Profite pflegen keine Menschen – eine Zuschrift
Nach Veröffentlichung unseres zweiten Textes ‚Die soziale Frage und die neue Form von „Solidarität“‚ erreichte uns die Zuschrift einer Leserin. Sie hatte angeboten, über ihre eigenen Erfahrungen als Krankenpflegerin auf Intensivstationen während der vergangenen Jahre zu schreiben und uns dann ihren Text zugesandt. Wir möchten diesen Text als eine Art Gastbeitrag veröffentlichen, der unsere Kritik an dem Umgang mit hilfsbedürftigen Menschen in der Pandemie und dem fragwürdigen Verständnis von „Solidarität“ und „Gesundheitsschutz“, um eine andere Perspektive ergänzt. Diese ist nicht zwangsläufig in allen Punkten unsere eigene, wir finden aber, dass sie gelesen werden sollte:
Im März dieses Jahres bin ich nach über 45 Jahren als Krankenschwester in den Ruhestand eingetreten. Die letzten 8 Berufsjahre habe ich als Leihkraft deutschlandweit auf Intensivstationen gearbeitet.
Der Beruf hat physisch und psychisch viel von mir abverlangt, jedoch kein Jahr hat emotional so viel bewirkt wie die Jahre 2020 bis 2022.
Zu Beginn der Pandemie war die Angst, ob ich der Situation, wie sie medial beschrieben wurde, gewachsen bin. Angst, ob die Situation in den Krankenhäusern so extrem werden wird wie befürchtet und somit noch schlimmer als die Influenza 2017/18. Doch wurde es auf anderer Ebene viel schlimmer. Die ersten Monate gab es nur rationierte Schutzkleidung. Eine einzige Maske über eine Schichtlänge von 8 bis 10 Stunden. Normalerweise sollten Masken von Pfleger*innen für den Selbst- und Fremdschutz nach jedem Verlassen von Patient*innen in Isolation gewechselt werden, um Keime nicht zu weiter zu tragen. Jetzt war es eine einzige Maske – egal wie durchnässt -, die über die ganze Schicht getragen werden musste.
Im ersten Lockdown war ich 600 km von meinem Heimatort entfernt und hatte in der von der Klinik bereitgestellten Unterkunft keinerlei Kochgelegenheit. Die Versorgung mit einer warmen Mahlzeit war durch geschlossene Imbisse, Restaurants und Lieferdienste nicht möglich.
Doch mehr als die persönlichen Einschränkungen war die Situation der Patient*innen schwer verkraftbar.
Die Besuchsverbote, die in vielen Krankenhäuser vehement durchgesetzt worden sind und, haben mich und viele Kolleg*innen an psychische Grenzen gebracht. Wie erkläre ich einem sterbenskranken Menschen, der nur noch wenige Tage hat, dass er seine Familie nicht sehen darf, keine vertraute Hand halten und keinen ihm nahen Menschen mehr sehen darf? Wie beruhige ich eine*n Demenzerkrankte*n, wenn die Personen, nach denen er*sie ruft, oft tage- und wochenlang nicht zu ihr*ihm kommen dürfen?
Wenn man spürt und sieht wie diese Patient*innen immer mehr an Lebenswillen verlieren, total vereinsamen, so ist dies schwer zu verkraften.
Und die Begründung bei Nachfrage? „Nicht wir entschieden, sondern es ist das Infektionsschutzgesetz“, sagten Personalabteilungen, Betreiber*innen, leitende Ärzt*innen. Und schon das Hinterfragen einiger Regelungen ließ die Fragenden bei manchen Kolleg*innen und Ärzt*innen schnell zu Leugner*innen, Verharmloser*innen, Schwurbler*innen werden, wenn auch nur die Sinnhaftigkeit und Menschlichkeit von Maßnahmen, die dazu geführt haben Patient*innen alleine sterben zu lassen, hinterfragt wurden.
Irritierend ist seit Beginn der Pandemie auch die Sprache der Politik. „Soziale Distanz“, „neue Normalität“, „keine Entscheidung hinterfragen“. Spätestens seit Kaspar Hauser oder den „Wolfskindern“ weiß man, wie wichtig soziales Zusammenleben (Berührungen, Umarmungen, Ansprache) für die menschliche Entwicklung ist. Über einen kurzen Zeitraum kann der Mensch dies ohne Schäden überstehen, aber über diesen langen Zeitraum hinweg stelle ich persönlich das besonders bei Kindern und Jugendlichen in Frage. Ich habe in den vergangenen zwei Jahren mehrere junge Menschen mit Suizidversuchen erlebt, die im Gespräch mit dem Krankenhauspersonal angegeben haben, dass sie sich vereinsamt und verzweifelt fühlen. Ich habe schon zuvor jüngere Patient*innen nach Suizidversuchen betreut, aber noch nicht in einer größeren Anzahl in so kurzer Zeit wie im Jahr 2021, und sie gaben bisher auch meist andere Gründe für ihre Selbstmordversuche an.
Vor mehr als 2 Jahren musste ich nachweisen, krank zu sein (ärztliches Attest). Seither musste ich zum Betreten meines Arbeitsplatzes nachweisen, gesund zu sein. Bei positivem Test sollten wir für 10 Tage isoliert sein (Quarantäne). Das führte zur massiven Unterbesetzung der Pflege. Von politischer Seite wurde mir aber erlaubt, mit positivem Test Coronakranke zu pflegen. Dabei war es egal, ob ich mich gesund oder krank fühle. Nach der Arbeit bestand dann aber die Pflicht, sich auf direktem Wege nach Hause zu begeben, keinerlei Kontakte zu pflegen, nicht einmal einkaufen zu gehen. Wenn man wie ich in der Leiharbeit tätig und fremd vor Ort war, hatte man oft gar nicht die Kontakte, um von anderen versorgt zu werden. Bis das Gesundheitsamt (trotz täglicher Nachfragen) reagiert hatte, falls Hilfe zur Versorgung gebraucht wird, war die Quarantänezeit schon um. Da reichte es zumindest nicht aus, mich gesund zu fühlen. Nein, ich muss einen Test oder eine Impfung nachweisen. Der Nachweis auf Papier wird nicht akzeptiert, der muss digital sein. Doch wohin gehen meine Daten?
Ich soll als gute*r Staatsbürger*in nicht hinterfragen? Aber sind es nicht Fragen, die uns weiter bringen? Haben nicht Fragen, wie, warum, wieso, wozu die Menschheit sich weiterentwickeln lassen?
Bei all diesen Schlagworten soll es um Gesundheit und das Nicht-Überlasten des Gesundheitssystems gehen. Doch das Gesundheitssystem ist schon seit mindestens 15 Jahren überlastet. Die veränderte Abrechnungsform durch DRGs (Diagnosis Related Groups, auf Deutsch: Diagnosebezogene Fallgruppen), die übrigens von unserem jetzigen Gesundheitsminister stark befürwortet und vorangetrieben wurden, haben das System erkranken lassen. Da Krankenhäuser seit 2003 gewinnbringend arbeiten müssen, um ihre Existenz zu legitimieren, wird im Personalbereich massiv gespart. So auch im Hygienebereich, und da schließe ich die Reinigungskräfte mit ein. Es wurden externe Firmen beauftragt, deren Angestellte zu Dumpingpreisen in der Hälfte der bis dahin benötigten Zeit durch die Krankenzimmer und Flure hetzen. Da können auch beim besten Willen keine hygienischen Standards eingehalten werden!
Beim pflegerischen Personal wurde auch immer weiter eingespart. Die dokumentatorischen Aufgaben wurden immer mehr, die Zeit für persönliche Patient*innenkontakte hingegen immer weniger. Das Berufsbild veränderte sich zunehmend. Teilweise hetzt man als Pflegende durch die Schicht von Patient*in zu Patient*in, geht kaputt und unzufrieden nach Hause.
Auch die Kranken werden nicht mehr als solche gesehen. Patient*innen werden zu „Kund*innen“. Viele medizinische Entscheidungen werden nach Verdienstmöglichkeiten und weniger ethisch getroffen. Jeder Aufschrei der Pflege wird seit Jahren mit „tröstenden Worten“ und leeren Versprechungen von der Politik abgetan, während die Gesellschaft das Ganze eben als gegeben erwartet.
Bei den vielen Protesten und im Netz hörte ich von scheinbar linker Seite „Wir impfen euch alle“ oder einseitige Forderungen, wie „Nur Impfen beendet Corona“. Mit nicht einmal annähernder Hartnäckigkeit wurde aber so etwas wie „Verändert und verbessert das Gesundheitssystem“ gefordert.
Es gab und gibt Covid-Erkrankte, und es sterben auch Menschen daran. Das zu leugnen ergibt keinen Sinn. In meinen gesamten Berufsjahren hatte ich es immer mehr oder weniger mit Infektionskrankheiten zu tun, doch ist es nicht die Mehrarbeit (z.B. durch Isolations- und Hygienemaßnahmen), sondern es sind viele kranke politische Maßnahmen, die mich froh machen, dieses System nicht mehr persönlich erleben und unterstützen zu müssen.