendliche sich so stark radikalisieren, dass sie darüber sprechen, Menschen zu ermorden – und welche Rolle das Netzwerk im Hintergrund dabei spielt. Zugleich wird deutlich, warum es Sicherheitsbehörden so schwer fällt, es zu zerschlagen.

Mit der Schule nach Sachsenhausen

Die Geschichte von Lukas F., so viel lässt sich in Gesprächen mit Menschen aus seinem Umfeld recherchieren, beginnt in Belarus. Dort kommt er vor 17 Jahren auf die Welt. Seine Mutter ist Belarussin, sein Vater Kasache, dessen Familie aus Deutschland stammte. Als Lukas F. ein Kleinkind ist, zieht die Familie nach Potsdam. Die Eltern bekommen zwei weitere Söhne, mit einem der beiden teilt sich Lukas F. bis zuletzt ein Zimmer in einer Wohnung in einem Hochhaus im Potsdamer Zentrum.

Im Internet findet man Kinderfotos, die Verwandte von Lukas F. hochgeladen haben. Geburtstage mit Partybechern aus Plastik, Familienurlaub in Polen, stolze Großeltern. Es gibt ein Foto, auf dem Lukas F. mit einem seiner Brüder und dem Vater auf einem Militärfahrzeug sitzt. In Belarus, erzählt jemand aus seinem Umfeld, sei die Familie beim Urlaub auf den Schießstand gegangen, auch die Söhne hätten schießen dürfen.

Noch heute hat die Familie Verwandte in Belarus und, darauf gibt es Hinweise, ein Haus. In dem Land, so schreibt Lukas F. einmal, habe er eine Waffe. Später erzählt den Reportern jemand, dass es sich dabei um ein Luftgewehr handeln soll, das der Familie gehöre.

In Potsdam kommt Lukas F. auf eine Oberschule. Dort, so berichten rückblickend mehrere Mitarbeiter, sei er nicht durch besonderes Engagement aufgefallen. Aber einmal habe er sich freiwillig gemeldet, um durch eine Ausstellung in der Schule zu führen. Es war eine Ausstellung über Rechtsextremismus, und Lukas F. stellte eine Schautafel über rechtsradikale Symbole vor.

Zu dieser Zeit, erzählt jemand aus seinem Umfeld, habe Lukas F. oft Computer gespielt. Er habe viel Zeit bei Discord verbracht, einem Ort, an dem sich Fans von Videospielen treffen und miteinander chatten. Lukas F. habe dort Schwule und Lesben gemobbt, zusammen mit Gleichgesinnten.

Mit 15 fährt Lukas F. mit der Schule ins Konzentrationslager Sachsenhausen. Es ist einer dieser pädagogischen Ausflüge, die Schülern die Gräueltaten der Nazis veranschaulichen, sie nachhaltig aufklären und warnen soll. Bei Lukas F. aber, das erzählt später sein Bruder den Reportern, passiert danach dies: Er habe an seinem Computer als Hintergrundbild ein Hakenkreuz eingestellt. Der Bruder sagt, der KZ-Besuch sei für Lukas F. ein Wendepunkt gewesen.

Rückblickend schreibt Lukas F., er habe „seinen Hass“ mit 14 oder 15 bemerkt. „Zuerst wollte ich nicht wahrhaben, dass ich ein Nationalsozialist bin, aber jetzt kämpfe ich dafür.“ In seine Chatgruppe schreibt er, der Holocaust sei eine „Säuberung“ gewesen. Er könne nicht verstehen, warum Leute glauben würden, er habe nicht stattgefunden. „Er ist real, und er war richtig.“

Irgendwann legt Lukas F. ein Profil in einem russischen sozialen Netzwerk an. Dort zeigt er sich in Flecktarn und mit einer Totenkopfmaske über dem Gesicht. Ganz oben auf seine Seite schreibt er: „Die Welt mit einem Blutbad überziehen“. In dem sozialen Netzwerk sind auch seine Eltern mit ihm befreundet; es ist unklar, wie genau sie hingeschaut haben. Dass sie die Einstellung des Sohnes teilen, lässt sich aber nicht feststellen. „Mein Vater ist leider Kommunist“, schreibt Lukas F. einmal.

Der Ideologe aus den USA

Um zu verstehen, was in den Köpfen von Jugendlichen wie Lukas F. vorgehen mag, muss man ein paar Jahre zurückblicken – und auf die andere Seite des Atlantiks. Dort, im US-Bundesstaat Colorado, lebt James Mason, ein mittlerweile 69-Jähriger Mann, der schon mit 14 in eine amerikanische Nazi-Partei eingetreten ist und zwei Jahre später den Mord seines Schulleiters geplant, ihn letztlich aber nicht durchgeführt hat. Mason hat ein Buch geschrieben, es heißt „Siege“, auf Deutsch: Belagerung. Es gilt als wichtigstes Werk im Lektüre-Kanon jenes Netzwerks, zu dem auch Lukas F. gehört. Für viele junge Rechtsradikale ist es wichtiger als Hitlers „Mein Kampf“.

Mason ruft in seinem Buch dazu auf, die liberale Gesellschaft in einen Bürgerkrieg zu stürzen. Dafür, so Masons Theorie, müsse man keine Massenorganisationen bilden. Gebraucht würden vielmehr einzelne Attentäter oder kleinste Zellen, die Anschläge auf Infrastruktur, Politiker oder Angehörige von Minderheiten begehen. So schaffe man Chaos, bereite den Boden für eine rechtsextreme Revolution.

Mason und seine Ideen haben in den vergangenen Jahren viele Anhänger gefunden, Gruppen, Zellen, Einzelne. In Europa, Kanada, den USA.

Extremismusforscher haben für diese Strategie mittlerweile einen Begriff, „militanter Akzelerationismus“. Der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, sagte WELT AM SONNTAG, die „Siege“-Szene gewinne auch in Deutschland immer mehr an Bedeutung. „Dabei werden vor allem junge Menschen, die teilweise noch minderjährig sind, als Anhänger festgestellt. Minderjährige, die Gewalt befürworten oder sogar selbst Gewalttaten planen, sind keine Ausnahme mehr.“

Die Liste der Anschläge, die mit dieser Ideologie in Einklang stehen, wird von Jahr zu Jahr länger. Der Anschlag auf das Olympia-Einkaufszentrum in München 2016 gehört dazu und ebenso jener 2019 vor einer Synagoge und in einem Schnellimbiss in Halle. Die jeweiligen Attentäter werden in den Chats des Netzwerks als Helden verehrt. Die Opferzahlen werden über Highscores verglichen: Wer am meisten tötet, gewinnt.

Aufrüstung im Kinderzimmer

Im Sommer 2020, ein paar Monate nach dem Besuch in Sachsenhausen, verlässt Lukas F. die Oberschule in Potsdam und beginnt eine Lehre. Im November desselben Jahres gründet er seine Chatgruppe, die „Totenwaffen“ auf dem Messengerdienst Telegram. Mit dabei sind ein paar Gleichgesinnte, die er auf Discord und Roblox, einer anderen Spieleplattform, kennengelernt hatte. Lukas F. wird der Chef, ihr Führer.

Zwischen November 2020 und Mai 2021 schreiben knapp 100 Nutzer in der „Totenwaffen“-Gruppe. Sie chatten miteinander auf Englisch, kommen unter anderem aus Estland, Frankreich und den USA und haben sich Decknamen wie „Maschinengewehr“, „Kriegsmann“ und „Joseph Goebbels Gaming“ gegeben.

Hier, auf Telegram, stören sich die Plattformbetreiber nicht an Bildern abgehackter Köpfe, die die „Totenwaffen“-Mitglieder irgendwo aus dem Netz ziehen und teilen. Es geht den Jugendlichen nun nicht mehr um Videospiele. Ende November schreibt Lukas F., er erinnere sich daran, wie er zuvor vorgeschlagen habe, es solle eine „echte terroristische Gruppe“ werden. Die Mehrheit, schreibt er, sei dafür gewesen.

Am gleichen Tag schickt ein Junge, Deckname „Edward“, ein Foto in den Chat. Es zeigt eine Maschinenpistole des Typs MP40, gerichtet auf einen Laminatfußboden. Es war die Standardwaffe in Hitlers Wehrmacht.
Lukas F. kommentiert: „Nice“, schön.

Edward ist ein Neonazi, der in Rumänien lebt, das lässt sich anhand seiner digitalen Spuren nachvollziehen. Ende 2020 ist er gerade 13 Jahre alt. Eine Weile scheint er eine Art bester Kumpel von Lukas F. zu sein, ein jüngerer Bruder im Geiste. Er und ein Nutzer mit dem Namen „Gas Jews“ aus Polen, angeblich elf Jahre alt, waren unter den ersten, die der Chatgruppe von Lukas F. beitraten. Später wird der Potsdamer selbst die „Totenwaffen“-Gruppe als „Teenager-Organisation“ beschreiben, gewissermaßen als Nachwuchsorganisation.

Schon bald müssen neue Mitglieder der Gruppe einen Eid ablegen. Schwören, dass sie die Befehle der Führung befolgen. Der Eid wird nicht in einer feierlichen Zeremonie bei Fackelschein abgegeben. Sondern per Chatnachricht, Copy-and-paste. Und: Man muss angeben, ob man Masons Buch „Siege“ gelesen hat. Für diejenigen, die dafür zu faul sind, wird im Chat die Hörbuchversion geteilt. Sie dauert 22 Stunden und 33 Minuten.

In der Gruppe preisen die Mitglieder den Rechtsterroristen, der 2019 in Christchurch, Neuseeland, 51 Menschen in zwei Moscheen erschossen hat: „Tarant ist eine Legende.“

Sie verehren Anders Breivik, den rechtsextremen Attentäter, der 2011 in Oslo und auf der Ferieninsel Utøya 77 Menschen ermordete. Einer nennt ihn einen „Heiligen“.

Zwei Tage nachdem Edward das Foto des Maschinengewehrs postet, geht es ihm wieder um Aufrüstung. Er schreibt, er wolle einen 3-D-Drucker besorgen, um damit Waffen herzustellen. Lukas F. gibt ihm Tipps, welche Modelle sich eignen.

Mit einer Nachricht aus dem Dezember 2020 zeigt Lukas F., dass er selbst bereit ist, weit zu gehen: „Ich wette, dass ich irgendwann mal so wütend werde, dass ich eine Bombe auf den nächsten Ort legen werde, an dem Jewgela ihre Rede halten wird.“ Gemeint ist, das zeigt eine weitere Nachricht, Angela Merkel, es ist ein perfides Wortspiel mit ihrem Vornamen und „Jew“, dem englischen Wort für Jude.

Ende Februar 2021 bastelt Lukas F.: Er will eine Uniform herstellen, für ein Propagandavideo, das er seit Monaten plant. Er schickt eine Folge von Fotos in den Chat: Darauf ist zu sehen, wie er ein Hakenkreuz aus einem Stück Pappe herausschneidet, um eine Schablone daraus zu machen. „Jetzt muss ich Farbe draufmachen“, schreibt er. Es folgt ein Bild von Sprühdosen, dann das nächste Foto. Zu sehen: ein rotes Stück Stoff, auf das ein weißer Kreis gemalt ist, und darauf ein schwarzes Hakenkreuz. Am selben Tag fotografiert sich F., um den Arm trägt er die Binde. Das Selfie entsteht in seinem Kinderzimmer in der Wohnung in Potsdam.

Anfang März ist Lukas F. nachts unterwegs, um Propaganda für seine Sache zu machen. In Potsdam hängt er ein Poster auf: „Rebelliert gegen das Judensystem“.

Der Kommandant aus Estland

Wenn man verstehen will, wie das Netzwerk der Teenager-Terroristen funktioniert, zu dem auch Lukas F. gehört, hilft ein Blick nach Estland.

Auf der Ostseeinsel Saaremaa wohnt ein Junge, der 2018 eine eigene Gruppe gegründet hat und zu der Zeit gerade einmal elf Jahre alt ist. Seine Gruppe nennt er „Feuerkrieg Division“, kurz FKD. Sich selbst gibt er den Decknamen „Commander“, der Kommandant. Die Gruppe wächst, ihre Mitglieder kommen aus der ganzen Welt.

Die Mitglieder, meist Jugendliche oder junge Männer, chatten über Mordfantasien und gehen sie konkret an. Der „Feuerkrieg Division“ wurden Anschlagspläne und -versuche weltweit nachgewiesen:

USA, 2019: In Las Vegas wird der 23-Jährige Conor Climo wegen Anschlagsplänen auf eine Synagoge und eine Schwulenbar festgenommen. Zwei Jahre Haft.

Großbritannien, 2019: Polizisten verhaften den 16-Jährigen Paul Dunleavy, nachdem er versucht hat, sich eine Waffe zu beschaffen. Er hat Terroranschläge vorbereitet. Haftstrafe: fünf Jahre, sechs Monate.

USA, 2019: Der Soldat Jarett William Smith aus Kansas wird verhaftet, weil er einen Anschlag auf einen Nachrichtensender geplant haben soll. 30 Monate Haft.

Litauen, 2019: In Vilnius wird der 20-jährige Gediminas Berzinskas festgenommen, nachdem er versucht hat, ein Bürogebäude mit einer Bombe in die Luft zu sprengen. Zwei Jahre und vier Monate Gefängnis.

Großbritannien, 2019: Der 21-jährige Luke Hunter stachelt zu Terroranschlägen an. Vier Jahre und zwei Monate Haft.

Deutschland, 2020: Im Landkreis Cham nehmen Spezialkräfte den 22-jährigen Elektriker Fabian D. an seinem Arbeitsplatz fest. Weil er aus Einzelteilen ein Sturmgewehr bauen und damit ein Attentat begehen wollte, erhält er eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren.

Die „Feuerkrieg Division“, zu der all diese jungen Männer gehörten, gilt Sicherheitsbehörden weltweit mittlerweile als ernste Bedrohung. Bereits 2020 stuften die Briten die Organisation als Terrorgruppe ein, andere Länder folgten. In Deutschland schrieben die Verfassungsschützer sie in ihren aktuellen Jahresbericht.

Für Lukas F. aus Potsdam ist die „Feuerkrieg Division“ eine zentrale Inspiration. Im Chat der „Totenwaffen“-Gruppe nimmt er mehrfach auf sie Bezug. Im März 2021 etwa schreibt er, seine Gruppe brauche ein Logo, das jenes der FKD ähnele. Es zeigt einen Totenkopf.

Ein ungleicher Kampf

Für die Behörden ist es ein Kampf mit ungleichen Mitteln. Gruppen verschwinden, tauchen wieder auf. Gruppennamen und Decknamen sind wiederverwertbar. Die Zusammenhänge ergeben sich weniger durch straffe Organisation als durch gemeinsame Ideologie. Was das Netz stark macht, ist, dass es sich nicht um eine feste Gruppe handelt, sondern um Nutzer irgendwo auf der Welt an Rechnern und Handys, in Jugendzimmern und anderswo, die einzig ihr Hass eint. Hass auf Juden, auf Politiker, auf Journalisten.

Bei der Europäischen Polizeibehörde Europol erklärt man das Problem mit der Strafverfolgung dieser Gruppen so: Früher habe es eine klare Hierarchie gegeben, nun gehe es mehr um individuelle Verantwortung. „In diesen komplexen Situationen müssen wir uns mit den einzelnen Personen befassen, denn ein oder zwei Personen, die auf eigene Faust handeln, können eine ernsthafte Bedrohung darstellen.“

Einer, der sich gut mit der Szene auskennt, ist Miro Dittrich, Experte für Rechtsterrorismus beim Center für Monitoring, Analyse und Strategie in Berlin, das systematisch rechtsextreme Kommunikation auf Telegram überwacht. Er sagt: Jahrelang seien digitale Räume von den Behörden nicht ernst genommen worden, es mangele bis heute an der Durchsetzung der Gesetze. Dadurch habe sich ungestört eine rechtsterroristische Subkultur entwickeln können, die für Minderjährige leicht zugänglich sei. „Jugendliche beginnen ihre Radikalisierung viel früher“, sagt Dittrich, „oft sind sie schon mit 14 oder 15 am Ende einer Spirale des Hasses.“ Gerade die Strategie der lose agierenden Zellen und Einzeltäter, wie Mason sie vertritt, sei leicht für Teenager umzusetzen.

Für Rechtsstaaten gibt es auch noch das Problem mit der Strafmündigkeit: In Estland konnten die Behörden den jungen „Commander“ der „Feuerkrieg Division“ nicht anklagen, weil er erst 13 war. Nachdem Polizisten dem Jungen einen Besuch abgestattet haben, gab die FKD ihre Auflösung im Februar 2020 bekannt.

Gut ein Jahr später aber tauchte die Gruppierung wieder auf: mit Propagandapostern, Flugblättern und im Kurznachrichtendienst Telegram. Es gab nun einen neuen Chef, auch er nannte sich wieder „Commander“. Auch er ist ein Teenager aus Estland. Jeder ist ersetzbar.

Das Netzwerk der eisernen Ordnung

Es ist der Morgen des 8. Mai 2021, Viertel vor sechs, als Lukas F. aus Potsdam in seine Gruppe schreibt, er sei gerade auf Patrouille gewesen. Er schickt ein paar Fotos von Propaganda-Plakaten seiner „Totenwaffen“-Gruppe, die er zuvor aufgehängt hatte. Auf einem davon ist eine Liste mit Namen jüdischer Aktivistinnen und Aktivisten, die sich für die Rechte von Transgender-Personen einsetzen. Darüber steht: „Death to“. Es ist eine Todesliste.

Eines der Plakate hängt er in der Nacht an seiner alten Schule auf. Er hatte sie bereits rund ein Jahr zuvor verlassen. Als die Schule das Plakat am Morgen entdeckt, zeigt sie die Propaganda an, die Polizei kommt. So wird die Totenwaffen-Gruppe aktenkundig. Doch: Dass Lukas F. der Gründer ist, weiß die Polizei damals offenbar nicht.

Keine zwei Wochen später bestellt Lukas F. Chemikalien in die Wohnung seiner Eltern in Potsdam. Ein Kilogramm Schwefel, 250 Gramm Magnesiumpulver, solche Dinge – über Amazon, zusammen knapp 60 Euro. Später wird Lukas F. sich mit diesen Substanzen jene Bomben bauen, die er auf dem verfallenen Kasernengelände testet.

Wenige Tage nachdem Lukas F. die Fotos seiner Chemikalien in den „Totenwaffen“-Chat geschickt hat, gibt er eine Allianz bekannt. Er sei froh, schreibt er, die „Feuerkrieg Division“ an seiner Seite zu haben, „Sieg Heil für unser Bündnis!“

Mehr noch: Der neue „Commander“ der FKD ist zu diesem Zeitpunkt Mitglied in der „Totenwaffen“-Gruppe und steht, das belegen die Recherchen, in direktem Kontakt mit Lukas F.

Zu dieser Zeit schmiedet die FKD an einer Art Dachverband der Terrorgruppen. Sein Name: „Iron Order“, Eiserne Ordnung. Eine interne Aufstellung aus dem Jahr 2021, die den Reportern vorliegt, zeigt Logos von elf Gruppen, die sich in der „Iron Order“ vereinigt haben. Sie bezeichnen sich selbst als „Nationalsozialistische Koalition“.

Mit dabei ist auch die „Totenwaffen“-Gruppe mit ihrem Chef aus Potsdam.

Viele Mitglieder der Gruppen der „Iron Order“ sind in gleich mehreren Chatgruppen aktiv, das Netzwerk ist lose, die Übergänge verschwimmen. So schreibt Lukas F. auch in der „Injekt Division“, die ebenfalls zur Koalition gehört. Deren Gründer kommt aus Texas und wurde im Mai 2021 verhaftet. Ihm wird vorgeworfen, einen Terroranschlag auf einen Walmart vorbereitet zu haben.

Langsame Ermittlungen

Später macht auch Lukas F. sich Gedanken darüber, wie er an eine Schusswaffe kommen könnte. Er schickt zwei Fotos von Gewehren in den Chat, die ihm ein Waffenhändler geschickt habe.

„Das erste oder das zweite?“, fragt er.

„Wenn du das erste nimmst, hol dir auch ein paar Ersatzmagazine“, schreibt „Edward“.

Im Sommer 2021 bekommt die Polizei in Brandenburg dann einen Tipp von einer anderen Behörde. Wenig später durchsuchen Beamte die Wohnung der Familie. Sie beschlagnahmen den Laptop von Lukas F., sein Handy, eine Flagge der NSDAP und Chemikalien, die offenbar noch vom Bau seiner Bomben übrig sind.

Die Polizisten nehmen Lukas F. mit aufs Revier, befragen ihn und lassen ihn wieder frei.

Lukas F. verliert durch die Beschlagnahmung seiner Geräte den Zugang zu seinen Chatgruppen. In der „Totenwaffen“-Gruppe übernimmt nun „Edward“ die Rolle des Chefs. Im Herbst 2021 verschwindet auch er – und dann die ganze Gruppe. In internen Chats der Szene kursiert das Gerücht: Edwards Mutter habe ihm sein Handy weggenommen.

Dann ziehen sich die Ermittlungen über Monate hin. Bis heute hat die Polizei auf dem Kasernengelände, auf dem Lukas F. seine Bomben gezündet hat, den Recherchen zufolge keine Spuren gesichert. Eine der Bomben hatte einen Betonfuß in Stücke gerissen, die noch immer an Ort und Stelle liegen. Und seine alte Schule, die Lukas F. eines Nachts aufsuchte, wurde nie gewarnt – obwohl die Szene auch Schulamokläufer hervorbringt.

Beide sollen sich mit einem Schlauchschal maskiert haben, auf den der untere Teil eines Kiefers gedruckt ist. Im Netzwerk um Lukas F. – und in der rechtsterroristischen Szene – tragen viele diese Maske. Sie ist Erkennungszeichen und Schutz der eigenen Identität zugleich.

In Eslöv, Schweden, etwa stach im vergangenen August ein 15-Jähriger an einer Schule einem Lehrer ein Messer in den Bauch. Im Januar dieses Jahres griff ein 16-jähriger Schüler einen Lehrer und einen Mitschüler an seiner Schule in Kristianstad, Südschweden, ebenfalls mit einem Messer an. Beide standen miteinander in Kontakt – und bewegten sich in einem ähnlichen Umfeld wie Lukas F., das geht aus schwedischen Ermittlungsunterlagen hervor. Beide sollen sich mit einem Schlauchschal maskiert haben, auf den der untere Teil eines Kiefers gedruckt ist. Im Netzwerk um Lukas F. – und in der Szene drum herum – tragen viele diese Maske. Sie ist Erkennungszeichen und Schutz der eigenen Identität zugleich.

Im vergangenen Jahr war die „Totenwaffen“-Gruppe viermal Thema im gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum der Bundesrepublik, zu dem die Geheimdienste und die Polizeibehörden gehören. Das geht aus einer Kleinen Anfrage der Bundestagsabgeordneten Martina Renner (Linke) hervor. Auch 2022 wurde die Gruppe dort wiederholt besprochen. Der Inhalt dieser Gespräche: streng vertraulich.

Die Ermittlungen der Brandenburger Behörden führen erst mal nicht zu Ergebnissen.

Festnahmen gibt es derweil aber anderswo: Im Oktober 2021 werden zwei junge Männer in Estland festgenommen, die in Verbindung zur „Feuerkrieg Division“ stehen. So schreibt es der dortige Geheimdienst in einen Bericht. Nach Informationen dieser Zeitung handelt es sich bei einem der beiden um den zweiten „Commander“. Das Kommando übernehmen nun zwei Amerikaner, ein Niederländer gründet eine Abspaltung mit gleichem Namen.

Ende Dezember 2021, noch während die Ermittlungen laufen, taucht Lukas F. wieder in Chatgruppen des Netzwerks auf. Er sucht Kontakt zur „Feuerkrieg Division“, will in einen internen Chat aufgenommen werden. Zur gleichen Zeit schreibt er jemandem, dem er vertraut, eine Privatnachricht, die den Reportern vorliegt: „Ich hatte und habe immer noch große Ziele mit Totenwaffen.“

Anfang 2022 bekommt Lukas F. sein Handy und seinen Laptop wieder ausgehändigt.

Fragen zu all diesen Vorgängen lassen die beteiligten Brandenburger Behörden unbeantwortet. Das „Auskunftsrecht der Presse“, schreibt der dortige Generalstaatsanwalt, finde seine Grenze „in überwiegenden schutzwürdigen Belangen Betroffener“.

Das Interview

Im März 2022 treten die Reporter mit Lukas F. in Kontakt. Ein persönliches Gespräch wolle er nicht führen, schreibt er, aber man könne ihm Fragen per Chat schicken.

Also gehen Nachrichten hin und her, erst einen ganzen Tag, danach über Wochen. Er habe mit der Polizei kooperiert, schreibt er über die Hausdurchsuchung, und „leider“ seine Passwörter verraten – „weil meine Mutter Druck gemacht hat“. Immerhin wisse er jetzt, wie er sich „vor der Regierung zu verstecken“ habe.

Das Verstecken gelingt ihm aber nicht besonders gut: Im April bestellt er sich das 35.000 Wörter lange Manifest von Theodore Kaczynski, dem „Unabomber“, der zwischen 1978 und 1995 mindestens 16 Paketbomben in den USA verschickt und drei Menschen getötet hat. Dazu hinterlässt Lukas F. im April eine Rezension im Internet. Mit seinem vollen Namen.

Die Generalstaatsanwaltschaft in Brandenburg ermittelt zu dieser Zeit weiter gegen ihn, unternimmt aber nichts. Aus ihrer Sicht ist offenbar keine Gefahr im Verzug.

Lukas F. schreibt den Reportern per Chat: „Ich war schon bereit, viel zu machen“.

Wie viel?

„Kein Kommentar“.

Hat er sich seither geändert?

„Kein Kommentar“.

Auf die Frage, warum er noch immer in den alten Chats unterwegs ist, antwortet er: „Ich kenne halt paar Leute, die sind mir sehr angenehm und sympathisch.“ Er schreibt, er sei „Nationalist“. Er schreibt, er werde es vielleicht mit legalem Aktivismus versuchen, vielleicht trete er ja einer Partei bei. Erst müsse er aber Halt finden. Er schreibt, er habe immer alles allein bewältigen müssen, er habe auch ohne Anwalt bei der Polizei ausgesagt.

Was, wenn er angeklagt wird?

„Dann bin ich am Arsch.“

International scheint sich bei den Ermittlungsbehörden derzeit etwas zu bewegen: Kurz vor Ostern 2022 wird ein Jugendlicher in Dänemark verhaftet, er ist 15. Ihm wird die Mitgliedschaft in der „Feuerkrieg Division“ vorgeworfen. Zur gleichen Zeit verschwanden mehrere zentrale Akteure aus dem Netzwerk, Propagandakanäle verstummten, in vielen Chats ist seither etwas weniger los. Im Inneren der Bewegung gehen sie davon aus, dass eine Reihe ihrer Kameraden zeitgleich verhaftet wurde. In den USA, in den Niederlanden.
Doch neue Gruppen werden längst gegründet.

Hausbesuch in Potsdam

Ende Mai diesen Jahres klingeln die Reporter an einer Tür im achten Stock eines Hochhauses im Zentrum von Potsdam. Die Eltern von Lukas F. öffnen die Wohnungstür. Die Mutter, eine zierliche Frau, lächelt viel und sagt wenig. Der Vater trägt ein T-Shirt einer Sportmarke und übernimmt das Reden, will wissen, wer da unangemeldet zu Besuch kommt und warum.

Die Reporter sagen, dass sie von der Hausdurchsuchung wissen, von den Chats. Und dass sie mit Lukas sprechen wollen.

„Wir haben eigentlich gerade ein Gespräch“, sagt der Vater, „aber, na ja“. Dann verschwindet er in der Wohnung. Einen Moment später taucht Lukas F. an der Tür auf, mittlerweile ist er 17. Er ist dünn, fast schmächtig, den Blick richtet er nach unten, sein dunkles Haar fällt ihm bis auf die Ohren.

„Kein Interesse“, sagt er. Dann schlägt er die Tür zu. Hier, an der Tür, ist er ganz leise. Danach schickt er eine Nachricht und fordert die Reporter auf, nie wiederzukommen.

Auch die Eltern sagen an diesem Tag nichts. Später lehnen sie schriftlich die Bitte um ein Gespräch ab – antworten aber doch in Privatnachrichten auf ein paar Fragen. Der Vater erklärt darin seinen Sohn zum Opfer, Opfer der Pubertät und der Umstände, er relativiert, „er hat niemandem etwas getan“. Die Mutter schreibt, auf Russisch, sie lebe in Entsetzen und Schock und verstehe nicht, wie das alles passieren konnte. Auf Anraten eines Anwalts wolle sie nicht mehr sagen.

Mehrere Familienmitglieder erzählen, es sei früher an diesem Tag zu einem Streit in der Familie gekommen: Der Vater habe die Nazi-Literatur des Sohnes, darunter „Mein Kampf“, weggeworfen, weil sie ihn „verblöde“.

Anfang Juni greifen die Brandenburger Behörden durch. Ein Sondereinsatzkommando der Polizei verhaftet Lukas F. in der Wohnung der Eltern, er sitzt nun im Gefängnis, irgendwo in Märkisch-Oderland. Der Staatsschutz stuft ihn als Gefährder ein, als jemanden, von dem die konkrete Gefahr eines Anschlags ausgeht. Noch immer ermitteln die Beamten, sie verdächtigen Lukas F. eine „schwere staatsgefährdende Gewalttat“ vorbereitet zu haben. Einen Terroranschlag.

Kurz darauf schicken die Reporter einen Brief an Lukas F. ins Gefängnis, bieten ihm an, sich noch einmal zu äußern. Der Brief bleibt unbeantwortet.

In Potsdam hat sich in den vergangenen Monaten eine Bande rechter Jugendlicher gebildet. Ein verlassenes Haus, zu dem sie sich Zugang verschafft haben, nennen sie ihr Hauptquartier. Sie grüßen sich, indem sie mit den Fingern ihrer rechten Hand ein „L“ formen. Dazu rufen sie: „Free L“, Freiheit für Lukas.

Die Recherche. Diese Geschichte wurde von „Politico“, „Insider“ und WELT AM SONNTAG recherchiert, die sich im Axel Springer Investigations Rechercheverbund zusammengeschlossen haben. Die Reporter gelangten mit verdeckter Identität ins Innere des Netzwerks. Zudem sprachen sie mit Insidern, Wissenschaftlern, Terrorismusexperten, Geheimdiensten, Sicherheitsbehörden und Führungsfiguren des Netzwerks sowie deren Familien.

Dieser Text wurde zuerst am 16. Juli 2022 veröffentlicht.

https://www.welt.de/politik/deutschland/article239934863/Rechtsextremismus-Als-Lukas-F-eine-Bombe-in-Deutschland-zuendet-ist-er-16-Jahre-alt.html

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passiert am 22.07.2022